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Volkskultur bleibt nicht stehen

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Hemschaftsbesitzer des Vinsehgaus und Burggrafenamtes erwarben um 1140 auch die Herrschaft über das ober Meran sich ausdehnende, Dorf Tirol und dessen Burg, nach der sie sich als Grafen von Tirol nunmehr bezeichneten. Als Lehensträger und Schutzherren (Vögte) der geistlichen Fürstentümer Trient und Brixen befestigten sie noch weiter ihre Macht. Durch Erbverträge mit den Grafen von Eppan im Überetsch, von Andechs im Inntal und von Görz im Pustertal sicherten sie sich die an- rainenden Länder. Der görzische Herzog Meinhard II. von Tirol ebnete die erste Epoche der volkskulturellen Vereinheitlichung im Lande. Nur handschriftliche Bruch- stüake aus dem Schlosse Tirol und der später errichteten landesfürstlichen Residenz in Meran, die auf eine eigene Volkskultur in dem in sich geschlossenen Herrschaftsbereich hinweisen, haben sich erhalten. Die Erben von 1363, drei Habsburger Brüder, Rudolf, Albrecht und Leopold, Enkel jener Elisabeth von Tirol, die mit dem ersten Habsbur- ger-König Rudolf vermählt gewesen war, rundeten die Grafschaft Tirol zu einem kulturpolitischen Bollwerk der Ostaipen ab. Mit dem zwei Jahrhunderte hinaus ergiebigen Erz- und Silberbergbau sicherte dieses Tirol auch das finanzielle Rückgrat der Kaiser, so daß Maximilian I. Innsbruck als seine Residenz bevorzugte und dem Land Rang und Wappen gleich denen der großen Reichsfürstentümer gleichgestellt wissen wollte.

Unter Maximilian I. fiel der Anteil der einen Görzer Grafenliniie von der obersten Drau über Innichen hinaus diesem Tirol zu. Dessen heutige staatliche Bezeichnung „Osttirol" deckt sich nicht ganz mit der Stammesbesiedlung von der Tob- lacher Höhe an, wie sie sich noch in der Mundart kundtut, und trennt nur verwaltungsgemäß das kämtne- rische M lli l yon dieseiyi Tirol ab.; rioch viel weniger werden die alten Kirchenprovinzen Aquileja und Salzburg zumeist in der Entfaltung der Volkskultur berücksichtigt, die in das Volksleben gebend und nehmend miteingriffen. Nicht minder bedeutungsvoll verstärkte Tirol die Erwerbung der oberbayerischen Herrschaften Rattenberg, Kufstein und Kitzbühel unter Maximilian I. Was damals als alte und neue literarische Leistungen am höchsten erhaltungswürdig eingeschätzt wurde, das brachten zusammen oder ließen aufzeichnen Maximilian I. und sein Urenkel, Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, für die Innsbrucker Hof bücherei und für die Ambraser Sammlungen. In einem Vortrag der internationalen Tagung für Biblio- theksgeschichte in Cesena habe ich das Nähere ausgeführt. Das notarielle Verzeichnis der Ambraser Bücherei von 1592 in den Druck zu bringen, mit den späteren Katalogen der Ambraser Bibliothek zu vergleichen und sonstige tirolische Bibliotheksverzeichnisse, so dem Band der Herren von Wolkenstein auf Schloß Rodenegg bei Brueck oder dem Bändchen der Zisterzienser des Stiftes Stams im Oberinntal, vorzuführen, untersagte mir der fast vollständige Verlust des Augenlichts (s. Zentralblatt für Bibliothekswesen 1955, S. 283 ff.). Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck führt diesen Sommer in einer Großausstellung ein Zehntel jener Ambraser Bücher aus der österreichischen Nationalbtbliothek in Wien der Öffentlichkeit vor. Andere Ambraser Werke stehen in München und so weiter. Den einzigartigen Grundstock bilden die Leistungen und Aufzeichnungen aus dem Spätmittelalter und Maximilians I. in Tirol.

Die Passionsspiele

Diesen etlichen 1000 handgeschriebenen oder gedruckten Bänden tirolischen Inhalts oder tirolischer Herkunft des 15. und 16. Jahrhunderts stehen in den heutigen öffentlichen Bibliotheken, so in Innsbruck, Brixen, Bozen, Trient und Rovereto, aber auch in München, Salzburg, Wien usw. Zehntausende, ja ein Halfohunderttausend Bücher desselben Bereichs und Ursprungs aus den folgenden Jahrhunderten gegenüber, so daß die Vorstellung vom schöpferischen Tirol und der Kultur seines Volkes die alte Vorstellung vom Land der Bauern und Landarbeiter wesentlich mit Hilfe der alpinen Volkspsychologie vertieft wird, wie gerade die neueren und neuesten Ausgaben der Sagen und Legenden, der Lieder, Sfchäubräüche und Schauspiele, der Sprüche, Rechtsaltertümer und Weistümer des Tiroler Volkes der weiteren Welt kund tun und in den Neuausgaben der Konversationslexika, Nachschlagwerke und der modernen Massenmedien geradezu auffallen. Hiervon überzeugt uns die jüngste Enzyklopädie, welche die Universität der Katholiken Nordamerikas in Washington ausarbeitet und in ungefähr 15 Bänden wieder herausbringt. Schon bei der früheren Ausgabe hatten einzelne Tiroler mit- aushelfen müssen, so der Kunst- und Kulturschriftsteller Karl Domanig aus Sterzing.

Passionsspiele und Fremdenverkehr

Die Herausgeber dieser englisch verfaßten Auskunftei hoffen, mit der Neubearbeitung des Großwerkes weit über den englischen Sprach- raum hinaus nutzbringend und verbindend zwischen den Nationen und Staaten aufzuklären. Das Kapitel über die Passionsspiele erwies sich als ein deutliches Beispiel, wie weit selbst oberste Bildungsschichten in solchen internationalen Aufklärungen noch von einander entferntstehen. Sowohl die gedruckten Ergebnisse der neueren und neuesten Zeit als auch praktische Einsicht von Spielleitungen führen mehr denn je zu der Erkenntnis unserer Alpen- und Voralpenländer in Stadt und Dorf, daß wir in unseren viel beachteten und nachgeahmten Bassionsspielen Überlieferungen der kirchlichen Liturgie ausweiteten, den Opferkult bis zum Wallfahrts- und Pilgerziel in Notzeiten fortsetzten und als Brauch auch in der Fremdenverkehrszeit festhielten. So in Oberammergau, Erl und Thiersee trotz aller Geschäftseinschaltungen bis auf den heutigen Tag. Die seelisch aufrüttelnde Kraft solcher Pilgerfahrten mittels Bahn öder Autos für die Passionsspiele habe ich selbst als Leiter in Erl 1912 und 1922, damals als „ganz Deutschland lag in Schmach und Schmerz, mit ihm das Land Tirol“ (aus Mosens Andreas- Hofer-Lied) bei den Pilgern und dementsprechend beeindruckt bei den Darstellern erlebt, als zum Beispiel der Bühnenvolksbund solche geschlossene Pilgerfahrten aus Sachsens Arbeiterkreisen veranstaltete. Es lag mir daher nach dem zweiten Weltkrieg, also schon einige Zeit vor dem H. Vatikanischen Konzil, an, ganze Gruppen von anglikanischen Christen zur geschlossenen katholischen Vorstellungswelt der Thierseer Passionsspiele führen zu lassen, was jedoch durch eine nicht ganz zutreffende Zeitungsnachricht eines voreiligen Reporters vereitelt wurde. Die seelische Grundhaltung und der urtümliche Ausdruck der Darsteller sollten weiterhin fortwirken, allen Geschäftssorgen der Unternehmer zum Trotz.

Wie schon der Titel „Lexikon für Theologie und Kirche?’ (Frei- burg Br., 1957 bis 1965) besagt, kann diese Enzyklopädie nur in seinen beschränkten Gebieten als deutschsprachiges Gegenstück zu der genannten amerikanisch-englischen angeführt werden. Der eine der Herausgeber, Karl Rahner, wirkte lange Jiaihre als Dogmatiker an der Innsbrucker Universität. Die Zahl der Mitarbeiter aus Tirol ist beachtlich geblieben. Noch größer ist die indirekte Beachtung in tirolischen Stichwörtern, Daten und Fakten und vor allem in den Problemen des Lebens. Auch eine nur zu klein ausgefallene Geschichtskarte der alten Kirchenprovinz Salzburg liegt dem 9. Band nach Spalte 293 bei. Eine größer durchgeführte soll an anderer Stelle folgen. Die Auflage dieser lexikalischen Neuauflage war schon hoch bemessen, mußte jedoch schon nach Erscheinen der ersten Bände beträchtlich vermehrt werden — ein Gutteil davon ging hinter den Eisernen Vorhang — und stand schließlich vor der Frage, ob diese noch mehr erhöht oder vornehmlich durch sogenannte Konzils- und Registerbände noch erweitert werden, wobei für Tirol nicht etwa bloß die neue Diözesaneinteilung : Innsbruck-Feldkirch, Brixen-Bozen, Trient, näher zu berücksichtigen wären.

Der „Defregger-Kult"

Der Kreis der beruflichen Volkskundler ist seit der Aufklärung beträchtlich angewachsen, vornehmlich in den letzten 100 Jahren. Die Internationale Gesellschaft für Volks- und Völkerkunde (S. I. E. F.) war 1928 zu Prag unter dem Schutz des Internationalen Instituts der Gelehrtenvereinigung gegründet worden und erhielt seinen jetzigen Namen auf der Athener Tagung von 1964. Sie hat ihren Sitz in Brüssel und geht darauf aus, das Volksleben und die Volksüberlieferungen von allen Geschichts- und Sozialpunkten aus zu studieren und, veranschaulichend, auch darzustellen. Die tirolische Auswirkung der Bestrebungen ist noch gering. Die verschiedenen Kulturabteilungen nördlich und südlich des Brenners, vor allem der Landesregierungen des zerteilten Tirol, die Kulturinstitute und Heimatschatzvereine veranstalteten in den letzten Jahren Zusammenkünfte und Besprechungen zur Erfassung der Kräfte und Förderung der Volksbräuche und Volksschöpfungen, die sich keineswegs nur mehr allein auf die Erhaltung von Bildstöcken und anderen Volksschöpfungen beschränken. Tiroler Vereinigungen außerhalb des historischen Landes haben gleichfalls zu Zusammenkünften ihrer Vertreter geführt und die öffentliche Teilnahme belebt und vorbereitet. Tiroler wie der Anglist Alois Brandl in Berlin, Hofrat Josef Neumair in Wien, „Zugereiste“ im Lande wie der nun 85jährige Mera- ner Dr. K. Th. Hoeniger, auch Germanisten wie R. v. Granichstädten Czerva in Wien, um nur ein paar der vielen Namen anzuführen — waren unermüdlich tätig, die Volkskulturkräfte und -schätze Tirols zu erschließen und neu zu heben. Der Wiener Universitätsprofessor Doktor R. Wolfram war im zweiten Weltkrieg ganz erstaunt, welchen Reichtum er hier für seine Forschungen vorfand. Der Defregger- oder der Egger-Lienz-Kult wirkt noch heute in der Welt fort, während die Vorstellung vom „heiligen Land Tirol“ aus der Barockzeit mehr und mehr zurücktrat und die Schwarz-Weiß- Malereien in den Berichten der Jesuitenmissionäre nicht näher untersucht wurden. Nach Ludwig v. Hörmanns populärwissenschaftlichen Buch „Tiroler Volksleben“ von 1909 unterzog sich vornehmlich Hermann Wopfner in mehr kritischer Darstellung das Tiroler Volkstum im Alpenvereinswerk „Tirol" (München 1933).

Die literarische Beachtung der

Tiroler Volkskultur geht weit zurück bis in die Zeit des Humanismus. Noch bis zu den Napoleonkriegen sprach man zum Beispiel von der „Tyroler Nation" in Wien. Die erste gedruckte österreichische Völkerkunde (Wien 1796) erging sich nur „Uiber die Troler“. Aber noch andere Druckwerke befaßten sich mit originellen tirolischen Volksüberlieferungen und Volkssitten, so der Kapuziner Heribert von Salurn (J. Mayr) in Band 2 und 3 seiner Ansprachen aus der Zweithälfte des 17. Jahrhunderts. Aber abgesehen von geistlichen Betrachtungen, wie der Missionsberichte der Jesuiten, die, zum Teil zusammengefaßt, im vorigen Jahrhundert in den Druck gebracht wurden und der Schwarz-Weiß-Stil des kirchlichen Barock entsprachen, daher auch zum Aufkommen des Rufes vom heiligen Land Tirol beitrugen, waren damals handschriftliche Gebetbücher in vielen Familien üblich, in die auch volkstümliche Dieder und Sprüche, Ausschnitte aus Volksschauspielen und Ansprachen hineingeschrieben wurden. Leider sind viele dieser persönlichen „Gebetbücher“ dem Josephinismus zum Opfer gefallen.

Gewinn aus der Wissenschaft

Ich stehe am Schluß meines 80. Lebensjahres. Rund 60 Jahre davon widmete ich vornehmlich den Erforschungen und der Förderung der alpenländischen Volkskultur. Als Germanist veröffentlichte ich dazu noch manches aus der deutschen Volksdramatik, als Bibliothekar über Druckereien, Bibiiotheks- und Zeitungswesen (vgl. Schlern-Schrif- ten 69 Innsbruck 1951). Das letzte Buch brachte ich noch 1965 in zwei Beiträgen zum Sterzinger Heimatbuch (Schlern-Schriften 232) auch selbständig heraus. Die kriegsbedingten Nöte meiner Jahre und Hei mat führten mich immer wieder der eigenen Volkskultur zu. Daher möchten meine versagenden Augen noch das Zusammenwirken aller Tiroler und Freunde Tirols zugunsten einer erfrischenden und fortschreitenden Volkskultur wahmehmen. Einer meiner Lehrmeister an der Universität in Florenz schrieb mir 1910 ein altes Wort in meine akademische Arbeit über Dantes Bice in den Bergen, die jedoch nie herauskam: „Tantum homo habet de scientia, .quamtum operatur“ (Jeder Mensch gewinnt soviel aus seiner Wissenschaft, als er daraus erarbeitet).

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