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Für die Revision des historischen Materialismus

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Das öffentliche Leben in Bayern nimmt, im großen gesehen, einen guten Lauf. Die Leistungen, die der Verwaltung abliegen, sind groß und durch ihre völlige Neuartigkeit erschwert. Es ist vorstellbar, was *es heißt, den Millionenzustrom von Sudetendeutschen in die rechten Kanäle zu leiten und für diese Menschenmassen Vertriebener eine wirkliche neue Heimat zu schaffen. Der Organisationskunst und edler Menschlichkeit sind hier höchste Aufgaben gestellt. Das Parteienleben ist grundsätzlich ähnlich geordnet wie in Österreich und in gleichem Maße auf die Zurückstellung des Trennenden und die Sammlung der Kräfte für die Neueinrichtung der staatlichen und sozialen Gemeinschaft gerichtet. Eben fanden die Gemeindcratswahlen statt, gleich mit den übrigen Gebieten der amerikanischen Zone. Württemberg, Hessen und Teile Bayerns, sie werden die erste Stufe des demokratischen Aufbaues darstellen. Scharf profiliert tritt in dem öffentlichen Leben Bayerns die Gestalt des Ministerpräsidenten Dr. Hoegner hervor, der einer der besten Köpfe der Sozialdemokratie Deutschlands und nicht umsonst einer aus der Schule Georg von Vollmars, über Bayern die föderalistische Fahne aufs neue gehißt hat. Schon in der großen Programmrede, die er am 25. November hielt, schlug er Noten an, die aufhorchen machten. Unter anderem zitierte er seinen von den Nazis ermordeten Freund Dr. Hilferding, „den letzten großen Theoretiker des Marxismus“, der es ihm „als Vermächtnis hinterlassen“, daß „w i r (die Sozialdemokratie) den historisch en Materialismus durch die Anerkennung der sittlichen Kräfte ergänzen müsse n.“ Das bedeutet von unserer Seite auch eine positive Stellungnahme zur Religion. . . .

„Kirchen, die sich nicht zum Knecht des kapitalistischen Systems erniedrigen, sind nicht unser Feind. Wenn sie die Lehren des Christentums in die Tat umsetzen, dann sind sie der Freund aller Armen und Bedrückten und damit auch der Freund der Arbeiterschaft. Jeder gute Christ kann ohne Bedenken Sozialdemokrat und jeder Sozialdemokrat kann ohne Bedenken gläubiger Christ sein. Wir Sozialdemokraten haben nicht vergessen, daß die christlichen Kirdicn' im Kampfe gegen den Nationalsozialismus erhebliche Opfer gebracht und vielfadi gemeinsam mit den Arbeiterparteien illegal zusammengearbeitet haben.“

Zu Weihnachten ergänzte Ministerpräsiden Dr. Hoegner diese Ausführungen vor einer sozialistischen Zuhörerschaft zu Augsburg in einer Rede, in der er erklärte:

Die Leiter der Relisionsgesellschaften werden immer die schwere .Aufgabe haben, gegenüber dem Streben weltlicher Staatenlenker nach Macht und Vorteilen auf d i e ewigen, unwandelbaren Grundgesetze menschlichen Gemein-s c h'a f t s w e s e n s hinzuweisen. Sie haben die sdrwere Aufgabe, sich schützend vor die Schwachen hinzustellen und ohne Furcht den Starken, der Unrecht tut, in die Schranken zu weisen. Sie haben die Gewissen wachzu-rütteln, wenn irgendwo in der Welt gemeine Gewalt gegen Frauen und Kinder begangen wird, wenn Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und ins Elend gestoßen werden, wenn der Gedanke der Menschlichkeit “geschändet und in den Kot getreten wird. Der Bischof von Münster, Graf Galen, hat gegen die Massenvernichtung von Geisteskranken durch Nationalsozialisten mutig seine Stimme erhoben, wenn es auch nur die Stimme des Rufers in der Wüste war. Wo immer die Kirchen gegen Unrecht auftreten und öffentlich Mißstände geißeln, werden wir Sozialdemokraten sie als Freunde der Armen und Unterdrückten anerkennen. 1 Daß dieser aufrechte Bayer es nicht bei Worten bewenden lassen will, beweist er jetzt eben durch ein Gesetz seiner Regierung, das die Beziehungen zwischen Staat und Kirche ordnet, der Kirche ihre Freiheit und die konfessionelle Schule zurückgibt, dergestalt, daß es den Eltern freisteht, die Erziehung ihrer Kinder der Staatsschule, deren Lehrplan auch den Religionsunterricht umschließt, oder einer katholischen oder protestantischen Schule zu übergeben.

Liier deuten sich beginnende Wandlungen, von großer Tragweite an. Meldet sich hier tatsächlich eine allgemeine Revision des marxistischen Materialismus oder ist dies nur eine bayrisch begrenzte Erscheinung? Es ist nicht unbeachtet geblieben, daß das Wiener sozialdemokratische Hauptorgan am 10. Jänner unter dem Titel „Kirche und Politik“ einen Aufsatz veröffentlichte, der nach seinem Haupttenor auf ein Bestreben zur Neuorientierung auch im österreichischen sozialistischen Lager hindeutet. Diese Wahrne'hmung kann nicht dadurch geschwächt werden, daß der Darlegung auch Fehlurteile und unrechte Verallgemeinerungen anhaften. Wie überhaupt einzelne Widersprüche in der Praxis nicht sofort von der Hauptlinie ablenken sollen Aber Ministerp: äsident Dr. Hoegner hat mit scharfem Blick die Kardinalstellung der Schule in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche erkannt. Die Behinderung der* Tätigkeit und der im Rahmen der a 11 g e m e i n e n S c h u 1 n o r m e n freien Entwicklung ihrer Erziehungsanstalten der Katholiken und Protestanten würde auch bei uns immer an den empfindlichsten Punkt rühren.

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