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Melun und kein Friede?

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Daß die Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und dem FLN in Melun so bald nach ihrer Aufnahme in eine Sackgasse geraten sind, überrascht. Denn zum mindesten in de Gaulles Umgebung ist der Wunsch nach einer Verständigung mit dem FLN groß. Es ist auch nicht anzunehmen, daß man in Paris den FLN derart unterschätzt, um von ihm jene „bedingungslose Kapitulation“ zu erwarten, zu der man ihn offiziell durch die Ablehnung aller über den bloßen Waffenstillstand hinausgehenden Verhandlungen auffordert. Die französische Haltung ist nur von der „pluralistischen“ Struktur der Fünften Republik her verständlich — also vom Nebeneinander verschiedener Machtgruppen, die sich gegenseitig neutralisieren.

Dieser „Pluralismus“ ist in der Liquidation des Jännerputsches offen zu Tage getreten. Alle für die Tribüne bestimmten Verhaftungen und Versetzungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zentralgewalt der entscheidenden Machtprobe ausgewichen war. Die Ultras hatten damals vor der Armee kapituliert, nicht vor Paris, und die Armee war für ein gründliches Ausmisten im Lager der Ultras nicht zu haben, da sie vor einem Zweifronteneinsatz zurückscheute. Die Folge war, daß es. seither „drei Frankreich“ gibt: das Mutterland unter de Gaulle; die europäische Bevölkerung Algeriens (die in ihrer überwiegenden Mehrheit auf die Parolen der Ultras hört und notabene fast zur Hälfte gar nicht aus Franzosen besteht); dazwischen, als einzige Brücke zwischen den beiden, die Armee. Keines dieser drei Lager vermag die anderen zu dominieren, aber jedes kann, wenn es den Willen dazu hat, die Politik der anderen blockieren. Um so mehr, als diese Lager geographisch nicht fein säuberlich getrennt sind: es gibt Ultras auch diesseits des Mittelmeeres, bis hoch hinauf, und Paris seinerseits sucht jenseits des Meeres immer wieder Vertrauensleute in die Schlüsselpositionen zu schieben.

Daß die Fünfte Republik kein Diktaturstaat ist, weiß jedermann. Sie ist jedoch nicht einmal als „autoritärer Staat“ zu definieren, denn zu einem solchen würden durchgehende und reibungslos funktionierende Befehlsverhältnisse zum mindesten im französischen Mutterland gehören. Die breiten Massen des Mutterlandes sind zweifellos des Algerienkrieges müde, sie möchten unbeschwert in die Ferien gehen und würden sich zweifellos auch keiner Lösung entgegenstellen, die zu einer Unabhängigkeit Algeriens führen würde. Ein aktiver Beitrag zu einer Beendigung des Algerienkrieges ist jedoch von ihnen, allen Proklamationen von Gewerkschaften und anderen Organisationen zum Trotz, auch nicht zu erwarten: nach einem kurzen Aufhorchen zu Beginn der Fünften Republik sind die Massen längst wieder in ihre gewohnte Abstinenz von aller Politik zurückgesunken. „Den Algerienkrieg beenden? — das ist die Sache des Generals.“ Ganz oben in der Pyramide jedoch sitzt das kleine Häufchen von de Gaulles Gehirntrust, der verzweifelt dem Krieg ein Ende zu machen sucht, um endlich freie Hand für seine Reformpläne zu bekommen. Dazwischen aber, auf allen Rängen der politischen, administrativen und militärischen Hierarchie, sitzen überall die Feinde einer Verständigung mit dem FLN, die unzählige Möglichkeiten zur Sabotage haben. Der „Monde“, heute ein Sprachrohr de Gaulles Umgebung, ging sogar so weit, den Premierminister Debre mit seiner Umgebung) offen der Zugehörigkeit zu diesen Gruppen zu bezichtigen.

Daß die Verhandlungen sehr bald in eine Sackgasse geraten würden, war von dem Augenblick an klar, als die — im Gegensatz zu den „zivilen“ Traditionen der französischen Republik stehende — starke Beteiligung der Armee bekannt wurde. Einer der beiden französischen Unterhändler von Melun war ein General, und es wurde nicht nur dem Premierminister, sondern auch General Ely, dem Chef der vereinigten Generalstäbe, Bericht erstattet. Auch noch so „gaullistische“ Generäle dürften aber vor allem zurückscheuen, was die Einheit der Armee gefährden könnte — und das täten zweifellos Verhandlungen mit dem FLN, die über einen bloßen Waffenstillstand hinausgingen und damit die Machtstellung der Armee in Algerien in Frage stellen würden.

Bei solcher Verschränkung der Machtverhältnisse ist es kein Wunder, daß einmal mehr ein klarer Wille Frankreichs nicht sichtbar wurde. Der FLN ging auf das Verhandlungsangebot ein, weil de Gaulle ihm in seiner Rede vom 14. Juni eindeutig Verhandlungen zugesagt hat, die über den bloßen Waffenstillstand hinausgehen sollen. Die Dienste des Premierministers haben jedoch sofort verkündet, daß vorerst nur über die Waffenstreckung verhandelt werde; weitergehende Verhandlungen seien eine „spätere Angelegenheit“. De Gaulles Generaldelegierter in Algerien konterte sogleich, daß Waffenstillstandsverhandlungen notwendig auch auf politisches Gebiet führen würden. Worauf ein Sprecher des anderen Flügels sogleich bemerkte, daß die Armee auf jeden Fall in Algerien bleiben werde ...

Unter diesen Umständen fragt es sich, ob Verhandlungen zu einem Erfolg führen können, so lange in Frankreich (und notabene auch beim FLN, wo „Liberale“ und „Harte“ einander gegenüberstehen) die Machtverhältnisse nicht eindeutiger geklärt sind.

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