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Passionsspiele in Thiersee

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Pfingsten war ein alter Merktag in der Geschichte tirolischer Mysterienspiele. An diesem Tage pflegte man nämlich schon im ausgehenden Mittelalter und erst recht im 17. und 18. Jahrhundert das Besinnungsspiel des Jahres im eigenen Tale zu eröffnen. Freilich wurden diese Spiele niemals öfter als zwei- oder dreimal aufgeführt, während sie jetzt, losgelöst vom alten Besinnungstag, auf alle Sonn- und Feiertage bis in den September hinein ausgedehnt werden.

T b i e r s e e, als Idyll im nordwestlichen Alpen-tälchen bei Kufstein gelegen, eröffnete am jüngsten Pfingstsonntag nach achtzehnjähriger Unterbrechung wieder seine 150 Jahre alten Leiden-Christi-Spiele. Noch im Besitze seines Spielhauses,. wurde es vor dem gegenüberliegenden Erl, das auf eine viel ältere Spielüberlieferung im Tal und Volk zurückblickt, durch Land und Bund bevorzugt. (Vgl. die „Furche“ vom 26. März 1955, S. 6.) Eine kleine Schrift, „E r 1. Arbeit und Bra u ch“, des Universitätsverlags Wagner in Innsbruck erinnert an die dreieinhalb Jahrhunderte,alte Tradition Tirols und nimmt überhaupt zur Lebensfrage der ländlichen Passionsspiele Stellung. Die lange Unterbrechung hatte nämlich die besonderen Schwierigkeiten, mit denen das dörfliche Volksschauspiel in seiner Daseinsberechtigung zu kämpfen hat, unter dem 1 Mäzenatentum der öffentlichen Hand verschärft und die Spielgemeinde noch mehr zwischen Treue zur Tradition und Weltgeschäftigkeit eines modernen Sommerfestspiels, zwischen eigene und amtliche Initiative gezwängt. Daher standen die ersten Entschlüsse und Vorbereitungen nicht gerade unter den Richtungssternen. Schließlich übte das Gemeinschaftswerk doch wieder guten Druck aus und bezwang in letzter Minute die technischen Schwierigkeiten nach Möglichkeit. Thiersee hat dank seines Könnens, besonders im ersten Teil, dem Passions-spiel in Tirol nochmals zum Durchbruch verholten.

Voran stehen die spielerischen Fähigkeiten und Einzelleistungen der Thierseer. Sie leben noch von der anmutigen Landschaft absinkender Hochgebirgslandschaft, der ländlichen Betätigung der fast 200 Mitwirkenden mit ihrem unmittelbarerem Einfühlen in das biblische Geschehen und vom familiären Erbe. In den 150 Jahren des gefestigten Spielbestandes waren es vornehmlich Bauern- und Handwerkerfamilien gewesen, die Mayerhofer und Juffinger, die Atzl und K a i n d I, die das Rückgrat der im Thierseetal verstreuten Spielgesellschaft bildeten und die bäuerlichen Ueberlieferungen festigten. Aus ihnen gingen mehrere geschickte Anführer und Textbearbeiter hervor. Diesmal fehlte freilich diese ausgleichende bodenständige Mittelschicht der Bewährten. Fast alle Hauptspieler sind neu und jung, Söhne und Töchter der besten Kräfte vom letztenmal in neuen Berufen. In Betriebs- und Spielleitung und im Technischen schalteten Kräfte, die nicht von Haus aus mit dem Wesen oder den Ueberlieferungen eines tirolischen Passionsspiels erstarkt waren. Thiersee selbst muß sich erst wieder ganz zurechtfinden, zueinander-wachsen, wenn es jenes abgeklärte innere und äußere Zusammenspiel nochmals erringen will, das seine Vorstellungen vor 20 Jahren herausgehoben hatte und in dem Buche „Thierseer Passionsspiele 1799 bis 1935“ gerühmt ist. Ob dieses Ziel von heute aber noch ersehnt wird, ob die Thierseer sich in ihren 1799 verlobten Brauch noch derart hineinknien können oder ob die Entscheidung für ihr und sonstiges geistliches und ländliches Volksschauspiel doch mehr aus ihren jetzigen Verhältnissen, aus der Unruhe unserer Zeit bestimmt wird? Gibt es schon wieder eine einheitliche religiöse und künstlerische Vorstellung von Christus und seiner Erlösung in der Spielgemeinde und hei ihren Besuchern? Obige Schrift über Erl und das Passionsspielen im Lande sucht für den kostbarsten Volksbrauch Tirols neues und tieferes Verständnis, zeitgerechtere Berechtigung in den Spielorten und in ihrer Besucherwelt zu wecken und ihr die Gegenwart zu festigen.

Das Spielhaus“ am See, das vierte in der Geschichte Thiersees, 1927 von eigenen Zimmerleuten geschmackvoll erbaut, hatte in den Kriegszeiten und als Filmatelier seine Ausstattung und Garderobe von 1937 eingebüßt; sie wurden mit Hilfe der Bundes- und Landesmittel erneuert und das Theatertechnische der geschlossenen Holzhalle, vorab der Beleuchtungsanlagen, weit vorangetrieben, die Landschaftsmöglichkeiten nicht miteinbezogen.

Wie in den letzten Spielsaisonen vor dein Kriege wird zunächst eine hl. Messe auf der Vorbühne gelesen. Einer gemeinschaftlichen Lieberführung vom Gottesdienst zum geistlichen Spiel durch liturgischen Richtspruch und Gesang steht schon der klassizistische Weihecharakter der C h r i s t k ö n i g.s-d i c h t u n g von Erzabt Dr. Jakob Reimer von St. Peter, Salzburg, mit seinen antikisierenden Chören, nicht aber Vinzenz Göll er s starke musikalische Interpretation entgegen. Vor 40 Jahren aus Bearbeitungsversuchen des früheren Spieltextes selbständig geworden, suchte die Dichtung schon damals, aus der herkömmlichen Stilart ländlicher Passionsspieltexte in eine oberstufige, zeitwahrere Geistigkeit und in eine überdörfliche Festspielform überzuführen. Sie entspricht nicht erst heutiger Geistigkeit oder modernem Bühnenspiel. Ihre Getragenheit bietet manchem1 Laienspieler immerhin noch Gelegenheit, sich breit auszugeben und die Gegensätze zwischen Pharisäern und Sadduzäern als Volksauftritte . nachzuleben. Unsere drängende Zeit hat die Reimersche Dichtung neuerdings beschnitten. Dadurch ist sie nicht volksmäßiger oder zeitnäher geworden. So. tritt schon das pathetische Wort der Thierseer als ein gemeinhin ringendes unter ciie ringenden Geister unserer Zeit, um aufzurichten, die noch zerrisseneren Herzens sind, nicht als letztfester Pol oder als künstlerische Vollendung in unserer aufgewühlten Zeit. In die Beschaulichkeit eines anmutigen Bergtales, das ins Vorland mündet, drängt sich für etliche Sonntagsstunden eine hastige Welt, um auch des Erhabenen der Schöpfung und in ihr der gerade noch hier verkörperten Macht der Erlösung irgendwie teilhaftig zu werden, also nicht in ein selbstmächtiges Oberammergau der Weltreisebüros, aber auch nicht zu einer Wallfahrt zum Kreuz an der Grenze des Alltags, wie sie Albin Egger-Lienz vor 45 Jahren dem besinnlicheren Erl vorgezeichnet hatte.

Die Aufnahme der Thierseer Eröffnungsvorstellung in Anwesenheit des österreichischen Unterrichtsministers, Dr. D r i m m e 1, des Landeskulturreferenten, Hofrat Dr. G a m p e r, usw. läßt jeden Erfolg ihrer weiteren Aufführungen erwarten, daß er die- Thi?r-seer noch besinnlicher und ihre Gönner und Besucher noch bedachter macht: Es geht hier doch um mehr als um ein Sommerfestspiel des Fremdenverkehrs, nämlich um den ansehnlichsten religiösen Vclksbrauch Tirols und um eine Gesamtleistung seiner/ Volkskultur, die, wie wir selbst, nach ' zwei Weltkriegen im Umbruch steht und in ein bedachtsamere Zukunft übergeleitet zu werden verdient.

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