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Sieben böse Jahre

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Am 1. November des zu Ende gehenden Jahres war der algerische Bürgerkrieg genau sieben Jahre alt. Wenige Wochen später erreichte er jenes kritische Datum, das die Gegner des französischen Staatspräsidenten zum bitteren Hinweis berechtigte, er habe nun unter dem Regime de Gaulles ebenso lange gedauert wie unter dessen Vorgängern. Wenn man sich erinnert, daß gerade die Hoffnungen auf eine rasche Beendigung des Krieges den General durch einen erfolgreichen Militärputsch am 13. Mai 1958 an die Macht getragen haben, dann kann man Bitternis und Enttäuschung ahnen, welche in einer derartigen Feststellung liegen. Sie werden von den unablässigen Beteuerungen des Staatschefs nicht gedämpft, die den Frieden in Algerien' als unmittelbar bevorstehend bezeichnen. Man muß im Gegenteil feststellen, daß die Hoffnungen fortschreitend der Skepsis,

wenn nicht gar einem offenen Zynismus weichen.

1961: Jahr der Verhandlungen

Welche Entwicklungen hat das algerische Problem 1961 durchlaufen, und welche Schlüsse müssen daraus gezogen werden? Das markanteste Ereignis dieses Jahres ist wohl die Tatsache, daß Verhandlungen offiziell eingeleitet worden sind und weiterhin von beiden Seiten gewünscht werden. Sowohl die französische Regierung wie die provisorische algerische Regierung in Tunis sind dadurch gezwungen worden, ihren Vorstellungen über die Zukunft Algeriens präzisen und detaillierten Ausdruck zu verleihen. Es ist dabei keine vollständige Eini*- gung erzielt worden, aber in einigen Fragen kam es zu beträchtlichen Annäherungen der Standpunkte; vor allem von französischer Seite.

Die Verhandlungspositionen sind seit der Pressekonferenz de Gaulles vom 5. September und der Pressekonferenz Ben Kheddas vom 24. Oktober unverändert. Meinungsdifferenzen bleiben vor allem in den folgenden drei Punkten auszuräumen:

1. Die algerischen Nationalisten würden ein Befriedungsverfahren vorziehen, das ihnen sogleich die Unabhängigkeit zugestände und die Verhandlungen über die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien erst in zweiter Phase folgen ließe. Ben Khedda hat jedoch gleichzeitig auch die Mitwirkung des FLN am französischen Prinzip aufrechterhalten, das die Unabhängigkeit über die Selbstbestimmung erstrebt.

2. Die vom FLN geforderte Souveränität über die Sahara ist von de Gaulle und verschiedenen Mitgliedern der französischen Regierung wiederholt in sehr verklausulierten Erklärungen andeutungsweise konzediert worden. Für Frankreich ist weniger die politische Souveränität über die Sahara wichtig als die Garantierung einer fortgesetzten wirtschaftlichen Nutzung.

3. Die französische Regierung beharrt auf einem Sonderstatut für die europäische Minorität in Algerien, das durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen gewährleistet sein müßte.

Der gescheiterte Aprilputsch

Das zweite Ereignis, das neben der Aufnahme offizieller Verhandlungen die algerische Entwicklung prägte, ist der gescheiterte Militärputsch vom 22. April. Er kennzeichnet den radikalen Bruch zwischen der Verband-

lungspolitik de Gaulles und den französischen Siedlern in Algerien. Eine große Zahl meuternder Offiziere schloß sich der Organisation der Geheimen Armee (OAS) an, die dadurch einen gewaltigen Aufschwung erlebte und starke Sympathien unter der europäischen Minorität gewinnt.

Durch Terror an den Verhandlungstisch: das Beispiel des FLN hat Schule gemacht. Wie der FLN wird auch die

OAS durch ihre Illegalität nicht daran gehindert, zu einer entscheidenden politischen Größe zu werden. Das „Maximalprogramm“ Salans, die Sezession Algeriens und die Niederschlagung der algerischen Rebellion aus eigener Kraft, ist zwar nicht realisierbar. Aber es liegt durchaus im Vermögen der OAS, die Durchführung einer ihr nicht genehmen Einigung zwischen dem FLN und Paris unmöglich zu machen. Im Unterschied zu den algerischen Nationalisten wird ihr die Arbeit durch eine gewisse Konspiration von Armee und Behörden erleichtert.

Die „beiden Arme"de Gaulles

Anderseits hat der 22. April auch gezeigt, daß Paris nicht mehr im unmittelbaren Aktionsradius eines Militärputsches liegt. Aber es wäre wohl falsch, daraus zu schließen, daß nicht noch einmal ein Funke des algerischen Brandes auf die Metropole überspringen könnte. Vielleicht wird die Stabi-

lität der französischen Algerienpolitik etwas überschätzt. Die Vagheit der offiziellen Bekundungen schafft nicht nur einen größeren Verhandlungsspielraum, sondern ist auch geeignet, die Tatsache zu verbergen, daß es so etwas wie eine klar umrissene französische Algerienpolitik gar nicht gibt. Die Methode ist experimentell; man versucht das eine, ohne das andere zu lassen, und vermeidet es, sich zu stark zu engagieren. Premierminister Debre und Algerienminister Joxe wirken oft wie die beiden Arme de Gaulles; der Satz von der Linken, die nicht weiß, was die Rechte tut, gewinnt dabei seine volle Bedeutung.

Gegenwärtig ist Joxe am Zuge, durch dessen zähen Verhandlungswillen de Gaulle die Chance einer Einigung mit dem FLN ä fonds explo- rieren möchte. Der skeptische Debre begnügt sich jedoch nicht damit, das Untersuchungsergebnis abzuwarten, sondern schreitet zu Störaktionen, die den Kontakt mit dem FLN vorsätzlich kompromittieren. Dies wurde bei der Verhaftung des früheren Präsidenten des algerischen Parlamentes, Fares, und während des Hungerstreiks Ben Bellas deutlich. Die Animosität führt so weit, daß Debres geheime „Anti“- OAS-Kommandos in Algerien (Organisation Clandestine du Contingent) den von Joxe unterstützten Anti-OAS- Trupps (Comitė de Defense Rėpubli- caine) einen kleinen Privatkrieg liefern. Debres Konzeption Von der algerischen Zukunft laufen die Machenschaften der OAS nämlich durchaus nicht zuwider.

Ein ähnliches Bild bietet sich im Lager der algerischen Nationalisten. Ben Khedda, der am 28. August als Vertreter der jungen Generation der „Neutralisten“ Ferhat Abbas in der Führung ablöste, muß seine ganze Energie aufwenden, um den FLN auf seinem Kurs zu halten. Es darf nicht vergessen werden, daß eine große Anzahl Rebellen schon seit langem die Internationalisierung des Konfliktes fordert, und nicht davor zurückschrecken würde, eine verstärkte Hilfe aus dem Osten zu bemühen.

Also doch: Teilung?

Was also, wenn die Verhandlungen scheitern sollten oder die zunehmende •Entartung der .Lage in Algerien eine geordnete Durchführung des erarbeiteten Abkommens unmöglich machte? Es ist höchst unwahrscheinlich, daß man sich in diesem Falle jener von de Gaulle verschiedentlich apostro-

phierten Möglichkeit zuwenden würde, den Krieg durch ein vollständiges „Degagement“ zu beenden. Frankreich erwüchsen dadurch gewaltige Kosten, und außerdem würde es von einer runden Million unzufriedener und politisch höchst unberechenbarer Rückwanderer überschwemmt. Mit wohl zwingender Logik böte sich in diesem Moment die von Debre heute insgeheim und mit umsichtiger Geschicklichkeit geförderte Idee einer Teilung Algeriens an. Eine durchaus nicht unmögliche Umgruppierung würde die europäische Bevölkerung zusammen mit den sympathisierenden Muselmanen in den wirtschaftlich besonders reichen Gebieten um Algier und Oran sammeln. Die Sahara verbliebe ebenfalls unter französischer Kontrolle. Und würde die Schaffung einer derartigen „Französischen Republik Algerien“ durch die OAS-Revolution nicht ebenso moralisch gerechtfertigt wie das algerische Algerien durch die Rebellion des FLN?

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