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Die soziale Woche in Straburg

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Anfangs August tagte in Straßburg die „Semaine sociale de France“. Diese Studienwoche ist ein Ereignis, das über die Grenzen Frankreichs bedeutungsvoll hinauswirkt. Der Hl. Vater hatte die von der „Furche“ zitierte bedeutsame soziale Botschaft an die Teilnehmer gesandt, die nicht nur aus dem Mutterland, sondern aus aller Welt in die Hauptstadt des Elsaß gekommen waren. So Abordnungen aus England und aus den USA, aus Kanada, Irland, der Schweiz, Belgien und Holland. Österreich war in Straßburg durch P. Pro-vinzial Reisinger, P. Diego Götz und Prof. Mauer vertreten.

Die Aufgabe dieser Sozialwoche, die von Präsidenten Charles Flory jährlich in eine Stadt Frankreichs einberufen wird, besteht darin, die Prinzipien und die Methoden zu studieren, die geeignet sind, der christlichen Erneuerung der Gesellschaft Bahn zu brechen. Zu diesem Zwecke wird die kirchliche Lehre erforscht, die sich mit der Persönlichkeit, der Familie, dem Berufsleben, dem Staat und internationalen Beziehungen befaßt. Die Ergebnisse dieses Studiums werden von den Teilnehmern'in ihrem Wirkungskreis propagiert und für die Gegebenheiten der augenblicklichen Lage zur Verfügung gestellt. So soll durch Kritik und Anregung, unbeeinflußt von jeder politischen Partei, eine Reform der Gesetze und der öffentlichen Einrichtungen erreicht werden. Diesem Ziele dienen auch die „Chronique sociale de France“, die im Anschluß an die Tagung erscheint und deren Ergebnisse veröffentlicht.

In diesem Jahre galt die Arbeit in Straßburg dem Thema „communaute national“, der nationalen Gemeinschaft. Um diese Gemeinschaft wird in Frankreich schon seit langem gerungen. Die Zeit vor dem zweiten Weltkriege, die große Streikwelle unter der Volksfrontregierung Leon Blums, hat die ganze Schwere des Problems geoffenbart, ohne es lösen zu können, da der Krieg dazwischentrat. Während der Okkupation, als das schwerverwundete Frankreich zur Untätigkeit, dem „Attentismus“, verurteilt war, ist das Verlangen nach der Gemeinschaft der ganzen Nation noch gesteigert worden. Jetzt, da das Land schöner und besser aufgebaut und mit der neuen Verfassung die Grundlage für diese Entwicklung geschaffen werden soll, legt das katholische Frankreich seinen Bauplan vor, der den Titel „communaute national“ trägt. Der Geist, der hier am Werke ist, wird am besten durch die Worte Henri Lorins vom Präsidium der Sozialwoche ausgedrückt, wenn er sagt:

„Als überzeugte und treue Katholiken wollen wir zeigen, daß unsere Religion d i e Grundlage, den Leitgedanken und die Richtlinien der wahren Gemeinschaft bietet und daß nur eine aus ihr hervorgehende Gesellschaft den Forderungen der Sozialordnung vollständig genügen kann.“

Dieses mutige Programm gipfelt in dem Verlangen nach der „harmonischen Einheit Frankreichs, mit all seinen Verschiedenheiten, die den Reichtum des Vaterlandes ausmachen, nach der Freiheit der Persönlichkeit in der Gemeinschaft!“

Schon der Name Sozialwoche drückt es aus und der ganze Verlauf der Tagung hat es bestätigt, daß man sich dabei der brennendsten Aufgabe, der Eingliederung des Arbeiterstandes in die neue Gemeinschaft, bewußt war. Denn gerade auf diesem Gebiete war Frankreich zurückgeblieben. Wie befremdend hat es im Jahre 1936 und 1937 auf uns Nichtfranzosen gewirkt, als ein heftiger Kampf darum geführt wurde, ob der französische Arbeiter einen bezahlten Urlaub bekommen soll oder nicht. Nun ist man sich aber gerade unter den Katholiken der Verantwortung ganz bewußt, allen voran die Jugend, die in der JOC (Jeunesse ouvriere catholique) eine mächtige Arbeiterjugendbewegung aufgebaut hat. In diesem Sinne schien es uns ein verheißungsvolles Symptom, daß es Theo Braun war, der als Arbeiter die christliche Gewerkschaft leitet, von dem wir bei der Ankunft in Straßburg empfangen wurden.

Wie ernst bei der Sozialwoche gearbeitet wurde, zeigt die Fülle der Probleme, die in den Vorträgen erörtert wurden. Zu Beginn wurde das Wesen der Volksgemeinschaft erforscht, ihre Entwicklung und heutige Lage, die durch den Vergleich mit dem Ausland und durch die Stellung in der Weltgemeinschaft noch deutlicher wurde.Die weiteren Ausführungen galten den einzelnen Fachgebieten. So wurde das Verhältnis der Gemeinschaft zu Staat und Schule, zu Jugend und Proletariat studiert, die Beziehungen zu den Teilen des Weltreiches und der Weltwirtschaft erörtert. Der demokratischen Struktur des Staates, dem Problem der persönlichen Freiheit, dem Eigenleben der Provinz, der Stadt und Landbevölkerung und der öffentlichen Meinung war die Arbeit weiterer Konferenzen gewidmet. Am Rednerpult standen bedeutende Gelehrte geistlichen und weltlichen Standes, die Universitätsprofessoren Andr£ L e t r e i 11 e, Lyon, Joseph H o u r s, Mgr. de S o 1 a g e s, Toulouse, Abbe Charles Robert, Straßburg, de L u b a c S. J., Lyon, Emil Baas, Straßburg, Pierre G a r-r a u d, Lyon, Pierre Henri Simon, Gent, Joseph F o 11 i e t, Lyon, Robert M o n-t a g n e, Rabat, Maurice B y e, Paris. Aus der praktischen Arbeit kamen die Vorträge von Charles Flory, Präsident der Sozialwoche, Pierre Lemasson, Verband der Familie, Paul N o d d i n g s, Sozialsekretariat des Departements Nord, Remy M o n-t a g n e, Jugendbewegung, Charles B 1 o n-d e 1, Präsident der Union der französischen Sozialsekretariate und Abbe de N a u r o i s.

Diese Vorträge bestimmen die Arbeitsweise der Sozialwoche, indem sie den kritisch gesichteten Gegebenheiten die philosophischen und theologischen Prinzipien gegenüberstellen und aus dem Vergleiche die Entschließungen ableiten, die der christlichen Sozialordnung entsprechen. Dennoch würde man der Bedeutung der Tagung nicht gerecht werden, wenn man sie nur unter diesem Gesichtspunkt beurteilen wollte. Denn wer könnte die Fülle der Anregungen übersehen, die gerade in kleinem und kleinstem Kreise, bei den Debatten im Kloster Sainte - Clotilde gegeben und genommen werden? Und auch diese organisierten Aussprachen, mit aller Offenheit und Vehemenz französischen Temperaments geführt, stellen nur einen Bruchteil dessen dar, was durch den ständigen, engen Verkehr unter den Teilnehmern an persönlichem Kontakt, Verstehen und Informationen getauscht wird.

Und wer sind diese Teilnehmer, die in den Pausen zwischen den Vorträgen, während der gemeinsamen Mahlzeiten und bis spät in die Nacht in ihren Quartieren die machtvolle Einheit ihrer Überzeugung immer wieder freudig bestätigt finden, auch wenn sie aus ganz entgegengesetzt, weit voneinander entfernt liegenden Ländern kommen? Sieben Bischöfe der französischen Metropole und des Weltreiches, der päpstliche Nuntius, die Minister des MRP Francisque Gay, Andre Colin, Schuman, Deputierte der Nationalversammlung, Universitätsprofessoren, Ordensmänner und Weltpriester, Führer der christlichen Gewerkschaften, der Pfadfinder und der Jugendorganisationen, ein Schwärm von Journalisten, Erzieher, viele junge Arbeiter und Studenten sammeln hier das Rüstzeug für ihren Kampf. Wenn alle dann voll neuer Energien und Ideen in ihren Wirkungskreis zurückkehren, um fester und bewußter für ihre Überzeugung einzutreten, so ist auf allen Gebieten des katholischen Lebens dieser mächtige Impuls zu spüren, der von der Sozialwoche ausgeht und ihr Sinn gibt.

Vielleicht fragt man nun, was Vertreter des Auslandes, was Österreicher denn dabei zu tun hätten, wenn zum Neubau der französischen Volksgemeinschaft Stellung genommen wird? Denn so glücklich es uns gemacht hat, so war doch das Interesse und das Verständnis, so waren dodi die Entgegennahme der zahlreichen Beweise der Freundschaft für unser liebes Vaterland nicht der Zweck unserer Fahrt. Auch die öffentliche Ehrung für P. Provinzial R e i s i n g e r, der für die mutige Hilfe an Franzosen während des Krieges mit der Ehrenlegion dekoriert wurde„ war es -nicht. Aber haben nicht auch wir- vieles an unserem arbeitenden Bruder gutzumachen, oder sind die Fragen der Privatschule, des Familienschutzes, der Wirtschaftsverfassung und der Freiheit des einzelnen schon so fürtrefflich gelöst, daß sie uns nicht mehr zu interessieren brauchten? Hatte man nicht den Eindruck, daß es unsere eigene sein könnte, als von einer Jugend gesprochen wurde, über die der Sturm des Krieges so unerbittlich und verheerend hinwegbrauste? Wir nahmen als Gewinn der Straßburger Tage die Gewißheit mit, daß gleich uns im großen Frankreich und in aller Welt mutig an die Lösung dieser Aufgaben herangegangen wird, daß wir aus diesem lebendigen Ringen viel lernen und verwenden können, uns aber auch dessen, was in Österreich erstrebt und getan wird, nicht zu schämen brauchen.

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