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Paris: Ein neues Plebiszit?

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Das gegenwärtige Regime in Frankreich wird gerne als „Präsidialregime“ bezeichnet. Das ist wahr und falsch zugleich. Wahr ist es in dem sehr allgemeinen Sinne, daß der einmal gewählte Präsident so ziemlich tun und lassen kann, was er will; weder der zu einer Art von Adjutant degradierte Premierminister noch das Parlament hindern ihn daran, und schon gar nicht das Volk, dem keine Referendumsinitiative zugeteilt ist. Falsch ist es hingegen, wenn mit dem Wort vom Präsidialregime der Eindruck erweckt werden soll, man habe da eine Regierungsstruktur wie in den USA vor sich. Zwischen den beiden Systemen besteht vielmehr ein fundamentaler Unterschied: Der französische Präsident wird nach der zur Zeit gültigen Verfassung von N o t a b e 1 n gewählt, von Parlamentariern, Bürgermeistern und anderen Würdenträgern; der amerikanische Präsident hingegen wird — mag er auch pro forma von einem Wahlmännergremium ernannt werden — vom Volke gewählt.

Was den speziellen Fall de Gaulles betrifft, so ist der General bekanntlich nicht der Mann, der besonderen Wert darauf legen würde, von Notabein statt vom Volke gewählt zu werden — im Gegenteil. Die Notabein, die in seinem Wortschatz als „die Politiker“ oder „les intermediaires“ (die Zwischenglieder) figurieren, sind für ihn bekanntlich der Feind schlechthin, der sich immer wieder zwischen ihn und das Volk stellt. In allem, was de Gaulle schreibt und tut, spürt man immer wieder die Überzeugung durchklingen, daß alles zum Besten stünde, wenn die Geschäfte Frankreichs allein zwischen ihm und dem Volk abgewickelt würden, unter Beiziehung allerhöchstens einiger tüchtiger (und unpolitischer!) „Fachleute“. ,

Genau besehen, ist de Gaulle allerdings, zutnindestens de facto, jetzt schon ein vom Volk gewählter Präsident. Das Referendum vom Herbst 1958 war ja bloß de iure eine Referendumabstimmung über die Frage „Wollt ihr die vorgeschlagene Verfassung annehmen?“ — im Bewußtsein der Öffentlichkeit ging es vielmehr darum, ob der Souverän, das Volk, alle Macht an de Gaulle delegieren wolle. Die auf das Referendum folgende Wahl de Gaulles zum Präsidenten der Republik durch die Notabein, führte nur den Volkswillen aus; etwas anderes wäre für die Würdenträger in der besonderen Situation jener Monate, wo fast jeder Franzose von de Gaulle die Lösung des Algerienproblems erwartete, gar nicht möglich gewesen.

Ein „richtiges Präsidiahegime“?

Es wird nun neuerdings viel davon geredet, daß de Gaulle den Prestigegewinn, den ihm eine Lösung des Algerienkonflikts ein,bringen könnte, dazu benützen würde, in Frankreich das „richtige Präsidialregime“, mit Volkswahl des Präsidenten, einzuführen. Daß das der gegebene Zeitpunkt für eine so umwälzende Umwandlung des Regimes wäre, leuchtet ein. Schon die jetzige Ablösung der früheren „Parlamentshernschaft" konnte nur in einer Ausnahmesituation — nämlich nach dem Putsch vom 13. Mai — sozusagen durch Überrumpelung der Notabein erreicht werden. Wenn nun durch die Volkswahl der Staatsspitze das bisher so sorgsam von jedem Einfluß auf die Politik femgehaltene Volk als ein wirklich entscheidender Partner ins politische Spiel eingeführt würde, so bedeutete das, daß die in den verflossenen zwei Jahren zumindesten in Ansätzen wiederhergestellte Motabeln- herrschaft wohl endgültig gebrochen würde. Gewiß, die Bildung neuer Oligarchien wäre nicht ausgeschlossen. Aber das wären Oligarchien anderer, modernerer Art. Es ist darum anzunehmen, daß das überkommene politische Personal, das zur Zeit in einem lahmgelegten Parlament und anderen Wartesälen überwintert, sich mit Hän- iden und, Füßen gegen eine.'solche Verfassungsänderung wehren würde. Nur 'ein mit ‘äer 'Gloriole des Friedens-' bringers ausgestatteter de Gaulle könnte diesen Widerstand ignorieren.

Die Diskussion um die angeblich geplante Volkswahl des Präsidenten der Republik gründet sich nicht auf bloße Gerüchte. Es waren immerhin der Kammerpräsident C h a b a n-

D e 1 m a s, also die „vierte Person“ des Staates, und Staatsminister Roger Frey, die auf dem kürzlichen Kongreß der gaullistischen Regierungspartei, der UNR. in Straßburg diesen Plan als feststehenden Willen de Gaulles verkündeten. Sie wurden zwar innert 24 Stunden durch ein äußerst barsches Dementi aus dem Elysėe desavouiert. Das gaullistische Regime hat sich aber so eigenartig entwickelt, daß recht viele Leute erst von diesem Dementi de Gaulles an zu glauben begannen, daß eine solche Verfassungsänderung de Gaulles insgeheime Absicht sei.

Trotz allem, was man in den verflossenen drei Jahren erlebt hat, möchten wir nicht die Behauptung aufstellen, daß stets das Gegenteil eines Dementis wahr sei. Wenn wir diesem speziellen Dementi nicht ganz trauen, so liegt das vielmehr daran, daß es vielleicht mehr eine Person als die Sache betraf. Jene Verfassungsänderung muß nämlich auch im konkreten Kontext der gegenwärtigen politischen Situation Frankreichs gesehen werden.

Von zwei konkreten Folgen einer solchen Verfassungsänderung wird ganz besonders gesprochen. Zunächst einmal würde wohl mit einer zweiten Wahl de Gaulles auch ein neues Septennat de Gaulles beginnen. Die' legale Dauer des gegenwärtigen Regimes würde damit automatisch bis gegen das Ende unseres Jahrzehnts hin verlängert. Natürlich wäre es bei der etwas labilen Gesundheit de Gaulles möglich, daß er sein hohes Amt durch höhere Gewalt nicht bis zu Ende ausfüllen könnte. Und das führt zu dem anderen Punkt, von dem auf der Tribüne wenig, in den Kulissen jedoch sehr viel gesprochen wird. Es wird nämlich angenommen, daß das „richtige Präsidialregime“ auch insofern amerikanisch wäre, als es mit einem Vizepräsidenten ausgestattet würde, der bei einem Ableben des Präsidenten automatisch dessen. Nachfolger würde.

Mollet oder Chaban-Delmas?

Es ist in den verflossenen Monaten häufig davon geredet worden, daß der Chef der Mehrheitssozialisten, Guy Mollet, den ja ein merkwürdiges Vertrauensverhältnis mit de Gaulle verbindet, zuallererst für diesen „Kronprinzenposten" in Frage käme. Das aber hat den äußerst ehrgeizigen Chaban-Delmas nicht ruhen lassen. Er hat es verstanden, in Washington von Kennedy empfangen zu werden, was heutzutage bei einem Teil der Verbündeten der USA einer inoffiziellen Investitur gleichzukommen scheint. Und mit dieser Weißen-Haus-Gloriole versehen, -hat er dann in Straßburg dem gaullistischen Fußvolk die angeblichen Pläne des Chefs des Gaullismus verkündet — wie man hört, nicht zur besonderen Freude von Premierminister Michel D e b r ė, dem im Kronprinzenrennen im allgemeinen wenig Chancen eingeräumt werden. Möglicherweise hat aber Chaban-Delmas den Stand seiner Aktien im Elysėepalast überschätzt. Nicht nur ist er als geschiedener Mann bei der ersten Dame des Staates nicht besonders gut angeschrieben (was nicht ohne Bedeutung ist). Der General selbst wird auch nicht vergessen haben, daß während der Vierten Republik der Gaüllist Chaban- Delmas seinem Chef nicht in die Einsamkeit folgte, sondern innerhalb des von diesem bekämpften „Systems“ als Minister Karriere machte.

Die Diskussion um das Präsidialregime hat allerdings jenseits solcher Personal- und Opportunitätsfragen auch ihre grundsätzliche, sogar von der Person de Gaulles gelöste Bedeutung. Zunächst einmal stecken in einem politisch so leicht fiebrig reagierenden Land in einer Volkswahl des Präsidenten gewisse demagogische Gefahren. Dann ist es auch gar nicht so sicher, daß diese Volkswahl automatisch zu dem Frankreich mangelnden Zweiparteiensystem führen würde, wie manche Theoretiker glauben. Aber das eine Gute, das die Volkswahl des Präsidenten in sich haben könnte, darf über solchen Befürchtungen nicht übersehen werden. Die Krankheit, an der Frankreich politisch leidet, ist in allererster Linie der „je-m’en-foutisme“, die „Wurstigkeit“ des Bürgers.

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