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Das Volk denkt europäisch, nicht die Politiker

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Am 1. Juli dieses Jahres wurden in Paris keine nationalen Feste gefeiert, und es wurde auch nicht auf das Datum hingewiesen, das in der Geschichte dei westeuropäischen Völker eine nicht unbedeutende Rolle spielt. An diesem Tage fielen nämlich endgültig die Zollschranken zwischen den sechs Gründungsmitgliedern der EWG und den drei später dazugekommenen Staaten Großbritannien, Irland und Dänemark. Obwohl es sich dem Augenschein nach „nur“ um wirtschaftliche Maßnahmen internationaler Natur handelt, sind deren Folgen doch von weltpolitischer Dimension. Als der damalige französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 im Uhrensaal des Quai d’Orsay seine - man darf mit Recht sagen - historische Erklärung abgab, mit der die französische Regierung die im Werden begriffene Bundesrepublik einlud, die Stahl- und Kohleproduktion der beiden Länder gemeinsam zu verwalten und auch andere europäische Staaten aufzufordern, sich diesem Pool anzuschließen, wurde eine politische Kettenreaktion ausgelöst, die bis in unsere Tage fortwirkt.

So wurde im Juni 1977 die Debatte über die Ratifizierung des Vertrages bezüglich gemeinsamer Direktwahlen in das europäische Parlament von der Pariser Abgeordnetenkammer geführt. Wieder tauchte eine Front von „Nein-Sagem“ auf, die im wesentlichen den Altgaullisten und den Kommunisten zuzuzählen war. Trotzdem konnten die anwesenden Beobachter vermelden, daß die Gesetzesvorlage nicht mehr jene harte Ablehnung erfuhr, die europäischen Angelegenheiten in den Zeiten der IV. Republik zuteil wurde.

In zahlreichen europäischen Hauptstädten wird immer noch die Einstellung Frankreichs zur europäischen Einigung kritisiert, werden die in den letzten Jahren von’Paris ausgelösten Krisen als’ Rückgriff ln die Requisitenkammer der Geschichte gewertet Gemäß dieser Auffassung hätte besonders der Gründer des gegenwärtigen Regimes, General de Gaulle, seinen Partnern ein hartes Veto entgegengesetzt, als es darum ging, die europäische Gemeinschaft zu erweitern.

Seitdem Giscard d’Estaing das oberste Amt der Republik bekleidet, wurde der Begriff „Europa“ neu formuliert und erweckt nicht mehr die gleiche Freude oder Ablehnung wie in den letzten 20 Jahren. Da Paris so etwas wie eine politische Führung innerhalb der EG beansprucht und sie,auch tatsächlich innehat, ist es angebracht, sich mit dem gegenwärtigen Stand der europäischen Integration zu beschäftigen und mit der Einstellung der V. Republik zu ihr.

Die französischen Verfechter des Gedankens der europäischen Integration erwuchsen in erster Linie aus dem einstmals mächtigen MRP. Diese christdemokratische Partei beruhte auf zwei ideologischen Säulen: der Einigung des freien Europa und einer Sozialpolitik, die weite Kreise der arbeitenden Welt für die christliche De mokratie gewinnen sollte. Nachdem das MRP im Jahre 1956 aufgehört hatte zu existieren, fehlte der Motor, dei Paris wieder in den Kreislauf der europäischen Einigungsbestrebungen hätte zurückführen können. Die Nachfolgepartei der Christdemokraten, die sich gegenwärtig „Soziale Demokraten“ nennt, hat das Erbe übernommen und predigt weiterhin die Notwendigkeit, im Geiste der europäischen Einigung staatliche Souveränitätsrechte abzubauen.

Soweit es die Majorität betrifft, kann man nur noch von der kleinen Splittergruppe, zu der die Radikalsozialistische Partei zusammengeschrumpft ist, ein echtes Bekenntnis zu Europa vernehmen. Die Republikaner, wie sich jetzt die von Giscard d’Estaing und Poniatowski gegründete Partei nennt, haben wohl mehrmals ein Lippenbekenntnis zum konföderierten Europa abgegeben. Aber die Fraktion Giscards ist seit längerem mit der Verteidigung von Maßnahmen des Staatschefs auf innenpolitischer Ebene so sehr beschäftigt, daß sie kaum in der

Lage ist, sich in Sachen Europa zu engagieren. Bleibt also die weitaus stärkste Partei der Majorität, RPR, unter der dynamischen Führung Jacques Chiracs. Innerhalb des RPR zeichnen sich jedoch deutlich zwei Richtungen ab, die in der Europapolitik differenzierte Meinungen vertreten: Im Gegensatz zu etlichen durchaus europafreundlich gesinnten Abgeordneten schmettern die Alt-Gaullisten weiterhin ihr hartes „Nein“ allen Projekten entgegen, die dazu bestimmt sind, die neuen Staaten der EG immer mehr miteinander zu verflechten und eine gemeinsame Außen- und Wirtschaftspolitik zu sichern. Als ihr Sprecher präsentiert sich nach wie vor Michel Debrė. Mit der staunenswerten Kraft des geübten Demagogen hat dieser Hüter der altgaullistischen Orthodoxie während der zitierten Parlamentsdebatte den Plan zu europäischen Direktwahlen prinzipiell verdammt. Allerdings ist es weder ihm noch seinen mit ihm sympathisierenden Kollegen gelungen, die Konstituierung einer internationalen parlamentarischen Versammlung so abzuwürgen, wie einstmals die europäische Verteidigungsgemeinschaft.

Was die Sozialisten betrifft, so hat sich deren Mehrzahl immer wieder und glaubhaft für ein geeintes Europa ausgesprochen. Mitterrand selbst hat oft genug ein europäisches Konzept entwickelt und sich zu dem bekannt, was seit der Deklaration Schumans in Westeuropa geschaffen worden ist. Natürlich gibt es in der SP einige Querulanten. Diese Abgeordneten und Parteipolitiker sind aber kaum in der Lage, den außenpolitischen Kurs ihres Parteichefs zu beeinflussen. Allerdings umschreibt Mitterrand denn auch sein Ziel eindeutig, wenn er sagt: „Europa wird sozialistisch sein, oder es wird nicht sein!“

Gemeinsam mit den Altgaullisten haben die Kommunisten einen unerbittlich harten Kampf gegen jeden Versuch aufgenommen, der zu einer Erweiterung von Kompetenzen der

EG und des zukünftigen Europaparlaments führen müßte. Georges Marchais und sein Politbüro haben jedoch in den vergangenen Wochen ihre seit Jahren bestehende Abneigung gegen das vereinte Europa zum Teil fallen lassen. Damit folgten sie dem Beispiel der italienischen Bruderpartei. Doch handelt es sich bei dieser halben Zustimmung eher um eine taktische Geste Marchais’, der auf diese Weise bei den nationalen Wahlen die europafreundlichen Bürger Frankreichs anzusprechen glaubt.

Während die verschiedenen Parteien noch zögern, Hintergedanken entwickeln und Fallen wittern, kann die überwältigende Mehrheit des französischen Volkes als durchaus europafreundlich bezeichnet werden. Aus Meinungsumfragen geht hervor, daß 67 Prozent der französischen Wähler positiv gegenüber der Europäischen Gemeinschaft eingestellt sind, und daß 69 Prozent die Direktwahlen in eine internationale Volksvertretung gutheißen. Die großen Fachverbände, wie jene der Landwirte und des Mittelstandes, aber auch ein Teü der Gewerkschaften, sind durchaus bereit, das europäische Zusammenspiel anzuerkennen und die damit verbundenen Grundregeln zu akzeptieren.

Die in einigen Monaten stattfindenden Legislativwahlen der V. Republik werden auf alle Fälle dazu beitragen, die europäische Einigung entweder zu beschleunigen oder sie entscheidend zu bremsen. Deshalb darf man schon jetzt sagen, daß dieser im März 1978 stattfindende Urnengang Frankreichs von höchster Bedeutung für die Zukunft der EG sein wird.

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