6698607-1963_18_06.jpg
Digital In Arbeit

Algerien und seine Nachbarn

Werbung
Werbung
Werbung

Die nordafrikanische oder „maghre-binische“ Entwicklung des ersten Quartals nach dem Jahreswechsel 1962/63 — dem ersten nach Algeriens Unabhängigkeitserklärung, von drei selbständigen Maghreb-Ländern registrierten — ist durch ein einzigartiges „Insichkehren“ der drei unterschiedlichen Staatsregime gekennzeichnet, begleitet von der gegenseitigen Isolierung und Abkehr vom Gedanken selbst eines lose „vereinten Maghreb“ oder auch nur einer gemeinsamen Haltung gegenüber der übrigen Welt. Nach der Aushebung angeblich komplottierender Regimegegner durch Burgibas Sicherheitspolizei in Tunesien und die im Grund nicht neue Entdeckung, daß diese mehr oder weniger der panarabischen, in Tunesien „jus-sufistisch“ genannten Bewegung anhängenden Antiburgibisten starken Rückhalt in Ben Bellas ebenfalls „pan-arabisierenden“ Algerien besitzen, sänken die algerisch-tunesischen Beziehungen auf den Nullpunkt. Sie wurden auch durch die sogenannte maghrebinische Außenministerkonferenz von Rabat im Februar wie die Vermittlungsdienste des dritten maghrebinischen Herrschers, König Hassan von Marokko, höchstens fassadenmäßig gekittet. Für das wahre Verhältnis zwischen Algerifyi und Tunis gilt nach wie vor ein vom algerischen Außenministerium kurz nach Eröffnung des burgibistischen Schauprozesses gegen die „Komplotteure“ veröffentlichter Kommentar: „Wir betrachten die Krise des Burgiba-Regimes als Ausdruck einer logischen innertunesischen Entwicklung.“ König Hassan von Marokko zwar, der auf einige Verdienste um Bildung und Aufbau der früheren „Grenzarmee West“, der algerischen Aufständischentruppen auf marokkanischem Boden, verweisen kann — jener Armee, der Ben Bella die Machtergreifung in Algier allein verdankt —, hamsterte noch schnell einen poussierlichen Staatsbesuch in der algerischen „Volksrepublik“ ein, ehe die Auseinanderentwicklung auch zwischen Algier und Rabat spektakuläre Formen annahm.

Königliche Rundreisen

Während Burgiba Verwaltung und Polizeiapparat von „panarabisieren-den“ Elementen, das übrige politische Leben von Linkskräften aller Schattierungen säuberte und schließlich das Politbüro der tunesischen Staatspartei „Neodestour“ zur bedingungslosen Unterstützung seines persönlichen Regiments verpflichtete, löste sich Hassans als „königliche Präsidialdemokratie“ neu aufgezäumtes absolutistisches Regime vom bisherigen Bündnis mit der letzten zwar bürgerlichen, jedoch allenfalls noch maghrebino-nationa-listischen Partei, der „Istiklal“ des einstigen marokkanischen National-neiden Allal-el-Fassi. Seine Hauptfeinde, die von einem gesamtmaghrebi-nischen Sozialismus träumende Volksunion, hatte der Monarch schon im Dezember vorigen Jahres anläßlich einer Verfassungsabstimmung ausmanövriert, indem er sich als Che-rifen-Nachkomme und „Kommandeut aller Gläubigen“ persönlich auf die plebiszitäre Ebene begab, eine Vermischung von Religion und Politik, die in Marokko von vornherein totalen Erfolg garantiert. Seine konservierende persönliche Herrschaft durch Wahlen zu untermauern, die das der Fünften Republik de Gaulles nachkopierte Verfassungswerk immerhin vorsieht, ließ er schließlich in Form

der sogenannten „Verfassungsfront“ eine eigene Königspartei gründen. Den inneren mit dem außenpolitischen Kurs verbindend, nützte der Herrscher außerdem geschickt die gegen-

wärtige, durch Neualgeriens sozialistischen Drall indirekt ausgelöste Sympathiewelle in Westeuropa und Amerika für Marokkos „vernünftiges Königtum“, sich als Gast Kennedys in den USA propagandistisch feiern zu lassen und nachfolgende Werbefeld-züge durch de Gaulles Frankreich sowie dessen bundesdeutsche Ostprovinz vorzubereiten. Im Bewußtsein, daß ein also „kompromittiertes“ Regime in der unterentwickelten Welt mehr als ein „progressistisches“ auf materielle Vorteile solcher Abstützung bedacht sein muß, sind die königlichen Rundreisen selbstverständlich mit Hilfeersuchen sowie einigen rührseligen

Shows, wie die Verwandlung der amerikanischen Luftbasen in Marokko zu sozialen Betreuungszentren, verbunden.

Flucht nach vorne?

Algerien ging nach anfänglichem Verhalten inzwischen entschiedener denn je die Gegenrichtung. Tatsächlich lebten die algerischen Machthaber seit dem Vertragsschluß von Evian mit Frankreich im Widerspruch zwischen sozialistischer Ambition und der mit der vertraglichen französischalgerischen „Cooperation“ zumindest stillschweigend unterstellten Auflage, die alte kolonial-bürgerliche Struktur weitgehend zu erhalten. Tatsächlich konnte im Jänner mancher Beobachter, ja mancher insgeheim „verbürgerlichte“ Aufstandsheld noch glauben, daß der algerische Volksdemokratismus reines Aushängeschild bleiben, die bittere Abfuhr Ben Bellas wegen seiner erklärten Fidel-Castro-Freund-schaft durch Amerika, gefolgt vom Ausbleiben erhoffter US-Hilfsgelder, ihn an das skeptische, jedoch schließlich zu den vertraglichen Hilfen bereite Frankreich binden, der also Belehrte sich mit einem „verflüchtigten“ Sozialismus begnügen würde. Ja Ben Bella schien im Grund nur eine gesichtswahrende Form des von Marokko und Tunesien vorgegangenen Weges, vor allem des Ausgleiches mit dem französisch-westeuropäischen Wirtschaftsblock — als verbreiterte Neuauflage der „Cooperation“ — zu suchen. Als Morgengabe für diese Vernunftehe erwarteten gewisse Optimisten sogar die Rückführung der faktisch bereits kollektivierten sogenannten „biens vacants“ — Güter und Unternehmen geflüchteter französischer Siedler — in eine Art algerischfranzösischen Gemeineigentums.

Die letzten Märztage bescherten der Morgenluft witternden Alt- und Neubourgeoisie Algeriens wie ihren stillen Sekundanten in Paris indessen Ben Bellas unerwartet plötzlichen „Sprung nach vorn“ — Skeptiker sprechen auch von einer Flucht nach vorn —; zunächst in Form überstürzter Enteignungsdekrete. Diese erklären die „biens vacants“ endgültig zu Volkseigentum, setzten die totale Enteignung selbst im Land gebliebener französischer Supercolons in Gang, annullieren, rückwirkend bis zum Unabhängigkeitstag jeglichen Erwerb französischen Vermögens durch algerische „Neukulaken“, um jeglichen Ansatz zu einem einheimisch-bürgerlichen Zusammenspiel mit französischem „Neokolonialismus“ zu verhindern.

Modell: Fidel Castro

Ben Bellas eigener Kommentar zu dieser „neuen Phase der algerischen Revolution“ kündigt überdies die Kollektivierung jenes wie überhaupt sämtlichen Landbesitzes über 50 mittelgute Hektar an. Weniger die Dekrete selbst als die Umstände, unter denen sie erlassen und ausgeführt wurden, bedeuten allerdings eine Lösung der ben-bellistischen Machtabstützung von Kräften, die allenfalls noch für westliche Vorstellungen als Partner einer „Kollaboration“, für Rabat und Tunis einer maghrebinischen Assoziation tragbar schienen. Algeriens Ministerpräsident suchte nämlich den Beifall für seine neue Politik nicht mehr beim alten, nach wie vor mit sogenannten gemäßigten Elementen durchsetzten Partehpparat der FLN noch bei der zwar agrar-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung