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Zwischen Unglauben und Glauben

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Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die meisten Gebildeten davon überzeugt, daß die Kirche in ihren letzten Zügen liege und das Christentum, das von der Intelligenz Europas schon lange nicht mehr ernst genommen wurde, endgültig abtrete. Um so überraschender wirkte das Aufblühen einer starken und großartigen christlichen Literatur im 19. Jahrhundert. Es setzte sofort mit der Jahrhundertwende ein. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stolbergs Konversion, das Erscheinen der Schriften von Novalis und Chateau-briands Geist des Christentums — das waren folgenreiche Ereignisse. Das christliche Erwachen begann in Deutschland und Frankreich; Italien, Polen und Spanien folgten bald; nur England, die Heimat der Aufklärung, brachte im Zeitalter der Romantik keinen großen christlichen Dichter oder Denker hervor. Die literarischen und philosophischen Häupter der deutschen, französischen, italienischen und polnischen Romantik, also Schleiermacher, Schlegel, -Baader, Stolberg, Görres, Brentano, Eichendorff, Chateaubriand, Lamennais, Manzoni, Pellico, Mickiewicz, waren ebensosehr vom Christentum entflammt wie von den Ideen der Freiheit, der Menschenrechte und des Vaterlandes. Sie rückten entschieden ab vom Geist der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Napoleonischen Macht. Sie entdeckten das christliche Mittelalter und feierten die Kirche als Förderin von Kultur und Wissenschaft, als notwendige Grundlage für Staat und Gesellschaft, als Hort höchster Lebensweisheit. Doch wie sehr blieb diese Romantikergeneration, die noch im 18. Jahrhundert aufgewachsen war, dem Geist der Aufklärung verhaftet! Diese Autoren schöpften noch nicht aus der Fülle der Heilstatsachen, ihre religiöse Substanz* war noch verhältnismäßig dünn. Sie glaubten, das Christentum gegen seine Gegner in Schutz nehmen zu müssen, und verteidigten es ästhetisch wie Chateaubriand, politisch wie de Maistre, soziologisch wie Lamennais, historisch wie Friedrich Schlegel oder philosophisch wie Schleiermacher.

Anders die großen christlichen Autoren der folgenden Generation: Newman, Kierkegaard, Stifter, Gottheit, die Droste, Donoso Cortes, Krasinski, Gogol, Dostojewskij, Lesskow, Solowjew, Hilty, Bloy, Hopkins — sie greifen eher an, als daß sie verteidigen. Für diese Autoren ist das Christentum nicht etwas, das vor der Welt seine Schönheit und Nützlichkeit und damit seine Existenzberechtigung nachweisen müßte, sondern eine überirdische Macht, vor der das Treiben des Jahrhunderts sich zu rechtfertigen hat. Die genannten Schriftsteller sind mehr oder weniger prophetische Gestalten, welche im Namen Gottes mahnend und warnend ihrer Zeit gegenübeftreten und laut die-. Katastrophen voraussagen, die im 20. Jahrhundert über die Menschheit hereinbrechen werden. Aus diesem Grunde sind die großen christlichen Dichter und Denker des 19. Jahrhunderts, die nach der Aufbruchs-periode der Romantik hervortraten, erst nach den Zusammenbrüchen der Weltkriege in ihrer ganzen Bedeutung entdeckt und gewürdigt worden.

Nach der religiösen Dürre des 18. Jahrhunderts wirkt der Rang und der Reichtum der christlichen Literatur des 19. Jahrhunderts erstaunlich. Sie gestaltet alle Themen: die Herrlichkeiten der Natur und die Verhängnisse der Geschichte, das Elend des Proletariers und das Glück des Mystikers. Die religiöse Lyrik von Hebel, Brentano, Eichendorff, Droste-Hüls-hoff, Manzoni, Rossetti, Hopkins, Thompson, Verlaine,

Kasprowicz und Gezelle, die religiöse Epik von Gottheit, Stifter, Manzoni, Mickiewicz, Gogol, Dostojewskij, Tolstoj und Lesskow gehören zu den künstlerischen Hochleistungen des Jahrhunderts. Glänzende Publizisten, wie Friedrich Schlegel, Josef Görres, Lamennais, Lacordaire, Montalembert, Ozanam, Bal-mes, Donoso Cortes, Dostojewskij, Hello und Hilty, legen Zeugnis ab für den christlichen Glauben. Große Philosophen und Theologen, wie Schleiermacher, Baader, Kierkegaard, Newman, Möhler, Scheeben, Rosmini, Hügel, KirejewskrjJ-Chömjakow und Solowjew, entwerfen imposante Darstellungen von Christentum und Kirche. Wie im 17. Jahrhundert die Literatur der Spanier und Franzosen ihren Zenit erreichte und ihr Strahlen zugleich das Licht der Sonne Christi war, so gewinnt im 19. Jahrhundert die Literatur der Russen und Polen im Zeichen Christi ihren höchsten Gipfel. Und auch die übrigen Völker Europas erleben nach langer Zeit wieder,' daß Meister der Verskunst und der Prosa, die sich in Leben und Werk als Christen bekennen, ihrer Sprache neuen Glanz hinzufügen.

Die Lage hat sich allerdings dem glaubensstarken 17. Jahrhundert gegenüber insofern geändert, als die europäische Kultur, wie schon zur Zeit der Aufklärung, weiterhin von nichtchristlichen und religionsfeindlichen Kräften geprägt wird. Die Ideen der Aufklärung werden im 19. Jahrhundert weiterentwickelt. Neuhumanismus, Liberalismus, Sozialismus, Materialismus, Positivismus, Atheismus, Nihilismus — alle diese geistigen Strömungen entstammen dem Jahrhundert, das die Vernunft und die Natur vergötzte, und sie alle beherrschen die Epoche zwischen der Französischen Revolution und der Russischen Revolution. Durfte der christliche Autor des Barocks noch der Resonanz einer größtenteils gläubigen Leserschaft sicher sein, so sieht sich der christliche Schriftsteller des 19. (und auch des 20.) Jahrhunderts einer Gesellschaft gegenüber, die der Religion entfremdet ist und mit deren materialistischer, liberalistischer und atheistischer Gesinnung er sich auseinandersetzen muß. Wuchsen die christlichen Autoren des Barocks aus einer starken religiösen Tradition, so kommen die christlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts fast alle aus dem Bereich des Unglaubens, den sie erst nach geistigen Kämpfen hinter sich lassen. Ehe Chateaubriand, Lamennais, Lacordaire, Montalembert, Manzoni, Pellico, Görres, Friedrich Schlegel, Donoso Cortes, Mickiewicz, Slowacki, Dostojewskij, Kasprowicz, Bloy und Peguy glühende Vorkämpfer des Christentums wurden, waren sie Freigeister. Brentano, Kierkegaard und Verlaine waren in einem Abschnitt ihres Lebens dem Glauben entfremdet und bekehrten sich. Newman, Faber, Patmore, Hopkins und Solowjew sind Konvertiten. Geister, die erst durch Unglauben und Irrtum gegangen sind, scheinen sich am besten dazu zu eignen, einer nihilistischen Welt die Wahrheiten, Werte und Wirklichkeiten des Christentums nahezubringen: kennen sie ja aus eigener Erfahrung die Gedanken und Empfindungen jener, an die sie sich wenden. Selbst einer Heiligen wie Therese von Lisieux blieb das Erlebnis der Glaubenslosigkeit nicht erspart, und vielleicht konnte gerade deshalb die Autobiographie der jungen Karmeliterin auch Außenstehende ansprechen.

Aus dem im Paul-Pattloch-Verlag erschienenen Werk „Europas christliche Literatur 1500\bis lz60“ von Gisbert Kranz,

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