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De Gaulles Zurückhaltung

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Im Vordergrund des französischen Interesses steht natürlich die künftige Entwicklung des Verhältnisses zwischen Paris und Washington. Bekanntlich war ursprünglich ein Besuch de Gaulles bei Kennedy zwischen dem 15. Februar und Anfang März 1964 vorgesehen. Es heißt, daß Johnson dem General zu verstehen gegeben habe, daß ihm eine Begegnung zu einem früheren Zeitpunkt sehr erwünscht wäre, jedoch auf eine reservierte Haltung bei de Gaulle gestoßen sei. Trotzdem erklärte der neue amerikanische Präsident nach der kurzen Fühlungnahme mit dem französischen Staatschef, eine Aussprache sei für den Anfang des Jahres vorgesehen. De Gaulle seinerseits ließ präzisieren, daß man sich ausschließlich über das Prinzip des Besuchs geeinigt habe und die Einzelheiten auf diplomatischem Wege festgelegt würden. Wer den französischen Präsidenten kennt, wird die psychologische Bedeutung dieser Zurückhaltung leicht erklären können: Einerseits widerstrebt es ihm, einen nicht ganz sicheren Boden zu betreten — deshalb wurde der französische Botschafter in Washington beauftragt, ihn genau über die

Absichten des neuen Mannes im Weißen Haus zu informieren —, und anderseits weigert er sich, gemeinsam mit anderen europäischen Staatsmännern „Schlange zu stehen”. Er will einer Serienaktion ausweichen und ein besonderes Gespräch für sich haben.

In gaullistischen Kreisen erfährt man, daß der General für das Gespräch mit Kennedy vorgesehen hatte, den Amerikanern festumris- sene Garantien für den etwaigen Einsatz der französischen Force de Frappe zu geben. Für diese in seinen Augen wesentliche Konzession habe er jedoch eine Gegenleistung erwartet: Die USA sollten ihm im Bereich der amerikanischen Strategie ebensoviel Mitspracherechte einräumen, wie er ihnen im französischen Sektor zu bieten gewillt war. In Paris wird nicht in Abrede gestellt, daß sich de Gaulle vor dem Ableben Kennedys in einer schwierigen Lage befunden habe: Seine prädominierende Stellung in Europa schien vor allem durch die Perspektiven einer Annäherung zwischen Bonn und London gefährdet, zumal sie offensichtlich eine Förderung durch die amerikanische Regierung erfuhr. Jetzt — so argu-

mentiert eine bekannte Pariser Wochenzeitschrift —, da sich Europa weniger gegenüber den USA engagiert fühlt, könnte der französische

Staatspräsident versucht sein, unter Akzentuierung einiger Elemente seiner antiamerikanischen Politik (beispielsweise durch die Anerkennung des kommunistischen China in den kommenden Monaten) diese Umstände zur Befreiung aus seiner europäischen Isolierung zu nutzen. In diesem Zusammenhang wird auf einige Gesten hingewiesen, die in letzter Zeit von gaullistischen Parlamentariern an die Adresse Großbritanniens gemacht wurden: Gelegentlich des Zusammentritts der westeuropäischen Union, ifin der die ‘sechs Länder \ des Gemeinsamen : Marktes und England vertreten sind, schlug der Abgeordnete de “ Grailly vor, den Ständigen Rat und das Generalsekretariat dieser Organisation nach dem Muster der NATO zu instituieren. In der Befürwortung dieses Vorschlages durch die UNR- Parlamentarier erblickt man einen ersten schüchternen Schritt zum Europa der „Sieben” hin. Gleichzeitig erinnert man in Paris an die Gerüchte über die mögliche Realisierung einfer französischbritischen nuklearen Abschreckungswaffe, die gelegentlich des kürzlichen Gaullistenkongresses in Nizza umliefen.

Hinsichtlich Amerikas macht man sich in Paris wenig Illusionen. Man erinnert an die vielen Elemente des Mißtrauens und der Gegnerschaft, die zwischen de Gaulle und Kennedy bestanden haben, und glaubt nicht, daß die vielbeachtete Teilnahme des Generals an den Trauerfeierlichkeiten in Washington eine faktische Änderung herbeiführen würde. Freilich habe der Flug des französischen Staatschefs nach Washington die amerikanische öffentliche Meinung etwas versöhnt. Es wäre aber äußerst voreilig, daraus zu schließen, daß sich Lyndon Johnson im Vergleich zu Kennedy als ein bequemerer Verhandlungspartner erweisen könnte.

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