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Erhard in Paris

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Das Ausscheiden Dr. Adenauers als Bundeskanzler hat die französische Presse wochenlang und ausgiebig bewogen, vom „Ende einer Ära“ in allen möglichen Variationen zu sprechen. Versucht man, außerhalb des einhelligen Tributs an den großen Staatsmann, die Haupttendenz der Kommentare — bei denen ja nach politischer Einstellung des

Betrachters, Positives oder Negatives überwog — herauszugeben, so ergibt sich das folgende Bildschema: Nachdem Adenauer gemeinsam mit Schuman und De Gasperi den Versuch unternommen habe, ein christlich-konservativ-übernationales Europa zu realisieren, sei er von de Gaulle in seinem Vorhaben gestoppt worden. Hin- und hergerissen zwischen dem deutschen Sicherheitsbedürfnis und dem persönlichen Mißtrauen gegenüber Kennedy, habe er sich schließlich der gaullistischen Vision eines „Europa der Vaterländer“ angeschlossen. Es sei zum Abschluß der deutsch-französischen Allianz gekommen, die entscheidend auf dem persönlichen Freundschaftsverhältnis zwischen dem französischen Staatschef und dem deutschen Bundeskanzler beruhte. Dabei habe es sich von selbst verstanden, daß der in seinem Land omnipotente Dr. Adenauer dem Freunde jenseits des Rheins für die künftige Führung und Gestaltung Europas die uneingeschränkte Stellung des Primus inter pares überlassen habe. Hypothesen, Legende, Wunschbild und Halbwahrheiten bestimmten dieses Porträt.

Es dauerte verhältnismäßig lange,

ehe man sich in Paris zu einer Deutung und Analysierung des „neuen Zeitalters“ bereitfand. Die alten Vorstellungen waren durch eine gewisse außenpolitische Immobilität und tiefverwurzelte sakrosankte Grundsätze zum unverrückbaren Maßstab der Betrachtung und Beurteilung der Verhältnisse im Westen und der ost-westlichen

Beziehungen geworden. Erst die Besuchsankündigung des Nachfolgers Dr. Adenauers, dem man den Parisbesuch als außenpolitisches Debüt suggeriert hatte, löste eine Flut publizistischer Kommentare und Spekulationen aus, die sich mit der Person Professor Erhards und der mutmaßlichen neuen Linie Bonns befaßten. Jedoch die Tatsache, daß der bisherige Bundeswirtschaftsminister jahrelang im Schatten des „Alten“ gestanden hatte und damit den Franzosen verhältnismäßig unbekannt geblieben war — ein großer Teil der hiesigen Zeitungen pflegt noch heute seinen Namen falsch zu schreiben —, bringt es mit sich, daß die gegebenen Charakteristiken oft simplifiziert wirken und zuweilen zu irreführenden Rückschlüssen verleiten. Fraglos sehen viele Antigaullisten in Erhard „ihren“ Mann; aber der durchschnittliche Zeitungsleser, der sich parteipolitisches Denken weitgehend abgewöhnt hat, fragt sich doch nicht ohne Unruhe und Besorgnis, ob nicht der Besuch des neuen Bundeskanzlers — und sei es auch nur durch temperamentsbedingte Differenzen mit dem General — neue Krisen und Unruheelemente mit sich bringen könnte.

Washington oder Paris?

Von Bonner Korrespondenten erfährt der Mann auf der Straße, daß nach dem Moskauer Abkommen und einigen Anzeichen der ost-westlichen Entspannung die Allianz Adenauers mit de Gaulle in deutschen Augen mehr und mehr als Überrest einer nicht mehr aktuellen Kreuzzugsmentalität empfunden werde. Erhard — so berichteten die französischen Beobachter in der Bundeshauptstadt — sei ein gegenwartsnaher Pragmatiker, der mit beiden Beinen auf der Erde stehe. Als Interessenvertreter der Schwerindustrie habe er im politischen Bereich vornehmlich den Rentabilitätsfaktor im Auge und gefühlsmäßig hege er ein starkes Faible für die angelsächsische Lebens- und Denkart. Welche höchst relative Bewertung er dem Pariser Vertrag gebe, gehe aus seiner kürzlichen Äußerung hervor, daß die deutschfranzösische Annäherung und auch Europa nicht alles seien. Natürlich vergißt man auch nicht, in diesem Zusammenhang Bundesaußenminister Dr. Schröder zu zitieren, der in Paris vielfach als der wahrscheinliche Nachfolger des derzeitigen Bundeskanzlers präsentiert wird. Schröder hätte bei einer Erörterung um die Alternative „Washington oder Paris" nicht

allein eindeutig für die USA optiert, sondern auch von der Isolierung de Gaulles gesprochen und daran erinnert, daß der General als einer der ersten Politiker die Oder-Neiße- Linie als deutsche Ostgrenze anerkannt habe. Schon jetzt sei es Schröder gelungen, aus dem Bonner Auswärtigen Amt eine „autonome Festung“ zu machen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Bundeskanzler Erhard das unabhängige Wirken der Ressorts nicht behindern und damit dem Außenminister weitgehende Handlungsfreiheit einräumen werde. Dies eröffne recht dunkle Perspektiven.

Adenauer in Reserve

Alle diese Bekundungen und Mutmaßungen haben freilich einen hypothetischen Charakter und werden ohne jede Polemik vorgebracht. Man vergißt auch nicht zu erwähnen, daß Adenauer als Parteivorsitzender der CDU weiterhin seinen Einfluß geltend machen werde, und daß er in Brentano, Strauss und Krone zuverlässige und maßgebende Mitstreiter im Sinne einer profranzösischen Orientierung Bonns haben werde. Aber das Rätselraten darüber, wer schließlich die mächtigere Position am Rhein behalten werde, bleibt erhalten. Auch Bismarck —

so schreibt ein Pariser Blatt — sei es nicht gelungen, die Politik seines Nachfolgers zu durchkreuzen, obwohl er sich redliche Mühe gegeben habe. In einem Exklusivinterview, das Dr. Adenauer der regierungsfreundlichen Wochenschrift „Le Nouveau Candide“ am Vorabend des Parisbesuches seines Nachfolgers gegeben hat, bringt der ausgeschiedene Kanzler zwei Dinge in aller Deutlichkeit zum Ausdruck: Erstens, daß Professor Erhard ihm formelle Zusicherungen gegeben habe, die Linie der von ihm eingeleiteten Frankreichpolitik nicht zu verlassen, und zweitens, daß er in seiner Eigenschaft als Parteivorsitzender seine ganze Autorität ins Spiel bringen und den persönlichen Kontakt mit dem französischen Staatschef auch in Zukunft aufrechterhalten werde. Man wird zugeben, daß diese Feststellung eher als ein Plädoyer pro domo denn als Rückendeckung für den neuen Kanzler aufgefaßt werden muß.

Unter diesen psychologischen Voraussetzungen dürfte die Position Prof. Erhards in Paris nicht leicht gewesen sein, zumal er in der Frage der Agrarpreisangleichnug, für die der General zum Jahresende einen festen Termin gesetzt hat, in de Gaulle einen unnachgiebigen und kaum zu Kompromissen geneigten Gesprächspartner fand. Man wird dem neuen Kanzler den Vorwurf nicht ersparen können, daß er in den Wochen, die den Parisverhandlungen vorausgegangen sind, versäumte, das Terrain auf dem Gebiet der „Public relations“ besser vorzubereiten. Durch Presseinterviews und öffentliche Erklärungen wäre das ungewöhnlich starke Interesse, das die französische Öffentlichkeit dem neuen deutsch-französischen Kontakt auf hoher Ebene entgegenbrachte, sut zu nutzen gewesen. So aber, wurde die günstige „Konjunktur“ anderen Politikern überlassen. Aus der Fülle der Verlautbarungen und Meinungsäußerungen darf nur ein Gespräch der wirtschaftspolitischen Zeitschrift „Entreprise“ mit Landwirtschaftsminister Edgard Pisani und ein Interview des „Figaro“ mit Professor Hallstein erwähnt werden.

Eine doppelte Rückendeckung

Beide Unterredungen spiegeln ernste Besorgnisse hinsichtlich der europäischen Zukunft wider: Während Pisani die Brüsseler Agrarverhandlungen im Sinne der Weisungen de Gaulles gegen einen Gesprächspartner der französischen Industrie verteidigt, der seinerseits für eine konziliantere Haltung Frankreichs eintritt, um den für die Industrie äußerst wichtigen Gemeinsamen Markt nicht in seiner Gesamtheit zu gefährden, verlangt Hallstein von der französischen Regierung für den Fall eines deutschen Entgegenkommens im landwirtschaftlichen Sektor als Preis „gemeinsame handelspolitische Beschlüsse“ zur Schaffung einer günstigen Ausgangsposition für die GATT-round. Im übrigen bricht Hallstein insoweit eine Lanze für de Gaulle, als er den General als

nicht allein verantwortlich für die Brüsseler Krise hinstellt.

Beide Interviews können sinngemäß als Rückendeckung für Bundeskanzler Erhard aufgefaßt werden, und bei näherem Hinsehen wird man sich dessen bewußt, daß die deutsche Bundesrepublik nicht aus einer Schwächeposition heraus verhandelt hat, als in Paris die Probleme Agrarpreise, Marktangleichung und der Entwurf zu einem stufenweisen politischen Zusammenschluß Europas aufgeworfen wurden. Bei aller Eigenwilligkeit des Generals kann es ihm nicht daran gelegen sein, die außenpolitische Isolierung seines Landes weiter zu akzentuieren. Dafür zeugen die wiederaufgenommenen Kontakte zwischen dem Quai d'Orsay und dem Foreign Office nach dem Ausscheiden Macmillans, wie auch das

Reiseprojekt de Gaulles nach Washington. Im übrigen geht In letzter Zeit aus allen amtlichen und halbamtlichen Äußerungen hervor, daß das Elysėe den Bogen der psychologischen Spannungen zwischen Paris und Washington nach Möglichkeit wieder lockern möchte, zumal sich jenseits des Atlantischen Ozeans prominente Stimmen mehren, die der gaullistischen Allergie gegenüber einem Satellitenverhältnis zu den USA Verständnis entgegenbringen.

Keine neue „Teilung“

Schließlich hat man sich in Paris auch an den Tatbestand gewöhnt, daß sich die Bundesrepublik nicht in eine Alternative Frankreich oder Amerika drängen lassen will, und daß sich im Falle einer auftretenden Gefahr sowohl die „Gaullisten“ als auch die „Antigaullisten“ in Bonner Regierungs- und Parlamentskreisen mit Sicherheit unter der Devise „America first“ zusammenfinden werden. Dies dürfte aber schon Bundeskanzler Adenauer seinem Pariser Freund noch in der „alten Ära“ klargemacht haben, so daß hier mit dem Kanzlerwechsel keine einschneidende Änderung eintritt. Der langjährige Bonner Korrespondent des „Monde“, Alain Clėment, der seine Zeitung neuerdings in Washington vertritt, hat nach einem Besuch der Bundesrepublik festgestellt: „Deutschland, das schon geteilt ist, könnte es schwer ertragen, zwischen seinem Nachbarn und seinem Vormund hin- und hergerissen zu werden — zwischen seinem stärksten Alliierten und demjenigen, der ihm geographisch und vielleicht gefühlsmäßig am nächsten steht. Es kann notgedrungen eine gewisse Zeit übereinandergelagerte Treueverhältnisse ausbalancieren, jedoch nur so lange, wie sie sich nicht widersprechen, das heißt, wie man nicht mehr von ihm verlangt.“

General de Gaulle wird niemals so unrealistisch sein, von Bundeskanzler Erhard mehr zu verlangen, als ihm sein Freund Adenauer zu bieten vermochte

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