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Affekt gegen die Wirklichkeit

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Die Geschichte der französischen Rechten ist eine Geschichte unaufhörlicher Spaltungen. Unter diesem Gesetz stehen schon ihre Anfänge als Phänomen der modernen Politik — Anfänge, die ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts fallen. Damals begann auf dem rechten Flügel der fran- rösischen Politik sich die Erkenntnis lurchzusetzen, daß man nicht einfach lie Zustände vor der großen Revolu- ion wiederherstellen könne. Und es begann ein neuer Impuls diesen Flügel m beleben: Damals wanderte der Na- :ionalismus, der seit 1789 eine Sache ler Linken gewesen war, zur Rechten linüber; während die Linke sich unter lern wachsenden Einfluß des Marxis- nus 2u internationalisieren begann, veränderte der Nationalismus an dem įeuen Standort seine Färbung: aus :iner optimistischen, von expansivem Sendungsbewußtsein erfüllten Idee vurde er zu einem defensiven „Re- /anchegefühl", das bezeichnenderweise völlig auf die Zurückgewinnung von :twas Verlorenem, nämlich von Elsaß- -othringen, gerichtet war. Doch wäh- end sein einer großer Sprecher, 1 a r.r ė s, die ganze französische Tra- lition — die der Könige sowohl wie lie der Revolution und Napoleons — jejahte, klammerte der andere, der Heoroyalist M a u r r a s, haßerfüllt dies aus, was auf die Monarchie ge- olgt war.

Schon an dieser Spaltung litt die ranzösische Rechte beträchtlich. Sie var jedoch nur die erste in einer langen Kette von Bruderzwisten. Mit dem ufstieg des Dritten Reiches spaltete ;ich die Rechte in einen deutschfeind- ichen und einen deutschfreundlichen Zweig, und daraus wurde dann die bis reute andauernde Aufsplitterung in .Vichy“ und „Resistance“; Es gab vährend des zweiten Weltkrieges nicht įur eine Rechte, die mit der deutschen lesatzungsmächt zusammenarbeitete sder zumindest einen Modus vivendi nit ihr suchte — es gab ebensosehr, vfie eben ; die' - Lebensgeschichten der neisfeTäM Aprilputsch votfA'l'giet bė lie aktivsten Widerstandsgruppen ge- ren ebendiese Besatzungsmacht stellte. Die nachträgliche Umdeutung der .Resistance“ in eine reine Angelegenheit der Linken ist eine grobe Ge- chichtsfälschung.)

Und quer zu dieser hauptsächlichen Spaltung legten sich zahlreiche andere, leispielsweise war die französische 1 echte in ihrer Mehrheit stets für den ozialen Status quo (weshalb für viele Zruppen der Antikommunismus zum Mittelpunkt ihrer Ideologie wurde) — iie hatte aber immer auch einen so- :ialrevolutionären Flügel aufzuweisen, ler den von der Linken „versäumten" imbau von Gesellschaft und Wirtehaft nachholen wollte. Nicht einmal ler Antisemitismus verbindet die ge- amte Rechte, obwohl das viele Leute rlauben. Während des Suezabenteuers wurde eine ausgesprochen israelfreundliche Fraktion im französischen Rechtsextremismus sichtbar, und der israelische Rechtsextremismus blieb die Antwort nicht schuldig: entgegen allen Dementis von jüdischen Organisationen ist es in den algerischen Wirren zu aktiver Zusammenarbeit von früheren Mitgliedern des „Irgun" und der „Stern“-Gruppe mit den Ultras gekommen (wobei sich die im Kampf gegen England erprobten Juden notabene über den fröhlichen Dilettantismus der europäischen Bevölkerung Algeriens in Sachen Straßenkampf und Untergrundorganisation entsetzt haben sollen). Eine Parallelerscheinung dazu an der Oberfläche ist die Sinneswandlung, welche in den letzten Jahren manche Presseleute jüdischer Herkunft in Algerien durchmachten: als Anti- Ultras angekommen, doch dann beeindruckt von der durch ständige Pogromgefahr gezeichneten Lage der autochthonen jüdischen Minderheit inmitten der mohammedanischen Bevölkerung, von den militärischen und zivilen Ultras recht häufig mit offenen Armen in die „weiße Solidarität" gegen die Araber aufgenommen, verließen sie Algerien, wenn nicht gerade als „Ultras“, so doch mit wesentlich anders akzentuierten Wertungen.

Die bittere Abdankung

Bei so vielen Spaltungen ist es erstaunlich, daß die Rechte heute gleichwohl ein Subjekt der Politik ist, mit dem de Gaulle bei jeder seiner Handlungen rechnen muß. Was sie zu einer Einheit verbindet, ist in erster Linie ein mächtiger Affekt — ein Affekt, der, wie so vieles andere im heutigen Frankreich, seine Wurzeln im Algerienkrieg hat.

Die Bestimmung dieses Affekts macht man sich meist zu leicht. Die Bitterkeit über die Abdankung einer einstigen Weltmacht macht ihn nicht allein aus — sie ist bloß sein sichtbarster Teil. Auch andere europäische Nationen haben über die Welt ver- ,,stneate kPosltkatea iqräumen iittüsfltn : sind vom Rang erster Mächte zu dem mittlerer Mächte oder igardarMntenlb ! gesunken. Aber alle diese Nationen hatten ihre Auffangstellungen: die Holländer hatten, auch als ihr Reich sich über den Erdball erstreckte, zu Hause den intim-bürgerlichen Stil nie aufgegeben; die Spanier und später die Engländer konnten sich in ihre Riten und ihre Formelwelt zurückziehen; die Deutschen besitzen ihre erstaunliche Fähigkeit, weite Strecken ihrer Vergangenheit zu verleugnen und ständig Neuanfänge in neuem Gewände zu inszenieren. Wenn Frankreich die Nation ist, in der der machtmäßige Abstieg am ehesten zu Explosionen zu führen droht (und notabene in kleinerem Umfang ja bereits geführt hat), so liegt das in erster Linie daran, daß dieser allzu bewußten Nation jegliche Fähigkeit eines solchen naiven Neuanfangens abzugehen rheint.

pitulation. De Gaulle hingegen wil uns zum gleichen nötigen, aber mi Trara — wir sollen unter Clairon geschmetter als Weltmacht abdanken Das aber ist noch viel schmählicher so werden wir zu Hanswursten...'

Zweifellos tut die Rechte de Gaull damit Unrecht, denn der alte Mani im Elysėe ist eisern davon überzeugt daß Frankreich mit anderen Mitteln - mit der Atomwaffe, mit seiner tech nischen Intelligenz, durch geschickt' Ausnützung der sich veränderndei Weltlage — seine alte Weltstellun; zurückzugewinnen vermöge.

Tatsache jedoch ist, daß ein Schicht der Franzosen die Pille aucl in der von de Gaulle zubereitetei Soße nicht schlucken will. Zwar han delt es sich um eine Minderheit; dies Minderheit umfaßt aber möglicher weise die aktivsten Elemente des fran zösischen Volkes. Das ist die eigent liehe Tragik von de Gaulles „Politil der grandeur". Was jedoch das Probier der französischen Rechten noch er schwert, ist der Umstand, daß dieser Affekt auch ganz „moderne“ revolu , tionäre Bestandteile beigemischt sind

Von einem davon haben wir hie schon anläßlich des Aprilputsches ge sprochen: vom „Aufstand gegen di Geschichtsphilosophie“. In der Übet zeugung, daß es die geschichtliche Fa talität nur für den gebe, der sie an erkenne, daß es keine ein für allem! vorgezeichnete Bahnen gebe, außer d in den Tod — in dieser Überzeugun steckt mehr von den modernste Denkströmungen, als dem einzelne Offizier oder Ultra bewußt ist. Es wir

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