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Heiliges Spektakel

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Hunderttausende in Dorf und Stadt Helen der Pest zum Opfer. Sie ist eines der großen europäischen Traumata. In maßloser Angst beschworen die Menschen Gott, machten Gelübde auf Zeit oder gar Ewigkeit, zum Dank für gnädige Errettung die Geschichte vom Leiden und Sterben des Herrn darzustellen - einmal, öfter, jährlich oder nur alle zehn Jahre - wie hier in Oberammergau, wo 1633 in drei Wochen 84 Einwohner des kleinen Dorfes starben. Die Seuche versiegte, und bereitsl634 war das erste Spieljahr, wurde mit der Erfüllung der heiligen Pflicht begonnen. Wie alle zehn Jahre, wird 1980 das Passionsspiel abgehalten. Die Generalprobe fand heuer statt.

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Hunderttausende in Dorf und Stadt Helen der Pest zum Opfer. Sie ist eines der großen europäischen Traumata. In maßloser Angst beschworen die Menschen Gott, machten Gelübde auf Zeit oder gar Ewigkeit, zum Dank für gnädige Errettung die Geschichte vom Leiden und Sterben des Herrn darzustellen - einmal, öfter, jährlich oder nur alle zehn Jahre - wie hier in Oberammergau, wo 1633 in drei Wochen 84 Einwohner des kleinen Dorfes starben. Die Seuche versiegte, und bereitsl634 war das erste Spieljahr, wurde mit der Erfüllung der heiligen Pflicht begonnen. Wie alle zehn Jahre, wird 1980 das Passionsspiel abgehalten. Die Generalprobe fand heuer statt.

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Im ältesten vorhandenen Spielbuch vom 15. Mai 1674 ist vermerkt, daß man für die „zusechenden Personen“ Sitze gemacht habe, und von einem Spieijahr zum anderen - seit 1680 im Zehrijahresturnus - fanden mehr Aufführungen statt, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten. Damals benutzte man einen Text, dem keine einheitliche Neudichtung zugrunde lag, und der Verse aus älteren Passionsspielen und verschiedenen Quellen enthielt, deren eine das Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra war. Seit 1830 berichteten auch Zeitungen über das Ereignis, das sich ausschließlich in Oberammergau regelmäßig bis zum heutigen Tag erhalten hat. Nur 1770 war es dem bayrischen Klerus gelungen, beim Kurfürsten Maximilian von Bayern ein Spielverbot zu erwirken. Die Geistlichkeit fand, „daß das größte Geheimnis unserer heiligen Religion einmal nicht auf die Schaubühne gehöre“ und witterte zusätzlich merkantile Interessen der Dorfbewohner.

Die Schaulust bäuerischen Barocks hatte zwischen die Leidensstationen ganze Scharen von Teufeln, Dämonen und Possenreißern eingefügt, und es gibt Klagen über die leeren Kirchen und vollen Wirtshäuser, in denen anschließend bis in die Nacht hinein Saufgelagb statifartden. Aber bis 1770 haben es die Afnmergauer iinmer wieder verstanden, das allgemeine Verbot zu umgehen und S pielgenehmigungen zu erwirken. Anläßlich einer neuen drohenden Verbotskrise gelang es dem Ettaler Pater Othmar Weis, die Münchner Zensoren mit der Vorlage eines neuen Prosatextes zu überlisten. Die Neugier bewog offenbar die strengen Kleriker, nach einem Verbot .von 1810 ausnahmsweise für 1811 die „mis- sio canonica“ zu erteilen.

In den folgenden Jahren überarbeitete Pater Othmar den Text, zu dem ihm ein Oberammergauer Lehrer, Rochus Dedler, eine heiter-naive, zeitentsprechende Musik schrieb. Wie diese geklungen haben mag, kann man sich beim Lesen einer Rechnung über Instrumentenreparatur ausmalen. Der Schlosser Franz Deng notierte: „ein Horn zusammengelöth… zwei Schraufen und eine Mutter gestaucht … ein neue Schellenbaum löthen zum ölberg…“ Auch ging es im Spiel recht munter zu: Für den .Abschied von Bethanien“ liest man in der Rechnung an den Gemeinderat über „Kosten der Martha“, die Christus und die Jünger auf der Bühne bewirtete: 12 Pfund Schmalz, 14 Maß Mehl, um 48 Kr. Eir, 3/4 Pfund Zucker, 6 Maß Milch, 22 Maß Bier, 11 Pfund Semmel… An jedem Spill 5 Genius und 7 Mädchen die Haar aufbrennt …“ Dennoch eine harmlose Liste im Vergleich zum heutigen Aufwand im Showgeschäft.

Für die Oberammergauer ist das Spiel mehr als nur die Erfüllung eines Gelübdes, das sie jeweils zwei Jahre vor den Aufführungen feierlich erneuern. Natürlich brauchen sie auch das Geld, das alle Dezennien in ihre Gemeindekassen fließt. Trotzdem haben sie sowohl der Verlockung, einen fünfjährigen Zyklus einzurichten, widerstanden, als auch (bis heute) den Angeboten von Film und Fernsehen, die ihnen Millionen einbringen würden. Als Kinder beginnen sie bereits mit den Hosianna-Rufen beim Einzug in Jerusalem, über Volk und Jünger wachsen sie in die verpflichtenden Hauptrollen hinein, als Spielleiter oder im Gemeinderat trifft man die ältesten Schauspieler, und wer nicht aktiv mitwirkt, hat doch zumindest als Schneidermeister, Bühnenbildner oder Techniker Anteil am Gesamterfolg.

Politische Wahlen erregen die Oberammergauer kaum - wohl aber die Wahl ihrer etwa hundert im Textbuch vorgeschriebenen Rollenvertreter. Uber die Besetzung verfügt das Passionsspielkomitee, das sich aus 16 Gemeinderäten, Bürgermeister, Pfarrer, Spielleiter und 6 weiteren Männern, die in einem Gemeindevotum bestimmt worden sind, zusammensetzt. Traditionsgemäß dürfen nur Laien nominiert werden. Dazu soll man noch im Ort geboren und als Frau nicht älter als 35 Jahre und unverheiratet sein. Bei Männern gelten keine so strengeh Maßstäbe. Auch haben Zugezogene nach 20 Jahren ununterbrochenen Aufenthalts Anspruch auf Teilnahme. Die rund 800 Protestanten der Gemeinde dürfen mitwirken, aber keine Hauptrollen übernehmen. Als nach - dem Krieg ein gewaltiger Flüchtlingsstrom von Schlesiern, Ostpreußen und Sachsen Oberammergaus Bürgerschaft von 3000 auf über 5000 vermehrte, entschloß man sich zu Toleranz: Schon 1950 und 1960 durften Flüchtlingskinder „Heil Dir! O Davids

Sohn!“ rufen, und nach 20 Jahren hatten sie sich sogar die Anwartschaft auf eine Hauptrolle „erwohnt“.

Um die passionslosen Jahre finanziell zu überbrücken und gleichzeitig den Nachwuchs’ zu schulen, führte Pfarrer Daisenberger, der 1860 eine neue Prosafassung entwarf, Übungsspiele ein. Er schrieb dafür 1873 „Die Gründung des Klosters Ettal“ und für 1874 „Elisabeth, Landgräfm von Thüringen“. Nach 1933 ging es zeitweise markig und weltlich zu. Leo Weismantel schrieb „Die Pestnot“; aber auch „Die jungen Ritter von Sempach“, das „Apostelspiel“ von Max Mell und sogar „Wilhelm Teil“, „Lügen um ein Kuckucksei“ von Semikowitsch, „Der G’wissenswurm“ (Anzengruber) und „Das Schlachtfest“ (Hinrich) mußten als „Übungsspiele“ herhalten. Der Kassenerfolg durch die Touristen rechtfertigte zumindest finanziell die Wahl des Sammelsuriums. Neben den Übungsspielen führte Anton Preisin- ger, Christus-Darsteller von 1950 und 1960 und späterer Spielleiter, auch Lese- und Sprechproben ein. Schillers „Kabale und Liebe“ bot zukünftigen Marien dankbare Aufgaben, und Christus übte sich vorläufig noch als Frei- heitsheld im „Wilhelm Teil“.

Stärker als die Besetzung bewegt jedoch seit Jahrzehnten die Textfassung die Gemüter. Seit 1860 wurde - mit geringen Veränderungen - jene des Pfarrers Josef Alois Daisenberger gespielt, die er in Anlehnung an Pater Othmar Weis (1815) in Prosa geschrieben hatte. Sie erscheint uns heute schwülstig und gekünstelt und wirkt vor allem durch zahllose „Achs“ „Ohs“ ungemein banal. „Ach, bester Meister..und „Oh, ich schwacher, elender Mensch“, ruft Petrus da aus, und Maria Magdalena fleht: „Oh, möge der Herr das Herz des Statthalters zur Gerechtigkeit lenken“, während die Mutter Gottes fragen muß: „O Freunde, wo gehen wir hin, daß ich meinen Sohn noch einmal sehe? Ich muß ihn sehen! Aber wo finde ich ihn? Vielleicht schmachtet er im tiefsten Kerker!“ Erst auf massiven Druck hin entschlossen sich die Gemeindeväter jedoch zu Textüberarbeitungen. Vor allem nach den Boykottdrohungen aus den USA wegen gewisser antisemitischer Tendenzen des Textes. In der Tat, der Daisenbergersche Text malt kraß schwarzweiß und rechtfertigt insofern den Vorwurf, als er die bösen Juden sehr böse und die guten zu gut zeichnet, und wo er sie namentlich als Juden anspricht, in ihnen eindeutig die Feinde Christi sieht. Vor allem aber werden die Mitglieder des Hohen Rates, die von Püatus das Todesurteü erzwingen wollen, durch unnatürlichen Haß und Neid verzeichnet. Menschlicher Unzulänglichkeit gewährt Daisenberger keinen Raum.

So hat man sich jetzt entschlossen, auf die gereimte Textfassung des Ettaler Benediktinerpaters Ferdinand Rosner von 1750 zurückzugreifen. Hier wird differenzierter und menschlicher gezeichnet, auch die Feinde

Christi handeln und sprechen verständlicher. Absolut böse ist nur der Teufel mit seinen allegorischen Helfern Sünde, Geiz, Neid, Tod und Verzweiflung, die in üppigen barocken Zwischenspielen personifiziert auftre- ten. Der krasse Bühnennaturalismus wird abstrahiert. Wenn Judas sich erhängt, schwebt er zwar noch beänsti- gend lange am Ast des Höllenbaumes, aber es werden ihm nicht mehr - wie vor 200 Jahren - die Gedärme in Form von Würsten aus den Oberammergauer Metzgereien aus dem Leib gerissen und von Teufeln aufgefressen. Noch ein wesentlicher Unterschied: Das Spiel beginnt nicht mehr morgens und dauert bis zum späten Nachmittag, sondern startet um 16 Uhr. Mit einer zweistündigen Pause schließt es um 23.30 Uhr.

Bewundernswert die enorme physische Leistung der meist hervorragenden Laiendarsteller. Die leidenschaftliche Hingabe an das Werk und der große Ernst aller an seinem Gelingen Beteiligten nötigt tiefe Achtung ab. 620 Oberammergauer stehen auf der offenen, akustisch unzulänglichen Bühne, dem oft genug schlechten Wetter und lästigen Insekten preisgegeben. Eine Verstärkeranlage ist unerläßlich, trotz großer Sprechdisziplin der allein 90 Hauptrollenträger könnten sonst die wenigsten der 5000 Zuschauer den Text auch nur annähernd verstehen. Das Programmheft nennt die Darsteller nicht namentlich. Die wichtigsten Rollen liegen in den Händen der Fami- lie Jablonka.

Trotz geschlossener Inszenierung des Holzschnitzers und Spielleiters Hans Schwaighofer hat das Drama Schwächen: Der Einzug in Jerusalem ist in der Rosner-Fassung eine matte Pantonime, historisch fehlplaciert die Austreibung der Kaufleute aus dem Tempel, und kunstgewerblich-kitschig mutet die Auferstehungsapotheose an, die das Spiel um etwa eine Stunde zu lang erscheinen läßt. Aber diese Einwände machen die hervorragenden Tableaux des Alten Testamentes, ölberg, Gefangennahme und vor allem die Kreuzigung, verstärkt durch saubere, kräftige Chöre (Prof. Nande- rer) auf einer kunstvoll-primitiven Bühne, die ein kleines Wunderwerk des jungen Bühnenmeisters Rudi Killer ist, vergessen.

Oberammergau hat diese Generalprobe für das Passionsspiel 1980 glänzend bestanden.

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