6613077-1955_13_10.jpg
Digital In Arbeit

Passionsspielsorgen in Tirol

Werbung
Werbung
Werbung

Vor etlichen Monaten wurde verlautbart, daß Tirol nach rund 20j ähriger Unterbrechung im Sommer 1955 wieder mit einem Passionsspiel hervortrete. Dazu war zu lesen: Besitze Salzburg sein Mozarteum, seine Festspiele und seine Großglocknerstraße, erfreue sich Bregenz seines Bodenseeproszeniums bei Sonnenuntergang und seiner Dornbirner Textilmesse als blinkendem Hintergrund, so besinne Tirol sich eben wieder auf seine Passionsspiele, die das Land im Mittelalter und im Barock herausgehoben hatten. So arg diese Vergleiche hinken und so schlecht sie aufeinander abgestimmt sind, so rufen sie doch ins Bewußtsein, daß Tirol eine eigene, ausgeprägte Volkskultur, vor allem ein reiches Volksschauspielleben besaß und teilweise noch heute besitzt, mit denen es sich auch vor einer weiteren Welt sehen lassen darf.

Es ist nun 45 Jahre her, daß die erste Bauernsiedlung am Eingang ins Gebirge nördlich Kufsteins, das Tiroler Grenzdorf Erl, gedrängt wurde, mit seinem Passionsbrauch aus der engsten ländlichen Umgebung herauszutreten. Das bedeutete ein großes Wagnis und eine schwere Aufgabe für das abseits gelegene Dorf. Land und Staat kümmerten sich nicht darum. Hätte es nicht etliche Freunde gewonnen, denen an der Sache lag, das Unterfangen hätte die Hofbesitzer in eine wirtschaftliche Katastrophe gerissen und den Passionsspielbrauch endgültig abgetan. Dank seiner Lage und Grenzerschicksale war Erl seit 450 Jahren so gut wie ganz auf sich selbst angewiesen, ja wiederholt deren Opfer geworden. Das Hilf-dir-selbst-Gebot erhielt dem Dorfe in Arbeit und Kirche, in Brauch und Spiel eine ungewöhnliche Einheit und kleine Macht. Die älteste Spieltenne, welche auf deutschsprachigem Boden steht, blieb bis heute in Erl. Ihr jahrhundertealtes Gemälde führt als Jahrzahl 1572 an. Das Passionsspiel selbst wuchs aus einer größeren Heilig-Grab-Andacht heraus, zu der das Auftreten der Pest von 1611, der Vorstoß der Schweden im Dreißigjährigen

Kriege und schließlich ein Pfarrgelöbnis die Volksliturgie diktierten. Daß die Spiellust der Erler dabei sich durchsetzte, daß Kirche und Gemeinde an den sehr bescheidenen Erträgnissen zehrten, sei nicht übergangen. Als die Erler vor 60 Jahren endlich selbst eine Brücke über den Inn nach Bayern schlugen, wuchs der Besuch, vorab aus oberbayrischen Dörfern, sprunghaft an, daß die Behörden mehrmaliges Spielen am selben Tage nicht länger duldeten. Die Erler fanden sich bereit, einen doppelt so großen Holzbau als die letzte Spieltenne zu errichten. Schließlich mußten aber doch Erfahrenere herangezogen werden und die Hofbesitzer statt für veranschlagte 30.000 Kronen für 150.000 haften. Weit mehr plagten sich noch die 300 Beteiligten mit Robotarbeiten, Proben und Sitzungen ab, um sich und ihr Spiel im Größeren einzuleben. Ihr dörflicher Anführer war der Judasdarsteller, über dessen typisches Wirken 1948 ein Büchlein „Der Judas von Erl“ in Innsbruck erschien.

Ein sprechender Mittler zwischen Passionsspieler und Spielbesucher wurde das bekannte Plakat nach dem Gemälde „Die Wallfahrer“ von Egger-Lienz. Die Verknüpfung Erls mit A 11 ö 11 i n g tat ein weiteres. Aber die letzte Lösung dieses Problems konnte Erl allein nicht bewerkstelligen. Verträge mit ausländischen Reisebüros stoßen nicht auf die entsprechende Gesinnungsgemeinschaft vor. Etwas half 1922 der Deutsche Bühnenvolksbund aus. Heute wird man von einer Aufgabe der angewandten Volkskunde, der Volksbildung, des Katholischen Bildungswerkes usw. reden.

Im Umbruchjahre 1933 wurde das Erler Spielhaus mitsamt seiner Garderobe, seiner Orgel und seinem Archiv ein Raub der Flammen. Es ist noch nicht aufgebaut worden. Die Katastrophe lastet schwer auf Erl. Aus eigenem wird es sich allein kaum aufrichten. Dazu hat sich hier seit 45 Jahren manches geändert. Der Arbeit ist auf jedem Hofe mehr geworden. Ueberau fehlt es aber an Arbeitskräften. Es gibt nun manchen anderen Beruf und Verdienst im Dorfe. War damals der Bauer der herrschende Stand und Zustand schlechthin, so sieht er heute etliche andere, zugreifendere neben sich.

Gibt nun der Bauernstand jene Kultur, die er vor 350 Jahren vom Bürgertum übernommen hat, nicht nur das Passionsspiel, an den Arbeiter oder an eine, mehr städtische und ge-sinnungsgestähltere Jugend ab? Arbeitet eine solche eine einmütigere Linie, einen geschlosseneren Stil, ein zeitgerechteres Werk aus dem Primitiven heraus? An derartigen Vorstößen gab es in den letzten Jahrzehnten in Tirol etliche. Das arbeiterreiche Spieldorf A x a m s bei Innsbruck, Karl Schönnens Geburtsheimat, griff mit verstärktem Eifer sein seit 1683 übliches Spiel von dem Patriarchen Jakob und dessen Söhne auf und wurde dazu noch durch die Drucklegung seines Spieltextes von 1677/78 seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Das sogenannte „Stubaier Bauerntheater“ im Schmiededorf F u 1 p m e s, das auf eine ähnlich bedeutsame Spielgeschichte seiner Vorfahren zurückschauen kann, unternahm es, die für Salzburg gedichtete „Erlösung“ von Rudolf H e n z auf seine Bühne zu bringen. Josef Außerhofers „Bettelmann“ erlebte seine Erfolge vor den Kirchen in S c h w a z und Melk. Jenes Osterspiel, das in einer Abschrift von 1391 aus der Chorherren-propstei Neustift bei Brixen überliefert ist, fand in Innsbruck zu Ostern 1953 und 1954 eine eindrucksvolle Urständ. Noch an anderen Versuchen fehlt es im Lande nicht. Das Krippendorf I n z i n g besinnt sich wieder auf sein entsprechendes Spiel. Die älteste Christensiedlung Lavant bei Lienz vertieft sich mit F. Wibmer-Pedits „Opfer“ auf seinem Kirchbühel in sein Mirakelbuch. Jedes will der alten Mysterienkultur neuen Ackerboden bereiten. Daneben leben in mancher Dorfkirche alte Leiden-Christi-Gesänge und in etlichen Jahreszeitenspielen Duetts von Adam und Eva, Kain und Abel und ähnliche kleine Auftritte im Volke fort.

Nun stellten Land und Bund größere Mittel bereit, um die Passionsspielc in Thiersee, nordwestlich von Kufstein, wieder würdig erstehen zu lassen. Dort ragt das nach dem ersten Weltkrieg neuerbaute Spielhaus noch hervor. Es ist zu erwarten und zu wünschen, daß die Thierseer mit ebensoviel Eifer und Opfersinn aus der bisherigen Unsicherheit in ihre neuen großen Spielaufgaben hineinwachsen wie ihre Urgroßväter von 1799 aus Kriegsnot in ihr Spielversprechen. Dadurch vermöchten sie Ausschlag zu geben und auch dem viel älteren, besinnlicheren und abgeschlosseneren Erl Wege erleichtern. Ueber Erls Arbeitskultur liegt jetzt eine eigene Schrift vor, die beider Sache gilt; denn wahrscheinlich wird Thiersee im Sommer 1955 entscheiden, inwieweit Tiroler Landvolk die Passionsspiele weiterführt und ob sich für diese nochmals eine Epoche im Sinne der „Wallfahrer“ bewährt.

Im Jahre 1840 hatte J. v. Gör res (und nach ihm . Emil D e v r i e n t) Oberammergau fijr die große-Welt „entdeckt“. Zehn Jahre darauf stieß Ludwig Staub auf Erl, 1865 Ferdinand Gregorovius auf Thiersee. Diese Kulturvörkämpfer sahen im „Naturhaften, Gesunden, Echten“ der Dorfpassionen freilich mehr ein Auffrischungsmittel für ihre überzivilisierte Stadtweit. Die anderen Passionsspiele, vorab innerösterreichische, lagen weitab von den Verkehrsländern und von besonderen Nährböden darstellerischer Volkskultur, so daß sie von Peter Rosegger unter anderem zu spät für eine weiterreichende Beachtung aufgesucht wurden, da sich ihre fortgestältenden Kräfte so gut wie erschöpft hatten. Ihre Eindrücke weckten jedoch des Dichters Max Meli Meisterschaft im volksnahen Mirakelspiel. Der aufrüttelnde Wind kam überhaupt aus den stärkeren städtischen Gesinnungsgemeinschaften, der Laienspielbewegung und ihrer höheren, neustrebigen Dichtkunst. Der „Erlösung“ von R. Henz wurde schon gedacht. Der Begründer des „Steirischen Kulturwerkes“, B. H. W i t h a 1 m, lieferte Berufskünstlern und Spielscharen seinen „Jesus von Nazareth“; er bezog darin die Gralssage ein. Für das Freilichtspiel von Laa an der Thaya schuf der Regisseur R. Pfeiffer darnach sein Passionsspiel. Er trat damit auch in Wien hervor. „Das Spiel vom Leben und Sterben Jesu Christi“ des Dichters G. R e n d I weicht gleichfalls von den nachbarocken Volksschauspielüberlieferungen Oesterreichs geflissentlich ab, ebenso das Weihespiel „Erlösung“ des Wiener Dichters A. M. Schauhuber, „Pilatus“ von Franz Theodor Csokor u. a. m. H. Naderer näherte sich mit „Der werfe den ersten Stein“ wieder ältesten Formen. Tirolischen Volkstraditionen verpflichtet blieb J. N e u m a i r mit seinem Wiener und Kirchschlager Passionsspiel. An neuesten religiösen Anrufen ist das von der Stadt Innsbruck ausgezeichnete, fraulich inbrünstige Dichtwerk „Passio mystica“ von Gertrud Theiner-Haffner (Innsbruck 1954) fast zu reich, als daß es eine auch noch so filmische Gestaltung im herkömmlichen Rahmen der Mysterien- und Laienspiele ermöglichte.

Diese und andere Dichtungen wurden zur Wiederaufrichtung der Tiroler Spiele in Betracht gezogen, jedoch nicht verwertet. Thiersee hielt an der klassizistischen Christusdichtung des Erzabtes Dr. Jakob Reimer von St. Peter, Salzburg, fest, die dieser als Doctor philosophiae sub auspieiis imperatoris vor 40 Jahren geschaffen hatte. Die Christusrolle übernahm der junge Sohn des berühmten Thierseer Christusdarstellers K a i n d I. Auf ausgefahrenen Geleisen also will sich das Thierseer Passionsspiel 1955 nicht bewegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung