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Des Westens offene Wunde

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Welche Veränderung hat sich im politischen Klima Frankreichs vom Herbst 1958 bis zu diesem Herbst vollzogen! Damals, vor zwei Jahren, hatte der drohende Aufmarsch in Bürgerkriegsstellungen aufgehört, das Land schien seine Einheit wiedergefunden zu haben, und in der Welt hatte Frankreich einen Rang zurückgewonnen, den es zwei Jahrzehnte lang nicht mehr gekannt hatte. Heute marschieren die Rechte und die Linke wieder in die Bürgerkriegsstellungen ein, die Mitte verödet, im Ausland ist Frankreich wieder zum schwarzen Schaf für seine Verbündeten und zur schwachen Stelle der Allianz geworden.

Was diese Veränderung bewirkt hat, weiß jedermann. Vor zwei Jahren erwartete die Mehrheit der Franzosen von General de Gaulle, daß er dem Algerienkrieg ein vernünftiges Ende setzen werde, und auch ein erheblicher Teil der Welt teilte diese Meinung. Selbst bei Frankreichs Kriegsgegner, dem FLN, rechnete damals eine Mehrheit der Führungsschicht damit, daß man über kurz oder lang zu einer Einigung kommen werde. Heute sind diese Hoffnungen auf eine Verständigung zwischen den Kriegsgegnern begraben, und wer an einer vernünftigen Lösung überhaupt ein Interesse hat in beiden Lagern, hofft nur noch auf den Deus ex machina, einer Intervention von außen.

Der Algerienkrieg aber ist mehr denn je die Bleikugel, welche den Aufstieg Frankreichs zu einem blühenden Gemeinwesen (wozu so viele Voraussetzungen vorhanden wären) blockiert. Darüber hinaus ist der Algerienkrieg die schwärende Wunde am Körper der gesamten westlichen Welt: sie macht es Moskau und Peking leicht, das Verhältnis des Westens zu der entstehenden „dritten Welt“ der sich emanzipierenden farbigen Völker zu vergiften. Dabei dürfte das Verhältnis zu dieser dritten

Welt, die trotz mancher Grenzverwischungen mit der kommunistischen Welt nicht identisch ist, vermutlich in den kommenden Jahren für den Westen zum politischen Problem Nr. 1 werden...

ALLE WEGE FÜHREN ZU DE GAULLE

Wer trägt die Schuld daran, daß diese so gefährliche Wunde immer noch offen ist? Die Verlockung ist groß, alle Schuld auf einen einzigen Sündenbock abzuladen. Der Algerienkonflikt, der mehr ist als der Algerienkrieg, ist ein so komplexes Gebilde geworden, daß der Knäuel der Verantwortungen, der verpaßten Lösungen und der unentrinnbaren Entwicklungen nur noch schwer zu entwirren ist. Gleichwohl muß nach der Verantwortung des Mannes gefragt werden, der, zumindest theoretisch, über die größten Machtmittel verfügt, die seit dem ersten Napoleon je ein französischer Staatschef in seinen Händen vereinigt hat. Die Frage nach der Verantwortung muß bei de Gaulle ansetzen, weil ihm vor zwei Jahren alle beteiligten Lager Vollmacht zur Lösung des Konfliktes erteilt haben: nicht nur vier Fünftel der Franzosen, sondern auch die westlichen Verbündeten, Chruschtschow, die Neutralen und, wenn man ehrlich sein will, selbst der FLN. Und alle diese verschiedenen Lager haben bis weit in dieses Jahr hinein stillschweigend gebilligt, daß de Gaulle — neben der Verteidigungspolitik und der Außenpolitik seines Landes — die Algerienpolitik zu seiner „persönlichen Domäne“ erklärte, in die ihm niemand hineinzupfuschen habe.

Nun darf man sich allerdings auch das „Problem de Gaulle“ nicht zu einfach machen. Die Versuche der Gegner dieses Mannes im In- und Ausland, ihn mehr oder weniger verhüllt entweder als machtgierigen Diktaturaspiranten oder dann als senilen Großpapa hinzustellen, sind unsachlich und töricht. Bei allen Eigenarten, die ihn insbesondere außerhalb Frankreichs manchem unheimlich machen, muß festgestellt werden, daß de Gaulle heute im Kern ein durch und durch vernünftiger Mann ist. Die Sturheit und gewisse Züge des Vabanquespielens, die ihn während seiner ersten Regierungszeit auszeichneten (und zur Zeit des „Freien Frankreichs“ wohl auch notwendig waren), sind von ihm abgefallen. Seit seinem zweiten Machtantritt hat er sich zur allgemeinen Überraschung al9 ein Staatsmann erwiesen, der bei aller Selbstgewißheit liebenswürdig und vermittelnd zu sein weiß, der die fundamentalen Freiheiten nicht mehr als nötig verletzt und sogar zu „lavieren“, zu „finassieren“ weiß.

„PATER PATRIAE“

Aber was in der an unnötigen Spaltungen leidenden französischen Innenpolitik heilsam zu sein vermag, kann sich auf algerischem Boden als die falsche Medizin erweisen. Das eigentliche Handikap von de Gaulies Algerienpolitik ist, daß ihm für sie von vier Fünfteln der Franzosen aus ganz verschiedenen Gründen Vollmacht erteilt worden ist. Der rechte Flügel seiner damaligen Mehrheit erwartete von dem General eine strenge Aufrechterhaltung des Status quo. Der linke Flügel erhoffte von dem einstigen Chef der Resistance, daß er Algerien in die Unabhängigkeit entlasse. Und die Mitte, die wohl die zahlenmäßig überwiegende Mehrheit seiner Wähler ausmachen mochte, sah in ihm den Mann, der zwar dem Kolonialsystem in Algerien ein Ende machen, dieses Land aber in enger Verbundenheit mit Frankreich bewahren werde.

Daß dieser mittlere Weg derjenige war, den de Gaulle in Algerien von Anfang an einschlagen wollte, kann heute kaum mehr bezweifelt werden. Aber er stand auch von Anfang an vor der Frage, ob er dieses Ziel erreichen könne, ohne zuvor einen der beiden Flügel seiner Plebiszitmehrheit von 1958 (nämlich der rechten) oder vielleicht sogar beide zusammen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln an die Wand zu drücken. Beide Flügel sind Minderheiten; auch die „Ultras“, die zwar unter der weißen Bevölkerung Algeriens eine Mehrheit darstellen mögen, innerhalb des gesamten französischen Volkes aber nur einen schwachen Bruchteil ausmachen. Jedoch: es sind ausgesprochen „aktivistische“ Minderheiten. Minderheiten dieser Art verstehen nur eine Sprache: die Härte. Die sachlichen Kritiker de Gaulies sehen es denn auch als seinen entscheidenden Fehler an, daß er nie hart gegen die Extreme zugeschlagen hat, auch nicht nach dem zweiten Putsch von Algier.

TALLEYRAND AM FALSCHEN PLATZ

Man hat es als bloße Romantik angesehen, daß de Gaulle nie die Rolle des Schiedsrichters über den Parteiungen hat aufgeben wollen und auch dem französischen Kommunisten und dem französischen Faschisten „Pater Patriae“ zu sein sich bemühte. Es spricht jedoch zumindest für sein Verantwortungsbewußtsein, daß er sich die Entscheidung in diesen Dingen stets schwergemacht hat. Sein Zögern ist ja nicht nur darin begründet, daß das eine Extrem, die „Ultras“ des Putsches vom 13. Mai 1958, ihn überhaupt an die Macht gebracht haben. Vor allem scheut sich de Gaulle, seine Person einzusetzen, weil hinter ihm ja keine Auffangstellung eines „anderen de Gaulle“ mehr da ist, in dem die Nation ihre Einheit wiederfinden könnte. Die Männer, die heute in Frankreich solche Auffangstellungen vorbereiten — handle es sich nun um Pinay oder Altpräsident Coty oder jemand anderen —, haben alle nicht das Gewicht des Mannes, der im Mai 1958 in seinem Champagnedorf darauf wartete, von der Nation gerufen zu werden.

De Gaulle hat in der Algerienpolitik nie das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders...“ ausgesprochen. Er suchte seine vermittelnde Lösung durch List und Zermürbungstaktik durchzusetzen. Immer wieder versuchte er die Flügel glauben zu machen, daß er insgeheim ihre Politik auszuführen suche. Jeder Schritt vorwärts wurde durch einen rückwärts wieder relativiert. Diese Talleyrand-Taktik mag unter wesensgleichen Mächten, die von vornherein auf einen l Ausgleich abzielen, das Richtige seini Sie ist verfehlt in einem Kampf, der in sich schon- die radikalen Elemente hochgespielt hat und in den erst noch von außen der Sturmwind einer weltweiten Emanzipationsbewegung hineinbläst.

Das Ergebnis von zwei Jahren Talleyrand-Taktik in der französischen Algerienpolitik ist denn auch, daß die Extreme gestärkt und radi-kalisiert worden sind: jene beiden „feindlichen Meuten“, von denen de Gaulle in seiner Rundfunkansprache gesprochen hat, die des „sterilen Immobilismus“ (== die Ultras) und die des „vulgären Aufgebens der Positionen“ (= die französischen Gesinnungsfreunde des FLN). Jene mittlere Lösung aber hat sich unter dem schillernden Sturzbach vieldeutiger Worte aufgelöst. So verzweifelt de Gaulle sich auch bemüht: wenige mehr vermögen sich unter seinem „algerischen Algerien“ etwas Konkretes vorstellen und noch weniger scheinen dafür ihre Haut riskieren zu wollen.

DIE MOHAMMEDANER SETZEN SICH AB

Die Symptome für das Auseinandertreiben auf die extremen Lösungen hin haben sich in diesen Tagen gehäuft. So hat das Verhalten der algerischen Studenten bei dem von der Ultra-Mehrheit innerhalb der Studentenschaft der Universität Algier beschlossenen Streik am Tag der Eröffnung des Lagaillarde-Prozesses sensationell gewirkt. Zum ersten Male seit Beginn des Algerienkrieges leisteten sie zusammen mit einer „liberalen“ Minderheit unter den weißen Studenten den Ultras Widerstand. Und deren Kampfruf „Französisches Algerien!“ setzten sie nicht etwa die de Gaullesche Parole „Algerisches Algerien!“ entgegen. Sie riefen vielmehr nur „Lagaillarde an den Galgen!“ und „Der Faschismus kommt nicht durch!“, und die Berichterstatter gewisser Blätter der Rechten behaupten sogar, von ihnen den Ruf „Ferhat Abbas an die Macht!“ gehört zu haben.

Ein anderes deutliches Symptom dieser Art ist außerdem, daß sich in der bisher mit Frankreich zusammenarbeitenden Schicht der Algerier die verzweifelten Rückversicherungsversuche mehren. Dreizehn der von den Franzosen zu Abgeordneten gemachten Algeriern haben politische Verhandlungen mit dem FLN gefordert. Das will bei der sonstigen Gefügigkeit dieser „Abgeordneten der Verwaltung“ etwas heißen. Notabein der Gegend von Oran haben einen ähnlichen Schritt unternommen. Und die etwas deutlicheren Versprechungen einer „algerischen Republik“ mit eigener „Regierung, Institutionen und Gesetzen“, die de Gaulle in seiner Rundfunkansprache gemacht hat, werden diese Absetzbewegung kaum bremsen — daß dieses autonome Algerien in „Wirtschaft, Technik, Schulen und Verteidigung“ mit Frankreich verbunden bleiben soll, ist ja wohl etwas, worauf sich der FLN heute, der Rückendeckung sowohl der kommunistischen wie der neutralen Welt sicher, kaum mehr einlassen wird.

„VERRAT EINE SACHE DES DATUMS“

Für die Radikalisierung am anderen Flügel ist recht charakteristisch eine Anekdote, der man Glauben schenken darf, weil immerhin der „Le Monde“ sie bekanntmachte. Als bei den kürzlichen Unruhen im Quartier Latin die Polizei befehlsgemäß auch auf alles einhieb, was „Französisches Algerien!“ rief — vielleicht gerade, weil man sie in letzter Zeit des geheimen Einverständnisses mit dem Rechtsextremismus bezichtigte —, kam auch ein etwa 15jähriger Junge unter die „Walze“. Der betreffende Polizist soll jedoch sofort mit dem Knüppeln aufgehört haben, als der Junge weinend ausrief: „Aber ich, ich bin doch nicht für das französische Algerien — ich bin doch Algerier!“

Nichts könnte den Riß, der auch auf dieser Seite den Staat von einem Teil seiner Bürger trennt, deutlicher machen, als diese noch vor einem Jahr undenkbare Umkehrung der gewohnten Verhältnisse: Heute gibt man sich also als Staatsfeind zu erkennen, wenn man ein Gebiet auf ewig für französisch erklärt, das nach dem Wortlaut der Verfassung immer noch ein Bestandteil der „einen und unteilbaren Republik“ ist...

Am zugespitztesten wird dieser Widerspruch in dem in Paris begonnenen „Prozeß der Barrikaden“, über den wir bereits berichtet haben.

Wie sehr die Algerienaffäre mehr denn je in einer Sackgasse steckt, wird auch daran deutlich, daß de Gaulle in seiner Ansprache nun offiziell von der Möglichkeit eines Lösungsversuches gesprochen hat, den bisher nur das kleine

Häufchen der Linksgaullisten zu ventilieren wagte: nämlich von dem eines „einseitigen Waffenstillstandes“. Gemeint ist die Idee, daß die französischen Truppen zu einem bestimmten Zeitpunkt von sich aus die Kampfhandlungen einstellen sollen — außer in „Fällen legitimer Selbstverteidigung“. Auch eine solche Vorstellung entspringt noch Talleyrandschen Gedankengängen: in dem „revolutionären Krieg“, in den Frankreich in Algerien verwickelt ist, würde eine solche „treve unilaterale“ vom Gegner zweifellos als französische Kapitulation verstanden.

Daß der Mann, der mit dem Gedanken eines solchen Ausweges sich abgibt, mit dem Rücken zur Wand steht, zeigt auch seine beschwörende Mahnung an die Algerier, sich nicht in die Hände der „imperialistischsten und kolonialistischsten Macht, die es je gegeben hat“, nämlich der Sowjetunion, zu geben. Immerhin: ganz scheint der FLN noch nicht ins rote Lager übergegangen zu sein. Der algerische Exilpräsident Ferhat Abbas hat kurz vor de Gaulles Rede in seinem Interview für skandinavische Blätter doch wieder etwas Wasser in den in letzter Zeit so reichlich servierten Rotwein gegossen. Und wenn man gewissen inoffiziellen Äußerungen Chruschtschows glauben will, hat dieser trotz der immer stärkeren antirussischen Ausfälle de Gaulles die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, Frankreich doch noch einmal gegen Deutschland ausspielen zu können. Massive Beweise für eine mehr als rhetorische rotchinesische Intervention aber stehen noch aus.

Man täusche sich jedoch nicht darüber, daß Algerien in einen totalitären Sog geraten ist, der es eines Tages verschlingen könnte. Der Algerienkonflikt ist ein Krankheitsprozeß, der sich nicht — wie der lange Zeit allein ans Bett zugelassene Arzt so lange zu glauben schien — mit der Zeit von selbst ausheilt. („Wartet ab, ihr werdet schon sehen“, hat dieser Arzt immer wieder gesagt.) Im Gegenteil: mit jedem Tag, den er länger dauert, wird eine für Frankreich, den ganzen Westen und sicher auch für die Algerier selbst sinnvolle Lösung weiter in die Ferne gerückt.

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