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Ist de Gaulle ein Machiavellist?

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Der begeisterte Empfang de Gaulles in den Städten und Dörfern der Normandie, wohin der Präsident vor kurzem reiste, ist ein gutes Barometer für die Stimmung im französischen Volk diesseits des Mittelmeeres. Der Beifall galt dem Manne, der Verhandlungen mit dem FLN aufgenommen hat; er brandete stets dann besonders hoch, wenn der Staatschef in seinen zahlreichen Reden vom „Frieden“ sprach. Diejenigen allerdings, die in Paris und anderswo (nicht zuletzt in Tunis!) sich auf den Text dieser Reden stürzten, um sich über de Gaulles Absichten zu informieren, wurden enttäuscht. Sätze wie „Der Frieden wird das letzte Wort haben in Algerien!“ wirken zweifellos aufs Gemüt. Aber sie verpflichten den, der sie ausspricht, zu nichts, und dem politischen Beobachter, der sie untersucht, zerfließen sie unter den Händen.

Für die Karikaturisten war die Reise des Staatschefs in die Normandie eine Begegnung verwandter Seelen. Unter den französischen Stämmen gilt nämlich der Normanne als der verschmitzte Bauer, dem nie ein klares Ja oder ein klares Nein zu entlocken ist, sondern aller-höchstens ein „vielleicht ja, möglicherweise aber auch nein“. Der Vergleich hinkt jedoch insofern, als de Gaulle durchaus präzis zu sein vermag — beispielsweise in der Außenpolitik. Aber eben: in der Außenpolitik läßt ihm die außenpolitische Interesselosigkeit des Franzosen weitgehend freie Hand. „Verschwommen“ werden de Gaulles Äußerungen bezeichnenderweise dort, wo er nicht freie Hand hat, sondern allen-orts auf zäh verteidigte Interessen stößt: in der Innen- und der Algerienpolitik.

Böse Mäuler haben die Fünfte Republik so definiert: „Genau das gle'che wie vorher, aber es wird dazu auf die Pauke gehauen.“ Es fragt sich bloß, auf welche Eigenheiten der verblichenen Vierten Republik man damit anspielen will: auf den in ihr meist üblichen „Immobilismus“ oder auf den kühnen Ausbruchsversuch von Mendes-France. Ans letztere scheinen vor allem jene französischen Nationalisten zu denken, die unermüdlich die Gleichung „de Gaulle = Mendes“ an die Hauswände malen und das in einem durchaus „vernichtenden“ Sinne aufgefaßt haben wollen. Es gibt aber auch Verteidiger von de Gaulle, die dasselbe mit umgekehrten Vorzeichen sagen: „Der General will das gleiche wie Mendes, aber im Gegensatz zu diesem weiß er, wie man so etwas dem Franzosen psychologisch beibringen muß ...“ Will man diesen Stimmen glauben, so stellen de Gaulles fortwährende Berufungen auf die „grandeur“ Frankreichs nichts anderes als eine Lokalanästhesie dar, die erlaubt, dem Franzosen gewisse längst überfällig gewordene Zähne zu ziehen.

Zu Pauke und Clairon gehört aber auch List. In den wehrerzieherischen Büchern, die de Gaulle vor dem zweiten Weltkrieg geschrieben hat, stößt man des öfteren auf die Versicherung, daß zu den Qualitäten eines Chefs nicht nur Mut, Entschlußkraft und ähnliches zähle, sondern auch die List. Die klügeren Gaullisten stellen des Generals Algerienpolitik folgerichtigerwase als eine Art von Springprozession dar, bei der die „Unvorbereitetheit“ des französischen Volkes auf die schmerzlichen Anpassungen, die die neuen weltpolitischen Realitäten erforderten, ihn zwinge, zwei Schritte vorwärts immer wieder durch einen Schritt rückwärts auszubalancieren. Gewiß habe de Gaulle in diesem Frühjahr nach seiner Rundfahrt bei der Algerienarmee vorsichtigerweise seine Selbstbestimmungspolitik in Worten ein wenig zurückgenommen. Gleichzeitig aber habe er damals zum erstenmal gegen- die Parole vom „französischen Algerien“ diejenige des „algerischen Algeriens“ ventiliert. Genau so stehe es nun auch mit der Fahrt durch die Normandie. Gewiß habe er in den dort gehaltenen Reden den in Melun zutage getretenen Rückschritt gegenüber der Radioansprache vom 14. Juni bestätigt: es sei nun plötzlich nicht mehr von politischen, über den bloßen Waffenstillstand hinausgehenden Verhandlungen die Rede. Gleichzeitig habe er aber doch zum ersten Male davon gesprochen, daß Algerien eine eigene „Regierung“ haben werde — das sei doch revolutionär. Mehr könne man im Augenblick angesichts des Widerstandes von Premierminister Debre wirklich nicht verlangen.

Hierzu ist aber zu melden, daß der französischen Linken nun angesichts der ständigen Berufung auf die Bremsertätigkeit des Premierministers der Geduldsfaden gerissen ist. Ihre bestinformierten Blätter — „France-Observateur“ und, ,Le Canard enchaine“, der weit mehr als ein bloßes Witzblatt ist — behaupten nun ganz offen, daß dieser angebliche Gegensatz zwischen dem Staatschef und seinem Premier ein abgekartetes Spiel sei. Es würde de Gaulle keine Mühe machen, einen unbotmäßigen Regierungschef von der Bühne zu fegen; der nach wie vor treu ergebene Debre habe vielmehr die undankbare Aufgabe auf sich genommen, vor der Öffentlichkeit die Verantwortung dafür zu tragen, daß der Frieden noch nicht geschlossen sei. Und gleichzeitig solle sein gemimtes Bremsen die „Ultras“ in Sicherheit wiegen.

Einen kleinen Einblick in das Maß an Pressefreiheit, das es in Frankreich noch gibt, bietet diese unverblümte Analyse von „France-Observateur“: „Indem er durchblicken läßt, daß die von den französischen Vertretern in Melun vorgetragenen Bedingungen nicht seine Bedingungen seien, indem er weiter unterstreicht, daß er, im Gegensatz zu dem in Melun Gesagten, allein über Opportunität und Zeitpunkt seines Treffens mit Ferhat Abbas entscheide, bemüht sich de Gaulle, sowohl gegenüber den Algeriern wie den Franzosen als der .Schiedsrichter' zu erscheinen — und mehr noch: als die .letzte Zuflueht' (dernier .recours') . .. Seine Absicht ist, im Hinblick auf die sich anspinnende diplomatische Partie die persönliche Position des französischen Staatschefs so zu verstärken, daß in aller Augen der Friede von ihm als letzter Instanz abhängt.“

Die Gefahr eines so komplizierten Spieles ist allerdings, daß es mit der ebenso schnellen wie brutalen Entwicklung -in “Afrika'' nicht Schritt halten kann. Die zu den Grundreflexen der Fünften Republik gehörende Neigung, u rh jeden Preis innerfranzösischen Bürgerkriegsspannungen auszuweichen, kann sich munter Umständen zu einer Lähmung auswachsen.

Vor allem aber vermag ein Zuviel an Taktik, an List den „Mythos de Gaulle“ zu zersetzen, der doch in der heutigen Situation zu den wesentlichen Guthaben Frankreichs gehört. Generäle sind oft zu absichtliche und zu augenfällige „Machiavellisten“, wenn sie aus der ihnen vertrauten militärischen Welt mit ihren klaren und eindeutigen Verhältnissen in die Politik einsteigen. Man hat de Gaulle schon vorgeworfen, daß er den Machiavellismus ad absurdum führe: so etwa, wenn er an einem Empfang erst dem linksoppositionellen Politiker A durchaus zustimmt und dann zehn Schritte weiter dem rechtsoppositionellen Politiker B gegenüber sich gleich verhält. De Gaulle schuf sich seinen Mythos durch sein unbedingtes Verhalten im Jahre 1940, und dann ein zweites Mal, als er sich 1946 brüsk von der „Politik“ als einem zu frivolen Mixen zurückzog. Es fragt sich, was der heutigen Lage Frankreichs angemessener ist: das Lavieren oder das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.'“.

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