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Ultras: diesmal Siindenbock

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Im Vorbeigehen wenigstens sei eine andere, reichlich phantastische Hypothese zu den in Frage stehenden Ereignissen in Algerien erwähnt. Nach ihr sind jene Attentate ein Werk oder zumindest ein Ergebnis einer Provokation der Ultras, die so die Verhandlungen zwischen de Gaulle und dem FLN torpedieren wollen. Das erscheint uns jedoch recht unglaubwürdig. Selbst wenn den Ultras ein solcher Machiavellismus zuzutrauen wäre, so sähe man doch noch nicht, wie sie ihn, zwischen den FLN und den Paris treuen Kräften in Verwaltung und Armee geklemmt, auch durchführen könnten. Und dann sind die Ultras, seit de Gaulle ihrer Herr geworden zu sein scheint, ein allzu beliebter Sündenbock für alles und jedes geworden, als daß man nicht von vornherein mißtrauisch würde, wenn ihnen noch etwas mehr aufgebürdet wird. Auch jene Behauptung, sie hätten im Dezember vor allem jene Mohammedaner auf dem Gewissen gehabt, deren Tod die Algerierdemonstrationen auslöste, hat sich ja ziemlich in Luft aufgelöst — es ist nämlich inzwischen bekanntgeworden, daß das in Frage kommende Kaliber, entgegnt, dęn Behauptungen ,allzii,,eifrir ger Regierungssprecher, durchaus , den •Ordnungskräften verwendet wircL-

Die „Harten“ und die „Weichen“

Was also bleibt von all den Gerüchten? Etwas zeichnet sich ab: daß der FLN kein einheitlicher Block ist. Es wäre jedoch falsch, das nun sensationell zu interpretieren. Es handelt sich um Gegensätze, die sich bei jeder Resistance ganz von Natur ergeben. Solche Gegensätze haben auch während des zweiten Weltkrieges zwischen der Exilregierung de Gaulles und der innerfranzösischen Resistance bestanden. Für die Maquisards an Ort und Stelle sind die Leute von der „auswärtigen Organisation“ (um einen Ausdruck des de Gaulle von heute zu verwenden) stets diejenigen, „die es schön haben in ihren Villen", während man selbst Blut, Schweiß und Tränen schwitzen muß. Und für die Leute „außen“ sind die im Maquis eben Männer, die zwar Mut, aber „keine Übersicht und keine Weitsicht“ haben. Und selbstverständlich findet auch eine Art von Selektion statt: „Gemäßigte“ passen eher in die Exilregierung, „Radikale“ jedoch in den Untergrund. Ganz abgesehen davon, daß der Untergrund an sich eine Schule der Radikalisierung ist. Der „Monde“ hat in diesen Tagen mit Recht darauf hingewiesen, daß die in Tunis sitzenden Chefs des FLN alle auch eine Beziehung zu Frankreich als Ganzem, also auch zu seinen guten Seiten, haben; die jungen Leute jedoch, die den Kern des Maquis bilden, kennen Frankreich nur als Feind.

Diese Gegensätze bestehen sicherlich. Es wäre jedoch ein Irrtum, wenn Paris sie allzu extensiv in seine Rechnung einsetzen würde. Etwa so, daß es hofft, den GPRA, die Exilregierung in Tunis, gegen den Maquis ausspielen zu können. Einen Bao-Dai gibt Ferhat Abbas denn doch nicht ab. Oder indem man beim GPRA eine Nötigung zu einem schnellen Friedensschluß voraussetzt, weil .jeder Tag Krieg mehr die „Harten“ im Maquis gegenüber den „Weichen“ in Tunis um ein Stück mehr stärkt. Es scheint sich vielmehr zu bewahrheiten, daß der GPRA die

Instanz anzurufen sucht, die zur Überbrückung solcher Spannungen innerhalb des FLN da ist: nämlich den 54 Köpfe starken „Conseil N a-

tional de la Revolution a 1 g ė r i e n n e“ (CNRA) — eine Art von kleinerem Parlament, das nach FLN-Auffassung oberster Träger der algerischen Souveränität ist, während der GPRA (Gouvernement pro- visoire de la Republique algėrienne) nur seine ausführende Delegation ist;

Dieser CNRA, dessen einzelne Mitglieder nicht bekannt sind (und dem auch einige Franzosen angehören sollen), setzt sich laut „Monde“ folgendermaßen zusammen: die Hälfte der Sitze sei den militärischen und politischen Chefs des Maquis Vorbehalten, ein Viertel den Politikern in Tunis und das letzte Viertel den Gewerkschaftern der dem FLN angegliederten „Union Generale des Travailleurs Algeriens“ (UGTA). Der 1956 gegründete CNRA hat bisher nur dreimal getagt, denn — wie schon seine Zusammensetzung zeigt — es ist außerordentlich schwierig, ihn zusammenzurufen. Es ist jedoch anzunehmen, daß alles versucht .wird, um ihn in diesen Tagen an einem Ort zu vereinigen. Denn nur vom CNRA kann ausgehen, was dem FLN allein eine starke Stellung in allfälligen Verhandlungen mit de Gaulle verschaffen kann: eine Ein-

heitsfront sämtlicher Richtungen im FLN. Etwas vom schwierigsten wird dabei sein, die Gewerkschafter von ihrer Forderung nach sofortiger sozialer Revolution und Verstaatlichung beim Eintritt Algeriens in die Unabhängigkeit abzubringen — das würde es de Gaulle ja unmöglich machen, wenigstens eine Zeit lang noch einen Teil der französischen Interessen in Algerien zu bewahren. Das heißt: es würde Verhandlungen todsicher blok- kieren.

Es ist jedoch voreilig, in diesem CNRA von vornherein einen Gegner von Verhandlungen zu sehen — bloß weil in ihm der Maquis das Übergewicht hat. Entscheidet sich der CNRA für Weiterführung des Krieges, so kommt er um die Annahme der so lange schon aufgedrängten rotchinesischen und notabene auch vietnamesischen Hilfe nicht länger herum. Ein erheblicher Teil der algerischen Maquisführer hat jedoch in französischer Üniform in Indochina gekämpft und weiß darum auch, daß das Geister sind, die man am Ende eines gewonnenen Feldzuges nicht einfach wieder mit einem freundlichen „Dankeschön“ nach Hanoi und nach Peking zujück- schicken kann…

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