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Nach der Schlacht im Palais Bourbon

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Paris, im Jänner 1955. Nach der großen Schlacht im Palais Bourbon in der letzten Woche des vergangenen Jahres ist man nun bemüht, den Sinn der dramatischen Auseinandersetzung im französischen Parlament für die Zukunft des Landes und Europas zu suchen.

Sobald sich das französische Parlament mit deutschen Fragen zu beschäftigen hat, treten die reinen Verstandesüberlegungen zurück, denn wir sind noch sehr weit von jener deutschfranzösischen Aussöhnung entfernt, die als Grundlage jeder Integrationspolitik gepriesen wird. Die Erinnerungen an die Besetzung sind in Frankreich noch durchaus lebendig. Die geheime Aufrüstung des Reiches wurde nicht vergessen. Kann man diesem Staat eine 500.000-Mann-Armee geben, während die Weimarer Republik sich nur mit 100.000 begnügen mußte? Ist die Bundesrepublik ein echter Staat, ein wirklicher Partner, obwohl die Grenzen nicht endgültig fixiert sind? Schließlich muß die Bundesrepublik, ob sie will oder nicht, immer wieder Forderungen nach Einheit des deutschen Volkes, nach Rückgabe der Ostgebiete stellen. Und drohen schließlich nicht dahinter die übermächtigen Schatten von Tauroggen und Ra-pallo? Ist die Bundesregierung geneigt, die Saarverträge anzuerkennen oder wird das große Nein der deutschen Sozialdemokratie und der larmoyante Nationalismus der FDP diesen Test der Zusammenarbeit unmöglich machen?

Wir haben damit die Fragen resümiert, welche die französischen Abgeordneten in und nach der Abstimmung des Dezembers 1954 bewegten. Bei manchen spielt auch echte Sorge um die Erhaltung des Friedens und der Wille, zu einem Gespräch mit dem Osten zu kommen, mit, in dem Frankreich eine Vermittlerrolle spielen könnte. Es wäre dies die Konferenz der letzten Chance, um eine verstärkte Aufrüstung der. beiden Machtblöcke zu verhindern. Die immer wieder geforderte Hinauszögerung der deutschen Aufrüstung muß in diesem Sinne verstanden Werden. Mendes-France selbst hat die Hoffnung auf derartige Besprechungen bestehen lassen, ja man darf in dieser Richtung weitere Initiativen des Ministerpräsidenten erwarten. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang angebracht, die österreichische Frage viel mehr in den Mittelpunkt der Diskussionen zu stellen und das weit schwerer wiegende deutsche Problem erst nach Abschluß des Staatsvertrages anzufassen.

Haben wir von den Gewissenskonflikten gesprochen, in denen viele französische Abgeordnete ihre Zustimmung abgeben mußten, so wurden allerdings nicht mehr jene Leidenschaften entfesselt, wie dies um die EVG der Fall war. Im Letzten ging es nur um den Bestand der Atlantischen Gemeinschaft, und niemals wird sich eine Mehrheit für einen Wechsel der Allianzen im französischen Parlament finden. Unter diesem Aspekt ist die Entscheidung gefallen, denn es gab kein Ausweichen mehr. Mit Ausnahme der Kommunisten, die sich auf die „kochende Volksseele“ beriefen, herrscht derzeit in allen französischen Parteien ein starkes Unbehagen, und nach wie vor sind sie in den wesentlichen Punkten der Außenpolitik gespalten.

Die Sozialisten, unter der Führung des klugen Guy M o 11 e t, zeigen seit langer Zeit einen sehr eindeutigen Zug, die Regierung in allen außenpolitischen Fragen zu unterstützen, ohne dabei selbst an der letzten Verantwortung mitbeteiligt zu sein. Mit wenigen Ausnahmen stimmten sie für die Verträge. Selbst ein Jules M o c h, heftigster Gegner der EVG, beugte sich schließlich der Disziplin. Guy Mollet als geschickter Taktiker hatte es nicht versäumt, sich vorher die Zustimmung des Europa-Rates, als dessen Präsident er fungiert, sowie der Sozialistischen Internationale einzuholen.

In vollständiger Einsamkeit mußte diesmal das M R P eine Art Kreuzweg gehen. Von Anfang an waren sie heftige und ausdauernde Gegner des Ministerpräsidenten. Als überzeugte Anhänger der EVG waren sie nicht gewillt, so schnell die Zurückweisung der Europäischen Armee sowie die Untätigkeit der neuen Regierung in dieser Frage zu vergessen. Ihrer Ansicht nach war die EVG die einzige Garantie gegen eine Renaissance des deutschen Militarismus. Die Verträge von Paris seien gefährlich, da sie das Aufleben der Nationalstaaten begünstigen. Damit sahen sie sich, allerdings aus anderen Motiven, in die gleiche Opposition gedrängt wie die Kommunisten. Bei der Beurteilung der Verträge zeigte die Partei deutlich zwei Strömungen: eine intransigente unter Bidault und T e i t g e n und eine eher zustimmende, die, von Robert S c h u m a n und P f 1 i m 1 i n angeführt, neue Ansatzpunkte für eine weitere europäische Integration in der Politik des Regierungschefs suchen will. Nach übereinstimmenden Berichten kam es in ihrer Fraktion zu langwierigen und sehr delikaten Auseinandersetzungen. Die Anhänger Mendes-Frances haben sich derzeit Bidault als Zielscheibe ihrer Angriffe ausgesucht. Dazu kommt noch, daß der überraschende Vorschlag des Regierungschefs, das Wahlgesetz der Dritten Republik einzuführen (Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen nach Arrondissements), eine deutliche Spitze gegen die Volksrepublikaner zeigt. Die Gewissenskonflikte der Volksrepublikaner zu vermindern, hieße weder ihre Doktrin noch ihre geschichtliche Entwicklung in Betracht ziehen. Als geistiger Hüter der nichtkommunistischen Resistance und einer europäischen Integrationspolitik ist die Mehrheit der Volksrepublikaner davon überzeugt, daß die Schaffung einer deutschen Nationalarmee für jede zukünftige Form der deutsch-französischen Gespräche gefährlich sein wird. Ob allerdings die gewählte Art einer schroffen Opposition gegen die Verträge die glücklichste war, bleibt dahingestellt.

Die Partei Mendes-Frances selbsi war und ist wohl auch in nächster Zukunft in drei Gruppen aufgeteilt, seine engsten Anhäti ger, alle jene, welche in einer • wohlwollenden Neutralität verharren, aber nicht die Verantwcrtung für die Außenpolitik übernehmen Wollten, und einige, die unter H e r r i o t und Daladier jede deutsche Aufrüstung energisch bekämpfen. Diese beiden Persönlichkeiten träumen nach wie vor von einem Europa, das durch eine französisch-russische Allianz im Gleichgewicht gehalten wird.

Auch die Ex-Gaullisten vermochten sich bis heute nicht zu einer einheitlichen Auffassung zusammenzufinden. General de G a u 11 e predigte stets eine europäische Allianz im klassischen Stil des 19. Jahrhunderts und beurteilte die Annahme eher unter dem Blick des Militärs als des Staatsmannes. P a 1 e v s k i und S o u-stelle präsentieren sich derzeit als die Jünger jener klassischen Rechte, für die „der blaue Rand der Vogesen“ Anfang und Ende jeder französischen Außenpolitik bedeutet Wenn sich schließlich die Ex-Gaullisten in ihrer Mehrheit mit den Verträgen abfanden und auch weiterhin die Regierung stützen, so geschieht dies aus innerpolitischen Gründen und vielfach auch aus dem Gefühl des Unvermögens, eine eigene Politik zu definieren, die den nationalen Forderungen Frankreichs ebenso entspricht wie gewissen imperativen Tatsachen der Gegenwart.

Schließlich sind die Verträge mit Unterstützung der Gegner des Regierungschefs wie der Unabhängigen und durch die Enthaltung eines kleineren Teils des MRP angenommen worden. Mag das Prestige Mendes-Frances im Ausland beachtlich gestiegen sein, seine Stellung in Frankreich ist sicherlich erschüttert worden. Der große Prozeß der politischen Abnützung, der sich in Paris stärker als in jeder anderen Hauptstadt bemerkbar macht, beginnt sein unsichtbares, aber um so tiefer greifendes Werk. Viele seiner Handlungen sind bereits unter dem Gesichtswinkel der allgemeinen Wahlen 1956 zu begreifen, so die Ankündigung seiner Freunde nach der Bildung einer neuen nichtkommunistischen linken Partei. Die Nordafrikapolitik wie die Wirtschaftspolitik werden in den kommenden Wochen den Gegnern Mendes-Frances genügend Gelegenheit bieten, eine Aenderung der Regierung vorzunehmen. Schon wird von einer Regierung Pinay gesprochen. Aber, wie immer sich die Konstellationen im französischen Parlament stellen, die Allianzen bilden und lösen: die Persönlichkeit des Regierungschefs hat neue Fronten gezogen und der französischen Politik verschiedenartige Impulse gegeben.

Nie noch, war das Verlangen nach einer wahren und echten europäischen Volksbewegung so brennend wie in diesen Wochen nach der Ratifizierung der Pariser Verträge. Frankreich-Deutschland-Europa. Dieser Dreiklang erhebt sich zu der Symphonie der westlichen Welt nur dann, wenn die neue, die echte Form der Demokratie in der Gegenwart gefunden werden kann.- Nicht die Angst eines Volkes vor dem anderen wird die Garantie für Sicherheit und Frieden und gegen den Krieg bieten, sondern die einzige Ueberzeugung, daß gegenseitiges Verstehen die letzten Gebote einer Welt sein werden, die sich selbst erheben oder selbst zerstören kann.

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