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Digital In Arbeit

Gott in Frankreich — heute

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Der Zug der Demonstranten formiert sich. Schweigende, verbitterte Männer, deren Arbeitsstätten in Kürze gesperrt werden, und dies in Regionen, die durch ein zu geringes Angebot auf dem Arbeitsmarkt längere Zeit Ruhe erzwingen. Spruchbänder erinnern an das grundsätzliche Recht jedes Menschen auf ; Arbeit. An der Spitze marschieren die Gewerkschaftsbosse, ergraute und junge Männer, erprobt in unzähligen Lohnkonflikten, kommunistische und sozialistische Bürgermeister. Ihre Schärpen in den nationalen Farben weisen sie als die Hüter der republikanischen Ordnung aus. In den ersten Reihen erkennt man die durchgeistigten Gesichter von Intellektuellen, aber es sind nicht die Denker und Demagogen, I die in unzähligen flammenden Aufrufen die soziale Revolution verkünden.

Die Bischöfe und Priester der betroffenen Landschaft unterstreichen ihre Solidarität mit der Bevölkerung, die, in größte Unruhe versetzt, um das tägliche Brot bangt. Überall dort, wo die Konzentrierung der Industrie und die strukturellen Erfordernisse Betriebe sperren, wie im Kohlenbergbau und den Werften, verzichtet der Klerus darauf, nur mit Hirtenbriefen und Kanzelansprachen zu trösten. Die betonte Anwesenheit beweist, daß unabhängig von ver- a schiedenen politischen Akzenten und i den sonstigen ideologischen Diver- I genzen mit den Vertretern eines s laizistischen Staates der Mensch c entdeckt und als das wichtigste Sub- I jekt jeder geistigen Aussprache an- I gesehen wird. r

Als Combes 1904 bis 1906 die Tren- s nung von Staat und Kirche in Frankreich erzwang, bezog die s Kirche wie der katholische Laie eine s Art Ghetto. Die staatsbürgerlichen i Pflichten, vor allem im Kriege, war- k den besonders erfüllt, aber die nun t- entstandene Gesellschaftsordnung z bekämpfte eine Minorität, die ihr fremd, ja verdächtig wurde, da sie s die Institutionen der Republik be- g drohte. d

Ein halbes Jahrhundert be-

herrschte der Gegensatz zwischen

Pfarrer und Lehrer die Dörfer und kleinen Städte. Der priesterfres-

sende Antiklerikale wurde bis in die

Gegenwart das Ziel der Angriffe jener Geister, die sich im Besitz der allgemein gültigen Wahrheit glaub-

ten. Auf der anderen Seite wurde der Priester als Agent einer Macht bezeichnet, die die geistigen Frei-

heiten einengt. Diese Feindschaft vergiftete die Atmosphäre der Drit-

ten und teilweise der Vierten Repu-

blik. Ohne es zu wollen oder sogar sofort zu registrieren, wurde das katholische Frankreich ein Land, in dem die Kirche jede Einflußmög-

lichkeit zuerst in der Intelligenz und dann in der Arbeiterschaft verlor.

Binnenmission

Als Abbé Godin sein inzwischen li klassisch gewordenes Werk „Frank- n reich, ein Missionsland“ veröffent- si lichte und die Tatsache des Neu- V heidentums aufzeigte, wurden ein- u zelne Kirchenfürsten und katholische ji Intellektuelle hellhörig, und seit G dieser Zeit, die mit den Leiden der S Besatzung im zweiten Weltkrieg zu- sl sammenfäilt, setzte eine Erneuerung k ein, die im französischen Katholizis- s mus große Hoffnungen erweckte, g Der „Atheistische Humanismus“ der t Wohlstandsgesellschaft, wie der v Jesuit Lubac die Geisteshaltung der e Gegenwart beurteilt, die Indifferenz g allen Dingen des Glaubens gegenüber hinteriäßt jedoch tiefe Spuren. Ihre .Dichter Camus und Sartre sehen die Existenz des Menschen in der Fatalität eines Lebens, das keine Erlösung auf weist und lediglich die Maxime einer oberflächlichen Humanität kennt. Gott ist nach ihnen schon lange gestorben.

Aus der provinziellen wie organisatorischen Enge hervcrgetreten, stellt die Kirche fest, daß fast alle Franzosen getauft, aber nach sehr kühnen und optimistischen Berichten 20 Prozent ihre Religion praktizieren. In Wirklichkeit hält diese Angabe der Überprüfung kaum stand, und die Soziologen der Religiosität begnügen sich mit Zahlen, die um 12 bis 15 Prozent liegen. Darum entwickelte die Kirche Frankreichs einen Missionswillen, der zutiefst die jungen Geistlichen und Teile der Bischöfe erfüllt.

Das Konzil bricht an

In den wenigsten katholischen Staaten wurde die Eröffnung des Konzils mit solcher Freude begrüßt wie in einem Land, in dem der Wunsch nach Erneuerung durch schwere geistige Auseinandersetzungen und die Erschütterung des Krieges ein Phänomen förderte: die Bestätigung des Laien, der, bewußt seiner Aufgabe, gleichberechtigt neben den Kleriker tritt. Er verlangt, mündig erklärt zu werden, und will seiner von Gott gegebenen Funktion nachkommen. Die Hierarchie erkannte die Tatsache, daß allein der Laie den Kontakt mit einer feindlichen Umwelt auinimmt und den modernen Atheismus in seinen Erscheinungsformen empfindet. In den Werkstätten und Büros, in Theater- und Lichtspielhäusern, verstärkt eine junge Generation ihre Skepsis. Das Gleichgewicht des internationalen Schreckens erwächst zur Selbstverständlichkeit, und unter einer Woge kommerzialisierter Sexualität verschwinden die bisherigen Moralbegriffe, werden die Familien erschüttert, und diese unguten Praktiken verhindern jeden Dialog, der eine echte geistige Auseinandersetzung gestattet.

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