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REVUE IM AUSLAND

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In einer Zeit erschwerter Buchproduktion kommt den Revuen erhöhte Bedeutung im geistigen Gespräch zwischen den Völkern zu. Da jedoch den österreichischen Lesern der Zugang zu den Zeitschriften anderer Länder noch nahezu unmöglich ist, will die „Furche“ in kurzen Abständen Streifzüge durch die ausländischen Zeitschriften unternehmen, um die gerade in der Gegenwart so notwendige geistige Fühlung möglichst eng zu gestalten. „Während die Staaten wie hochfahrende und ohnmächtige Greise streiten, fühlen sich die Völker neugierig, um nicht zu sagen liebevoll voneinander angezogen. Capulets und Montagues verboten ihren Kindern, sich zu treffen, aber trotz der Schwierigkeiten der Visa und Devisen gelang es Romeo und Julia schließlich, sich zu sehen und zu umarmen“, schreibt Robert B 0 s c im Novemberheft der französischen

Zeitschrift „Etüde s“ in einem Bericht über die internationalen Tagungen des vergangenen Sommers.

Die weltweiten Gleichgewichtsverschiebungen unseres Jahrhunderts als Folge zweier Weltkriege offenbaren sich auch in den Diskussionen über die Probleme der Wanderung und Auswanderung. In der „C i v i 11 a C a 11 o 1 i c a“ erhebt A. de Marco S. J. die Frage: „Sind die Wanderungserscheinungen nur wirtschaftlichen Ursprungs?“ und zeigt, daß hier auch ein sittliches Problem vorliegt, das sich vor allem bei den Einwanderungsländern aus der Verpflichtung ergibt, die vorhandenen Naturschätze und Kapitalien zum Nutzen von Weltwirtschaft und Menschheit dadurch zu erschließen, daß durch eine unter gerechten Bedingungen durchgeführte Einwanderung auch die nötige Arbeitskraft an diese Möglichkeiten herangeführt wird. Gerade für Italien sei ja die

überschüssige Arbeitskraft seiner Bevölkerung der wesentlichste Beitrag, den das rohstoffarme Land zum Aufbau einer europäischen wie einer weltumspannenden Wirtschaft leisten könne. Die seit Kriegsende in England besonders aktuelle Frage der „Empire Migration“, das heißt der Auswanderung aus Großbritannien in andere Teile des britischen Weltreichs, vornehmlich nach Kanada und Australien, behandelt Sir J. Hope Simpson in der Londoner Monatsschrift „The Fortnightl y“, wobei die Gefahren, die eine wilde Auswanderung gerade der jüngeren, unternehmenderen und begüterten Kräfte für das Mutterland mit sich bringen würde, aufgezeigt werden. Die hier angedeutete geistige Sgite des Problems steht im Vordergrund in einem Artikel von John Lowe über „Konservativismus und die Universitäten“ in „The Nineteenth

Century and afte r“, in dem zunächst verschiedene Symptome aufgezählt werden, die eine von den Universitäten ausgehendeErneuerung der konservativen Ideenwelt auf allen Gebieten des englischen Geisteslebens im Sinne einer fast revolutionären Gegenbewegung gegen den „rosafarbenen Intellektualismus der dreißiger Jahre“ erkennen ließen.

Die Rechenschaftsberichte und Übersichten über den Stand der nationalen Literaturen nehmen einen breiten Raum in allen Zeitschriften ein. Die jetzt in Mainz herausgegebene internationale Monatsschrift „W ort und Tat“ bringt in den beiden letzten Nummern einen Rechenschaftsbericht über „Die Situation der französischen Literatur 1940 bis 1946“ von Gaetan Picon, der eine reiche Fülle der Richtungen und Persönlichkeiten vor uns ausbreitet. Hier ergibt sich die Gliederung in eine nach wie vor „reine Literatur“, das heißt den menschlichen Anliegen verpflichtete Gruppe, in der sich aus der älteren Generation die bekannten Namen Valery, Gide, Claudel, Giraudoux, aus der jüngeren die von Michaux, Perse und Paulhan finden, und in die andere Gruppe der dokumentarischen und „zeitverpflichteten“ Literatur (die während der Besetzung entstandenen Schriften des „Mitternachtsverlages“, die Werke von Eluard Aragon, Vaillard, Vernet, Rousset), die seit Kriegsende doch mehr Forderung als Wirklichkeit ist. („Es gibt also mehr Lärm um die zeitverpflichtete Literatur als Werke, in denen sie zum Ausdruck käme: mehr Manifeste als zeitgebundene Gedichte und Romane.“) Dazwischen aber steht die Gruppe der vom Existentialismus her bestimmten Schriftsteller (Sartre und Beauvoir, andererseits' Camus, dessen jüngstes, aufsehenerregendes Werk, „La Peste“, in dieser Übersicht noch nicht gewürdigt ist), die wohl von den Themen von Krieg und Widerstand ausgingen, denen es aber dabei auf die Probleme der menschlichen Existenz und des Todes und nicht auf die politische Auseinandersetzung selbst ankommt — weshalb Sartre auch von der extremen Linken bald als „falscher Prophet“ abgelehnt wurde. Bemerkenswert sei vor allem die intellektualisti-sche Note sowie ein neuer Aufschwung des Essays als Kunstform. Es ist interessant, mit dieser Feststellung die Folgerungen zu vergleichen, zu denen Ch. H o 11 i s in der englischen Wochenschrift „The T a b 1 e t“ vom 8. November über „Die Bedeutung des Essays. — Die Aufgabe nutzlosen Wissens“ kommt:

„F.s ist klar, daß der Essay, wie alle guten Dinge, im totalitären Staat uilfergehen muß. Mit ihm wird alle Weisheit untergehen. Denn der Mensch erwirbt Weisheit schlendernd und indirekt, bemerkt eine Primel oder ein Gitterfenster am Weg zum Fleischhauer, und wenn er gelehrt und gezwungen wird, immer nur starr geradeaus zu blicken und niemals das Ziel aus dem Auge zu lassen, dann verliert er alles, was im Leben wertvoll ist. Er verliert, wie die Erfahrung zu zeigen scheint, nebenbei auch das Ziel — doch ist das das kleinste der Übel.“

In Amerika, das in den dreißiger Jahren die größte Blüte einer solchen „sozialkritischen“ Literatur erlebt hat, ist das völlige Versiegen dieser Richtung festzustellen. Da überhaupt, zumindest in der Romanliteratur, keine bestimmte Richtung oder literarische Mode erkennbar ist, haben die großen Wochenschriften „L i f e“ und „T i m e“ das Problem aufgegriffen. „Time“ hat seine Reporter zu den bekanntesten Schriftstellern gesandt, um sie nach den Gründen der literarischen Stagnation zu befragen, während im „Life“ der Kritiker John Chamberlain dieselbe Frage zu beantworten trachtete. Allgemein wurden bei den Antworten die Vorliebe des Publikums für die historisierende Liebesgeschichte, das Überwiegen der illustrierten Zeitschriften über die einst so literaturfördernden kleinen literarischen Magazine, die Anziehungskraft von Hollywood für junge Schriftsteller, die seelische Erschöpfung nach dem Kriege und die literarische Sterilität des Kriegserlebnisses angeführt. Doch läßt Chamberlain den Mut nicht sinken:

„Irgendeinmal in der Zukunft wird das

Volk der Vereinigten Staaten und die übrige Welt eine Anzahl würdiger Ziele entdecken — oder wiederentdecken. Und die Verfolgung eines Zieles wird eine Energie hervorbringen, die schließlich in die Literatur überlaufen muß, da diese ein Teil des Lebens ist ..

Auch der bekannte Kritiker und Schriftsteller Bernard De Voto hält in „H a r-p e r s Magazine“ die Sorge für unbegründet: „Daß wir keine literarische Mode in voller Blüte haben, ist ein Zeichen von Gesundheit, nicht von Vergreisung oder Dekadenz“. Eine ähnliche Haltung vertritt für sein Volk der italienische Romanschriftsteller Riccardo B a c c h e 11 i in einer Rede an die römischen. Akademien im Sommer dieses Jahres — abgedruckt in der „N u o v a A n t o 1 o g i a“:

..Zweifel und Gründe zum Zweifel, Müdigkeit und die Versuchung der Verzweiflung (wem nützte es, sie zu leugnen?) gibt es in großer Zahl, und sie haben ein drückendes Gewicht; aber das starke Wort eines edlen Philosophen sagt, daß jede Tat eine Tat des Glaubens ist.“

„Geistige Welt — Vierteljahrschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften“ —, vom Münchner Kunsthistoriker Hans J a n t-z e n herausgegeben, bringt einen Aufsatz des jungen Philosophen Gerhard Frey* über „Begrenzung als geistige Situation der Gegenwart“:

„Erkenntnisse wie diejenigen, daß eine gewisse persönliche Unfreiheit unumgänglich ist, daß die Erkenntnismöglichkeiten auch der exakten Naturwissenschaften grundsätzlich beschränkt sind, daß alle Verstandeserkenntnis notwendig immer' nur «in Bruchteil einer unendlich viel reicheren Wirklichkeit ist sowie die Ergebnisse der biologischen Forschung, die den Menschen — auch in seiner geistigen Existenz — weitgehend beeinflußbar erwiesen haben, und noch vieles andere, all das drängt den Menschen der Gegenwart immer mehr in eine grundlegend neue geistige Haltung. Wir sind uns der Begrenztheit unseres eigenen Daseins wieder in einer Weise bewußt geworden, wie es die ganzen Jahrhunderte vor uns nicht gekannt haben.“

Ais Aufgabe der Gegenwart bezeichnet Frey — dessen Gedanken sich vielfach mit denen von Aloys W e n z 1 „Der Geist' am Ende seiner Möglichkeiten?“ in der Wiener Monatsschrift „W ort und Wahrheit“ berühren —, eine Synthese aus dem Begrenztheitserlebnis des Mittelalters und dem Unbegrenztheitseriebnis der Neuzeit seit der Renaissance, wobei sich allerdings die Gefahr aller Geschichtsdialektik zeigt, da sich die geistige Vielfalt eines Zeitalters eben nie auf eine einzig« Formel bringen läßt.

Daß auch eine ganz andere Deutung der geistigen Gegenwartssituation zumindest möglich ist, zeigt der Aufsatz von Henri de L u b a c „Die christliche Idee des Menschen und die Suche nadi einem neuen Menschen“ in den beiden letzten Nummern der Pariser Zeitschrift „Etüde s“. Lubac sieht die entscheidende Tatsache unserer Zeit in dem Versuch der Menschheit, sich mit Hilfe der Wissenschaft die Erde zu unterwerfen “und zugleich die Gesellschaft selbst umzugeftalten. Dem mit der christlichen Lehre durchaus vereinbaren promethei-schen Versuch des Menschen, sein eigenes Geschick durch die Entzündung eines neuen Feuers zu bestimmen, wird die heidnische Unterwerfung unter ein blindes Fatum oder unter den Zwang der Naturgesetze gegenübergestellt, wobei Lubac Marx und Nietzsche als Hauptvertreter für diesen natur-gesetzlichen Fatalismus aneinanderrückt. Durch die Beherrschung der Naturgewalten erweise sich der Mensch als das nach Gottes Ebenbild geschaffene Wesen, das zwar aus Erde gemacht, aber von Gottes Atem beseelt, aus der doppelten Verpflichtung seiner Herkunft die doppelte Befreiung seiner Selbstbildung und seiner Vereinigung mit dem Schöpfer anstreben müsse.

Ähnlich wie Lubac geht R. Gutzwiller in einem Artikel „Zur Frage: Christentum und Welt“ in der „Schweizer Rundschau“ von dem Festhalten der Kirche am göttlichen und am menschlichen Element und von dem sowohl außerweltlichen wie innerweltlichen Charakter der - Kirche aus. In unserem Jahrhundert habe die Kirche auf dem Gebiet des politischen, sozialen, wissenschaftlichen und des praktischen kirchlichen Lebens eine „Linie der klaren, souveränen Mitte“ zwischen einem erstarrenden, negativen Integralismus und einem allzu anpassungswilligen Modernismus gehalten“.

„Gerade weil die Kirche diese Mitte einhalten will und muß, ist es berechtigt, daß es in ihr immer Einzelmenschen und Einzelgruppen gibt, die kräftig nach der einen oder anderen Seite vorstoßen. Es muß Elemente der Tradition, der Zurückhaltung, der Vorsicht und des Dämpfens geben, aber auch Kräfte der Erneuerung, der Initiative und des kühnen Vorstoßens ... Die Mannigfaltigkeit an Richtungen, Strömungen, Schulen, Meinungen und Gruppen ist ein Reichtum und ein Zeichen von Vitalität, solange alle sich als Glieder der einen Kirche wissen und die Autorität dieser Kirche anerkennen.“

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