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Zeit der Sonnenfinsternis?

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Wo ist in der Literatur das Christentum geblieben? Von einer christlichen Literatur ist seit langem keine Rede mehr. Aber gibt es noch eine christliche Philosophie, ein christliches Geschichtsdenken? Ja, gibt es noch eine christliche Politik?

Vielleicht zeigen sich im praktischen Handeln, also auch in der Politik, noch am ehesten Spuren einer christlichen Haltung, denn in der Praxis muß vom Christentum nicht direkt gesprochen werden: man redet und schreibt nicht, sondern man handelt. Mag sein. Eine christliche Literatur oder Philosophie aber ist nur dann möglich, wenn geschrieben, geredet, wenn das Thema verbal fixiert wird.

Ich erinnere mich an die intensive Phase christlicher Literatur und Philosophie der Nachkriegszeit: Der christliche Existentialismus von Gabriel Marcel beschäftigte alle Intellektuellen, natürlich auch jene, die dagegen waren wie Albert Camus, der mit seiner tiefen Beziehung zu Lew Schestow und Fjodor M. Dostojewskij der Problemwelt des Christentums nahe stand. Aus Frankreich kamen in der Literatur Georges Bemanos, Antoine de Saint-Exupery, Paul Claudel, Francois Mauriac und Julien Green. Aus dem englischen Sprachraum traten unter anderem auf T. S. Eliot, Evelyn Waugh, W. H. Auden, Bruce Marshall, Graham Greene, und in deutscher Sprache fanden größte Resonanz Ernst Wiechert, Stefan Andres, Gertrud von le Fort, Reinhold Schneider und Fritz Hochwälder. Diese Autoren hatten nicht nur christlichen Hintergrund in ihren Werken, sondern sie thematisierten

christliche Probleme, die christliche Haltung, christliche Gedanken und historische Ereignisse der Christianisierung oder christlicher Staatsmänner.

Ist heute für die Literatur das Christentum kein Thema mehr? Sind die Probleme der christlichen Religion und ihrer Anwendung in der Wirklichkeit nicht mehr vorhanden (was kaum möglich ist), oder haben die späteren Autoren kein Verlangen mehr, sich mit ihnen auseinanderzusetzen?

Tatsächlich finden Reprisen von Werken der vorher genannten Autoren vor allem im deutschsprachigen Bereich fast immer eine ablehnende, weitgehend verständnislose Presse vor. Wenn einmal ein Theater wagt, ein Werk von T. S. Eliot oder Paul Claudel aufzuführen, stößt es in den Zeitungen vorwiegend auf Abwehr, Überheblichkeit und Mißverständnis.

Manchmal könnte man meinen, nur mehr im Zerrbild der Blasphemien von Hermann Nitsch bleibt eine ferne Erinnerung an christliches Theater und Literatur erhalten. Sogar die Phase der Verhöhnung christlicher Werte in der Literatur ist vorbei, sie findet keine Resonanz mehr.

Ist also jegliche christliche Thematik in der Literatur endgültig vorbei? Meine These lautet, daß vielleicht bald (oder ein wenig später) einer kommen wird, der einen bedeutenden Roman oder ein Theaterstück schreibt, ein erstaunliches Werk, das plötzlich enorme Resonanz findet. Und mit einem Mal werden sich auch andere Werke mit Themen einer neuen alten Sinnhaftigkeit beschäftigen. Und auch das Publikum wird hungrig danach greifen.

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