6648617-1958_39_10.jpg
Digital In Arbeit

Was in Tirol fällig ist

Werbung
Werbung
Werbung

Vor etlichen Jahren fand eine Pressekonferenz in Thiersee anläßlich der Wiederaufnahme seiner Passionsspiele statt. Hinein platzten Mitteilungen von Plan und Vorbereitungen zu „Innsbrucker Festwochen“. Der Himmel sandte dazu einen außerordentlichen Platzregen, wie er am Alpenrand abkühlen kann, und die ganze Konferenz kam damit räumlich und geistig ins Gedränge. Sie war doch eigentlich für die Thierseer Passionsspiele einberufen worden. Die bayrischen Presseleute hatten daher für diese Ueberraschungen wenig übrig. Als nächsten Sprecher drängte man mich zu Wort. Ich hob angesichts der vorausgeschickten Sensationen wirkliche Aufgaben hervor:

Das alte Tirol ist im Laufe der Jahrhunderte eine Individualität geworden und hat eine Kulturhöhe und eine alpine Darstellungskraft erreicht, die nicht erst mit Franz Defregger und Albin Egger-Lienz, Franz Kranewitter und Karl Schönherr Rang und Namen erlangte. Die Emanzipation dieser Volks- und Hochkultur fällt mit der „Erschließung“ des Landes und mit seiner politischen Demokratie vielfältig zusammen. Es bahnte sich eine Epoche tirolischen Ausdrucks an, die, ähnlich wie die um 1500, das Alpenland 1909 zu einer Höhe der Selbstbetätigung emporzuführen schien. Es kam freilich mit 1914 bis 1918 vieles ganz anders und damit zu viel schwierigeren und größeren Verpflichtungen und Aufgaben.

In den Jahren Michael Pachers genossen viele Volksaufführungen in Tirol, in Hall, Schwaz, Rattenberg und Kitzbühel, noch mehr in Sterzing, Klausen, Bruneck und Bozen, besonderen Ruf im Lande. Sie zählten zu den Selbstverständlichkeiten seines Volkslebens. Seine Passionsspiele nahmen einen bevorzugten Platz im Jahreskalender ein, und zwar so, daß solche nur in größeren Zeitabschnitten zustande gebracht wurden. Sterzing, ein wichtiger Ausgangspunkt, hielt sich zum Beispiel an die Spanne von sieben Jahren, aus ideellen und praktischen Gründen, und hielt daran fest, bis diese Epoche der Volkskultur begraben wurde. Als, eine mehr ländliche Erneuerung des, Volks* spielwesens erreicht wurde, galt es wieder als Selbstverständlichkeit, Mysterienspiele nur nach größeren Unterbrechungen aufzunehmen, um die Teilnehmer jeweils neu und zeitgemäß aufzufrischen und der Spielgemeinde nicht zuviel zuzumuten.

Diese Passionsspiele fanden im Anschluß an den gemeindlichen Gottesdienst, im Rahmen der Gedenktage der Kar- und Osterwoche, für die eigene Gemeinschaft und Nachbarschaft statt. So wie eine Kirche von ihrem andächtigen Volk erfüllt und erhalten sein will, so stand jenen Aufführungen das Zuziehen fremder Massen und der Gewinn, von außen kaum im Sinne.

Erl und T h i e r s e e waren die letzten Nachzügler dieser barocken Lebensbetätigung unseres Volkes. Bis Ende des 19. Jahrhunderts verblieben sie Dorfspiele, die nicht über ihren Lebenskreis hinauswirkten, der sich nun freilich mehr dem nachbarlichen Oberbayern zuneigte. Der Erler Besuch nahm im Jahre 1902 derart zu, daß die bisherige Spielscheune ihn oft nicht mehr zu fassen vermochte und die Erler ihre Aufführung am selben Tag bis in die Nacht hinein wiederholen mußten. Da gab es örtliche und behördliche Schwierigkeiten, so daß die Erler sich 1909 entschlossen, einen doppelt so großen Spielstadel für ihre nächsten Vorführungen von 1912 zu errichten. Aber der Plan war denn doch zuwenig durchdacht, schließlich mußte der Bühnenraum beträchtlich ärweitert und das Dach über dem Zuschauerraum von seinen Querbalken befreit und erhöht wer-len. Statt der vorgesehenen 50.000 Kronen stiegen die Kosten auf 130.000 Kronen, also auf etliche Millionen heutigen Geldes. Die haftpflichtigen 40 Gutsbesitzer bangten um Haus und Hof; denn kein Land oder Staat half Jamals aus. Aber die Anteilnahme verständiger Freunde und weitester Volkskreise an diesem Erler Passionsspiel entschied viel erfreulicher. Ueberau, wo das Plakatbild von Albin Egger-Lienz, „Die Wallfahrer“, zu sehen war, verstand *jeder, worum es in Erl ging, nein, was die Volksindividualität Tirols wollte. Wie die Kirche durch ihr andächtiges Volk erhalten, hochgehalten wird, so drängten gesinnungsverwandte Scharen von nah und fern zum Tiroler Dorfsmel als zu ihrer Wallfahrt in Gottes Bergschöpfung. 1922 wiederholte sich diese Gemütszuwendung, obgleich im selben Sommer auch Oberammergau sein ihm 1920 noch nicht durchführbares Passionsspiel nachholte. Niemals hatte Oesterreich einen ähnlichen Eindruck und Erfolg eines seiner Volksschauspiele gesehen, wie 1922 in Erl. Niemals aber hatten Arbeiter und Angestellte aus Sachsen, Rheinland und Westfalen und Gäste aus Uebersee die ursprüngliche Andacht des Passionshauses derart verstärkt wie damals. Solche Ueberraschungen blendeten etliche. Sie griffen in dieses Spielwesen ein, bis der innere und äußere Zusammenbruch zur Katastrophe von 1933 führte. • Die Substanz, aus der diese dörflichen Pas-sionsspiele emporgediehen, war damit nicht größer und stärker geworden. So gibt es heute zwar viele neuzeitliche Passionstexte, auch in Tirol, aber wenige, die Beachtung verdienen, keinen, der unserer Umbruchszeit und der großen Aufgabe eines Landeswerkes ganz gerecht würde, wie die Handwerkerleistungen von 1500. Nach 1945 bot sich Gelegenheit, neu aufzurichten und aufzubauen. Das Plakatbild von Egger-Lienz wies nach einer Richtung. Wohl wurden schon 1922 und 1932 einzelne Chöre und lebende Bilder in Auftritte, Marienklagen und Siegesjubel des Volkes aufgelöst, aber alle Kürzungen, Umstellungen und Ueber-brückungen blieben Flickwerk. Begreiflich, daß die Passionsspieler an ihrem alten Text hingen, den schon ihre Väter und Großväter sich wörtlich zu eigen gemacht hatten wie ihr Glaubensbekenntnis. Dazu wies die Dichtung Franz Anger ers, die seit 1868 im Erl vorgeführt wurde, für die damalige bescheidene Bühne und

Teilnehmerschaft manchen dichterischen Vorzug und ergreifende Gefühlsmomente auf. Aber schon vom sprachschöpferischen Vermögen der Religion des Logos stand seine Nazarenerzeit doch weitab, von der dramatischen Gestaltung der Probleme ganz abgesehen. Die Spielerneuerung muß aber volksgemäß von Geist und Kraft der Dichtung und Vertonung ausgehen und den Charakter, den Stil und die Durchschlagskraft des Ganzen entscheiden.

Einsichtige Kritiker, Künstler und Praktiker, die Erl und Thiersee beobachtet hatten, empfahlen notwendige Neuerungen. Es geht nicht zuerst darum, daß Bund, Land und Gemeinde ihr klingendes Scherflein dazu beitragen, sondern daß mit dem Hinauswachsen dieser Passionsspiele aus ihrem dörflichen Rahmen viel weitere Kreise innerlich Anteil nehmen und daher ein Anrecht haben, ein vorbildliches Werk zu erleben. Es soll dem Landschaftscharakter und der Volksindividualität entsprechen, der neuen Zeit gerecht werden und damit eine verjüngende Epoche der erfreulichsten Tiroler Volkskultur anbahnen.

Die 150-Jahr-Gedenkfeier des Landes steht vor der Türe. Die Tiroler Studenten, die zwischen 1808 und 1813 infolge Aufhebung ihrer eigenen Universität sich an det Lands-huter einschrieben, setzten auf ihre Fahne: „Für die Einheit und Freiheit Europas und Tirols.“ Die innere und äußere Befreiung des einzelnen Menschen, des ganzen Landes, Europas, mag auch die Gesinnung bestimmen, welche die Teilnehmer an außerordentlichen Passionsspiele n in Tirol erfasse und emporhebe und die historischen Freiheitsspiele des Landes kennzeichne. Wenn also nicht erwerbsmäßige „Festwochen“, sondern nur e i n solches großes Passionsspiel, e i n Freiheitsstück, eine Freiheitsausstellung der Volksentfaltung das Tiroler Jahr 1959 auszeichnen, werden das Gedenkjahr, das Land und sein Kulturbeitrag einen Markstein gewinnen, der zur Abkehr vom vorherrschenden „Wochenfieber“ fällig geworden ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung