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Die verfeindeten Brüder

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Als eine Frage über Leben und Tod bezeichnete der Außenminister der provisorischen algerischen Regierung, Saad Dahlab, die Verwirklichung der Zusammenarbeit mit Frankreich; eine Frage, die von der Gewährleistung der Sicherheit, dem Respekt vor Gesetz und Staat und der Aufrechterhaltung von Verwaltung und Disziplin abhängt. Andernfalls - so folgerte Saad Dahlab — wird sich das Ausland nicht mehr in dem Maße für uns interessieren wie bisher. Mit dieser Warnung hat er nicht nur den Ernst der Krise im FLN charakterisiert, sondern auch einen Gesichtspunkt aufgezeigt, dessen Eindringlichkeit sich wohl kein algerischer Politiker entziehen kann; sei er nun ein ungeduldiger Revolutionär, ein dissidenter Soldat oder ein ehrgeiziger Streber, der sich von regionalen oder sozialen Sonderströmungen an die Macht tragen lassen will.

Es könnten also genügend Gründe angeführt werden, die es den verfeindeten algerischen Brüdern dringend erscheinen lassen, sich zu versöhnen oder doch zumindest ihre Differenzen mit Methoden auszutragen, die den Aufbau ihres Staates nicht ernstlich gefährden. Außerdem haben die ersten Tage der algerischen Unabhängigkeit gezeigt, daß es hier um mehr geht als um einen bloßen Wettlauf um die Macht. Als erster in Algier eintreffen heißt noch nicht zum ersten algerischen Staatschef erkoren sein. Ben Khedda könnte es ähnlich ergehen wie jenem Hasen aus der bekannten Fabel, der vom Igel überlistet wurde; denn wenn der Nationalrat der algerischen Revolution wirklich die letzte Instanz des FLN ist, wird sich Ben Khedda früher oder später diesem Gremium stellen müssen, wo ihm Ben Bella — der dort über eine komfortable Mehrheit zu verfügen scheint — munter zurufen könnte: „Ich bin schon da.“

Mit dem Einmarsch der in Tunesien und Marokko stationierten Truppen der algerischen Befreiungsarmee hat sich der Einfluß Ben Bellas auf die regionalen FLN-Organisationen konsolidiert. Die provisorische algerische Regierung Ben Kheddas stützt sich im Moment noch auf die autonome Zone von Algier, Kabylien, den größeren Teil der Provinz von Konstantine, eine Minderheit des Ouarsenis und den Verband in der Metropole. Die Anhänger Ben Bellas sind in den Basen im Osten und Westen des Landes, in bedeutenden Abschnitten der Provinz von Konstantine und des Ouarsenis und vermutlich auch in der Sahara verankert. Paris wartet ab

Paris, soweit es sich überhaupt noch um Algerien kümmert, sieht sich zunächst vor der Frage, auf welch Weise diese Ereignisse die Vereinbarungen von Evian beeinflussen. Es kann sich dabei vernünftigerweise nicht um eine Kontrolle handeln, ob das vorgezeichnete Programm auf den einzelnen Buchstaben und die Minute genau respektiert wird. Vielmehr geht es darum, das Prinzip und den Geist einer französisch-algerischen Zusammenarbeit unbeschadet über die Durststrecke dieser Anfangswirren zu brin« gen.

Es ist also kein Unglück, wenn die provisorische Exekutive die Wahl einer konstituierenden Versammlung um einige Tage auf den 12. August verschoben hat; und dies natürlich unter Berücksichtigung der inneren Reibungen des FLN. Vielleicht muß man sogar befürchten, daß die Vertragstreue Ben Kheddas eine gewisse Gefahr birgt, denn es wäre der Aufrechterhaltung der Ordnung wahrscheinlich zuträglicher gewesen, wenn sich der FLN — wie dies ursprünglich geplant war — stärker an der provisorischen Exekutive beteiligt hätte. Vermutlich' wollte sich Ben Khedda jedoch nicht noch mehr mit den „Neokolonialisten“ identifizieren, um der radikalen Opposition keine zusätzlichen Angriffsflächen mehr zu bieten. Damit hat er aber gleichzeitig einen Wunsch Ben Bellas erfüllt, der auf eine deutlichere Trennung zwischen der provisorischen Exekutive und dem FLN — im Sinne der Evianer Vereinbarungen — gedrängt hatte, um Ben Khedda an der Schaffung vollendeter Tatsachen zu hindern.

In den von der Befreiungsarmee kontrollierten Regionen ging man mit den Papieren von Evian allerdings etwas wehiger zimperlich um und löste die lokalen Ordnungskräfte der provisorischen Exekutive kurzerhand auf. Die Organisation der Verwaltung ist also höchst verworren und die anhaltende Unsicherheit nicht dazu angetan, die europäischen Siedler von der Flucht abzuhalten.

Gemäßigte und Revolutionäre?

Man darf sich fragen, welcher Natur eigentlich die Gegensätze sind, die den FLN in zwei Gruppen zu spalten drohen. Gewiß tragen persönliche Rivalitäten dazu bei, die politischen Meinungsverschiedenheiten zu verschärfen. Aber mit dem Wegfallen des gemeinsamen Feindes drängen doch Diskrepanzen an die Oberfläche, die ihren Ursprung in der Geschichte des algerischen Befreiungskampfes, in regionalen Besonderheiten und in der Verschiedenheit der politischen Erfahrungen haben. Sie werden sich unmißverständlich miteinander auseinanderzusetzen haben, wenn das neue Direktionskomitee geschaffen wird, das die Kandidatenliste für die Wahl der konstituierenden Versammlung ausarbeiten muß.

Falsch ist es jedenfalls, das getreue Team Ben Kheddas als „gemäßigt“ zu charakterisieren, denn Revolutionäre sind sie alle. Der Begriff „revolutionär“ läßt allerdings im arabischen Sprachgebrauch eine beträchtliche Skala von Deutungen zu, so daß eine sorgfältige Differenzierung not tut. Das revolutionäre Temperament Ben Bellas - und dies erklärt seinen starken Einfluß auf die Massen — ruht vor allem in einem gewissen arabischislamischen Selbstbewußtsein. Daraus ergibt sich ganz natürlich die Anlehnung an die panarabische Bewegung und das forcierte Ressentiment gegenüber dem Kolonialismus. Kommt dazu, daß die in Tunesien und Marokko stationierten Truppen ihren „Kampfesdurst“ nie stillen konnten und nun mit einer Art Minderwertigkeitsgefühl zu den Kommandos aus dem Landesinnern stoßen. Die Dialektik ist aber deswegen nicht weniger eingefleischt als bei den Revolutionären um Ben Khedda, die ihre Dynamik mehr den Vorstellungen einer sozialistischen Wirtschaftsentwicklüng zuwenden und damit eher bei der Stadtbevölkerung Gehör finden, deren Sicherheitsbedürfnis durch die Schrek-ken des Krieges ganz entscheidend zugenommen hat. Der Unterschied zwischen den beiden revolutionären Gruppen liegt also mehr in der Akzentsetzung. Neigt Ben Khedda eher zu einem nationalistischen Sozialismus, so strebt Ben Bella anderseits mehr zu einem sozialistischen Nationalismus.

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