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Weisheit zur Neuordnung des Abendlandes

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Joseph Görres, der rheinische Romantiker, Gelehrter, Natur- und Geschichtsphilosoph, als Herausgeber des „Rheinischen Merkurs”, 1814—1816, wohl der genialste Publizist der Befreiungsbewegung wider Napoleons Vorherrschaft in Europa, entwickelt in seinen mythologischen und geisteswissenschaftlichen Werken wie in seinen politischen Schriften eine Sinndeutung der Geschichte, die auch den modernen Geschichtsbetrachter in seinem Streben, itr der vermeintlichen Wiederkehr historischer Erscheinungen die Entelechie eines teleologisch bestimmten Entwicklungsbildes, mithin ein gewisses Gesetz der Geschichte zu erkennen, nicht ohne Hilfe läßt. Nach Görres ist es allein der Geschichte in ihrer gesamten Entfaltung in der Zeit gegeben, zwischen den großen und kleinen Gegensätzen zu vermitteln. Nur in ihr treffen diese in so sinnvollem Widerstreit aufeinander, daß einer den andern vor dem Abirren in die frevelnde Maßlosigkeit der Vereinzelung bewahrt. Geschichte, einmal als freies Werk des Erdgeistes von Gott zugelassen, bedarf zu ihrem Wirken, zu ihrem Fortschreiten der Kraft des Zusammenklangs genau so wie der des Widerstreits.

Auf dem Grunde dieser geschichtsphilosophischen Schau gibt Joseph Görres eine Deutung der historischen und politischen Wirklichkeit, die in ihrer Gabe der Voraussicht den um die Sinngebung des jüngsten Geschehens Ringenden, der mitten in dem zum Niemandsland zweier allmählich erstarrenden Fronten gewordenen Europa seinen Standpunkt hat, schlechthin wie die Weisheit einer Sibylle des 19. Jahrhunderts anmutet. — Von den drei Schriften, in denen Görres die politischen Ereignisse zwischen den Karlsbader Beschlüssen 1819 und dem Kongresise von Verona 1822 kritisch begleitet — „Teutschlarid und die Revolution”, 1819, „Europa und die Revolution”, 1821, „Die Heilige Allianz und die Völker auf dem Kongresse von Verona”, 1822 —, hebt jede gradezu beschwörend mit der Mahnung an, zwischen den Extremen die Mitte, das Maß zu finden, weil alles Maßlose zur eigenen Vernichtung führt, die Rettung von irgendeinem Übermaß auf die Dauer nicht in der Übersteigerung des entgegengesetzten Extrems gesucht werden kann und nicht zuletzt die Weltordnung alle Extreme haßt, weil in ihnen die Harmonie des Ganzen zerbricht. Diese Mitte sieht Görres nicht im lauen Vergleich. sondern in der Idee, welche die nach Gestaltung drängenden Gegensätze zur Einheit des Gestaltungsbildes bindet. Sie ist das dem Zeitenwandel unterworfene Abbild der wandellosen Idee Gottes, daher stirbt auch sie, wenn sie ihren Auftrag in der Zeit erfüllt hat, mögen auch ihre äußeren Darstellungen, die Gebilde, denen sie lebendige Wirklichkeit verliehen, deren Seele sie war, eine Zeitlang noch weiterbestehen. Von dieser Einsicht unbeschwert staatlichen Einrichtungen, politischen Konstruktionen, überkommenen Ordnungen, deren tragende Ideen längst dahingegangen, Dauer verleihen zu wollen, das ist der große Vorwurf, den Joseph Görres der Diplomatie der Kongresse seit 1815 macht.

In einer eingeborenen Sehnsucht, das eine, das Ganze zu wollen, es sich aber nur in seinen weithin einander widerstrebenden Teilen gegenwärtig machen zu können, ist, seit in da in sich ruhende Dasein die „Unruhe der Geschichte” getreten, Menschenlos. Im Hin- und Herwogen dieser einander bekämpfenden, bald obsiegenden, bald vergehenden, einander bedingenden, aber zugleich einander vielfach ausschließenden schöpferischen Würfe des Menschen um die Gestaltung des Leitbildes pulsen jene gewaltigen Rhythmen — mit Görres zu sprechen die „Gezeiten” —, welche die bedeutsamen Wendepunkte, die Weltzeiten der Weltgeschichte, daretellen. Der Flut des Absolutismus und Zentralismus folgt die Ebbe der Französischen Revolution. Bald aber staut sich die neuerliche Flut des europäisch-zentralistischen Despotismus Napoleons, die unaufhaltsam die Befreiung der von ihm unterworfenen Völker und seine Niederwerfung als folgende Ebbe nach sich zieht. Für einen Augenblick scheinen Welt und Geschichte ihren mörderischen Feueratem anzuhalten; etwas wie Besinnung erwacht in der Menschheit. Da ist zunächst das Gefühl „einer gemeinsamen Schuld und einer unverdienten Begnadigung”, das sich in einer Tiefe der abendländischen Menschheit bemächtigt, mit der sich unser bekanntes „Wir sind noch einmal davongekommen” wohl kaum messen kann. Sodann die tiefe Überzeugung, daß der alte Zustand der Dinge und Verhältnisse nie mehr wiederkehren dürfe. Indes, der Wiener Kongreß, der nach dem Vertrauen, das die Völker ihren in ihm vertretenen Regierungen entgegenbrachten, unter anderem auch das gegebene Versprechen einer Konstitution einlösen sollte, ging unter in dem Hauptinteresse der territorialen Neuordnung aus der Konkursmasse des Reiches. So wird die Sorge der erwachten Nationen um die versprochene Mündigkeit immer brennender, der Gegensatz zwischen den Konservativen und Liberalen durchzieht ganz Europa, und Mißtrauen und Furcht, nackte gemeine Furcht der zur Neuordnung Berufenen voreinander überwuchert das Vertrauen, das in dem Augenblick der gemeinsamen Anstrengung für den Sieg noch einmal das alte Band zwischen den Fürsten und ihren Völkern neu geknüpft hatte. Europa lebt seit Absolutismus und Revolution in dem ziehenden Sog der dritten Gezeit, deren Flut und Ebbe die Kongresse von Karlsbad bis Verona und ihre Ursachen, die Erschütterungen in Deutschland, in Spanien, Italien, Neapel, Portugal und Piemont, bezeichnen. Europa — wie lange noch?

„So wird Europa von den Paroxysmen dieses Wechselfiebers heimgesucht, bald in den Schauern des Despotismus zähneklappernd, dann wieder von fliegender Revo- lutionshkze heiß überlaufen, immer kraftloser und hinfälliger und matter, und dies Fieber, das zuerst ein säkulares gewesen, hat sich in der Reformation auf Menschenalter eingezogen, in der Revolution ist es auf Stufenalter zurückgegangen, jetat aber beinahe jährig geworden und, fast ohne Intermission, deutet es auf die stets zunehmende Ver- seichtung der Lebenskräfte, zugleich aber auch auf das Annahen der entscheidenden Krise.”

Zu diesem innergesellschaftlichen Problem tritt das der Neuordnung Deutschlands, ohne die alles Mühen um die Ordnung Europas schon damals vergeblich schien.

„Da dem Geisrte der Nation… zugleich die Höhe und die Tiefe genommen worden, so ist ihr nichts als jene Mittelmäßigkeit geblieben, die spießbürgerlich sich ans Engste und Ärmste heftet, und nachdem sie alle Gesinnung, alle Würde, alles Selbstgefühl und allen Gemeingeist ausgecilgt, sie der nächsten Invasion ziur sichern Beute vorbereitet. Dazu findet Teutschland in die günstigste Lage sich gesetzt, indem es in seinem Kontinentalverhältnis zwischen zwei europäische Systeme, das russische und das englisch-französische, in die Mitte tritt, die es in gedrungener Masse trennen und isolieren müßte, die sich aber bei seiner jetzigen leichten Zersetzbarkeit bei jeder Gegenwirkung in ihm entladen Werden … Da jeder Krieg fortan eines idealen Vorwandes zu seiner Beschönigung bedarf, so wird es nun die alte und die neue Ordnung sein… Und während die Nation, also die Verzweiflung im Herzen, sich mehr und mehr hinschwinden sieht, wird der Haushalt des Staates stets kostbarer und verworrener… Was sie (die Zukunft) aber bringen möge, so viel ist gewiß, daß auf diesem Wege Teutschland im Verflusse des laufenden Jahrhunderts dahin gelangen wird, wo Spanien im ver. flossenen gestanden; seine Städte verwüstet, seine Straßen mit Gras bewachsen, die Reste seiner Industrie ausgewandert, seine Gewerke verarmt, seine arbeitsamen Hände in anderen Weltteilen angesiedelt.”

Trotzdem ist nicht alle Hoffnung dahin. Sie knüpft sich für Görres an zwei Erscheinungen, die ihm über die Zeit hinaus auch für die fernste Zukunft von Bedeutung sind, an das starke, allerorten erwachende religiöse Bedürfnis im Volke und an den Entschluß der in der Heiligen Allianz vereinten Regierungen und Fürsten, ihre künftigen Handlungen und Maßnahmen von den Grundsätzen der Idee des Christentums und seiner Sittenlehre bestimmen zu lassen. Hierin erblickt Görres geradezu die Möglichkeit einer Wende in der abendländischen Geschichte. War es doch einst gerade jene Idee der Christenheit, in deren Anschauung das Gefühl einer europäischen Gemeinsamkeit im frühen Mittelalter zuerst sich erneuerte. Denn das gilt Görres als die dem neuen Bunde der in der Heiligen Allianz vereinten Völker gestellte Aufgabe; die Gegensätze, in denen die Zeit sich vergeblich windet, in der einen Idee des Christentums zu meistern. Jene großen Bewegungen des nationalen Erwachens, wie des Freiheitsverlangens, sie seien nicht zu beherrschen durch gewaltsame Unterdrückung, sondern nur, indem man sie zum neuen geschichtlichen Impuls mache; das sei aber nur mehr der Religion möglich, ja die eigentliche Sendung der christlichen Idee. Und so lenkt Görres am Ende seiner Betrachtungen wieder zu jener Mahnung ein, mit der er beschwörend jede seiner drei Schriften begonnen: die zerstörende Gewalt der Gegensätze, wie der innere Sinn der Heiligen Allianz fordere von allen Teilnehmern — wie nicht zuletzt ihr Gewissen — als Wesen ihrer Regierung Maß und Mitte. Nur ein solches Wesen sei einem Bunde angemessen, der seinen Mitgliedern, als Fürsten und Staaten derselben und einer christlichen Nation, die keinen anderen Souverän anerkennt, als Gott politisches Handeln im Geiste der Religion, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens zur Pflicht macht.

Damit diese Grundsätze nicht nur Worte blieben, hielt Görres für die Gesundung und Neuordnung Europas allerdings eines für unumgänglich: die Revision der Bestimmungen des Wiener Kongresses — nicht zuletzt auch der territorialen — unter der Fiktion, als wären vor dem Kongresse schon die Beschlüsse der Heiligen Allianz bindend gewesen. Ihrem Geiste nach stellen diese Vorschläge eine großzügige, von Einsicht und machtpolitischer Entsagungsfähigkeit geleitete Wiedergutmachung dar, deren tatsächliche Forderungen im einzelnen der Aktualität heute entbehren mögen. Die politisch-historische Besinnung auch unserer Tage noch immer berührend, wird aber die Sorge bleiben, mit der Görres immer wieder sein Denken darauf richtet, was das alte Europa zu einer Einheit gebunden und welchen von diesen Banden auch noch im 19. Jahrhundert eine einigende Kraft zukomme. Uber allen diesen Kulturgemeinsamkeiten und Bindungen steht ihm wieder die Idee des Christentums; sie mache die Eigenart gerade der spezifisch europäischen Bildung aus, sie versöhne die Gegensätze, die in ihrem zerreißenden Extremismus bezeichnenderweise ihre Vorbilder im Außereuropäischen fänden: so ist es auch jetzt also gemeint, daß die eine Faktion Amerika in die europäische Ordnung überver. pflanzen möchte, die andere Asien in s i e hinübertragen, und beide jenes echt und charakteristisch Europäische, Was diesen Weltteil durch die ganze neuere Zeit eigentlich bezeichnet und ihn zum herrschenden auf Erden gemacht, gleich sehr zerreißen und, soviel an ihnen ist, untergraben und zerstören. Darum soll… der Bund dazwischen treten… und indem er mit der Rechten die asiatische Erstarrung abweist, mit der Linken die amerikanische Auflösung weghält, die allein einem neu aufkeimenden gesellschaftlichen Verein Zusagen kann… die eigentlich und wahrhafte europäische Bildung retten.” Eine Zeit und eine Welt, die vor den Ruinen der alten abendländischen Gemeinsamkeit stehen, die um ihres gemeinsamen

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