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Vier Tage, die La France erschtterten

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Der untenstehende Situationsbericht ist vier Tage nach der „zweiten Welle“ der algerischen Erhebung geschrieben. Die Lage hat sich inzwischen verschärft, die gaullistische Bewegung hat durch den unblutigen Putsch auf Korsika und durch die Meuterei der französischen Mittelmeerflotte Raum gewonnen. Alles ist im Fluß, alles drängt zur Entscheidung - welcher? „DieFurche“

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Der untenstehende Situationsbericht ist vier Tage nach der „zweiten Welle“ der algerischen Erhebung geschrieben. Die Lage hat sich inzwischen verschärft, die gaullistische Bewegung hat durch den unblutigen Putsch auf Korsika und durch die Meuterei der französischen Mittelmeerflotte Raum gewonnen. Alles ist im Fluß, alles drängt zur Entscheidung - welcher? „DieFurche“

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„Francaise Algerie, Francaise Algerie, Francaise Algerie“ — 800.000 Menschen leben heute in der Stadt Algier. 500.000 Europäer, 300.000 Muslims. Die 500.000 Europäer haben den Ruf angestimmt — „Francaise Algerie, Francaise Algerie“ — Tausende von Muslims quellen aus den Straßen der Casbah, ziehen mit den Weißen und fallen in den Rhythmus der Sprechchöre ein — „Francaise Algerie, Francaise Algerie“ — Die Mauern der weißen Häuser werfen das Echo zurück.

Dunkle Erinnerung — tödlicher Rhythmus, von der Masse aufgenommen. Zehntausende wissen nicht mehr, was sie brüllen, und sind nicht mehr Herr ihrer selbst. „Francaise Algerie, Francaise Algerie“ — und da, plötzlich ist das zweite Wort verschluckt: „Francaise, Francaise, Francaise“, Jetzt kann man wieder das ganze „Francaise Algerie“ hören, und es klingt wie „Franfaise tragedie“. Und man weiß plötzlich, das ist es auch — nicht, was sie meinen, aber wohin sie treiben. — „Francaise tragedie“ — die französische Tragödie, die algerische Tragödie.

„ICH FÜHLE ES ALS MEINE PFLICHT...“

Die nationale Erhebung war drei Tage alt, als sie einzuschlafen schien, als sie in ihrer Ausweglosigkeit zu zerrinnen begann. Das Leben in der Stadt war normal geworden. Der Sirokko hatte sein bleiernes Gewicht von der Stadt gehoben. Der heiße Wind vom Osten war einem brillanten Mittelmeer-Sommertag gewichen. Die Geschäfte waren geöffnet, die Muslims in der t Casbah lebten noch der Erinnerung an den vergangenen Abend, an dem sie, von den neuen Herren gerufen, vor das Gouvernement General gezogen waren, um als Zeugen der neuen Einheit, die auch die Rassen umfaßt, für die „nationale Revolution“ zu demonstrieren, die damit offensichtlich ihren Höhepunkt erreicht hatte. In der folgenden Nacht wollten hohe Militärs bereits wissen, daß General Massu einen Weg zurück suche. — Sogar die. Schuljugend, die drei Tage lang den Platz vor dem Gouvernement Generale als ihre Domäne betrachtet hatte, war wieder in die Klassenzimmer zurückgekehrt. Auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude lagerte nur mehr der Kader der nationalen Erhebung — die mit Armbinden versehenen Halbstarken von Algier: eine kleine, abenteuerlustige, disziplinierte Gruppe aus Landbesitzerssöhnen.

17. Mai, 5 Uhr abends. Innerhalb von 30 Minuten ist die Ruhe gebrochen. Aus den Haustoren, über alle Straßen quillt die nationale Erhebung wieder in das Zentrum der Stadt. Sie drängt sich vor dem Regierungsgebäude, sie ist der Rhythmus der Sprechchöre aus hunderttausend Kehlen. - Aber immer seltener brüllen sie „Francaise Algerie“, immer öfter „Vive de Gaulle“ und „Vive Soustelle“. Und etwas später, wenn 500.000 eine kompakte Masse Mensch auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude bilden, ist es nur mehr „Vive Soustelle“, „Vive Soustelle“ ...

„Vive Soustelle“ dringt wie ein Atompilz in den blauen Himmel und liegt über der Stadt Algier, während der Mann auf dem Balkon,umgeben von den Generälen und dem Wohlfahrtskomitee, das sichtlich zu seinem persönlichen Stab geworden ist, zu sprechen beginnt. — „Ich habe es als meine Pflicht gefühlt, aus Paris zu euch zu kommen. Unter euch zu sein. Trotz der persönlichen Gefahr, die damit für mich verbunden war.“

Einige Stunden später, am Abend, der vom Tosen der wildgewordenen Menge beherrscht ist, hält er eine Pressekonferenz. Fanfaren und Trommelwirbel, Sprechchöre und Marschlieder dringen vom Forum durch die Fenster herauf und bilden die Kulisse zu den Worten des neuen „Führers“.

Denn das ist er nun geworden. M. Sou-stelle, der als Kommunist seine Karriere begönnen hatte, im Krieg zum Nachrichtenchef de Gaulles wurde, nachher der Goebbels des Generals zu werden trachtete, aber daran gehindert wurde, als der General die Beziehungen zu dem ehrgeizigen Mann abbrach. — Im Schatten des Namens des Befreiers Frankreichs hatte Soustelle den Kampf um die „nationale Erhebung“ in Algerien aufgenommen. Im Schatten des Namens von de Gaulle war er auf Umwegen nach dem von Paris hermetisch abgeriegelten Algerien gekommen. „Vive de Gaulle“ schrie die Menge, als er zu sprechen begann. „Vive Soustelle“ brüllte sie am Abend.

Die nationale Erhebung in Algier ist wieder erwacht. Sie ist zu einem neuen Höhepunkt gekommen und zu einem neuen Wendepunkt. Der Wendepunkt heißt Soustelle, und der Weg, den dieser von Ehrgeiz berstende Mann vor sich sieht, ist der Weg zur Machtübernahme. Unter einem Hindenburg, der hier de Gaulle heißt. In einem Großfrankreich, das von Algerien aus erobert werden soll.

Wie war es so weit gekommen? Sind die Kolonialfranzosen Faschisten? Nun, sie waren bis zur Landung der Amerikaner jedenfalls die besten Stützen Vichys und Petains. Ihre Sympathie für de Gaulle stammt sicher nicht aus jener Zeit. Sie kommt aber aus der engen Verwandtschaft des Nationalismus der heutigen Gaullisten und der Franzosen in Nordafrika, die vollständig die Mentalität der Grenz- und Randbevölkerung hat. — In Paris ist die französische Nationalität ein Privileg. Für den Franzosen in Algerien bedeutet sie Arbeit, eine Aufgabe und den Anspruch auf das Land, das zwar mit den Mitteln des Mutterlandes und unter dessen Schutz, aber durch seinen eigenen Einsatz und durch seinen eigenen Fleiß zum blühendsten und für die Zukunft aussichtsreichsten Nordafrikas geworden ist. In ihrer Auffassung von Pflicht und Recht, in ihrer Stellung zu Disziplin und Politik, ihrer ganzen Mentalität sind die Franzosen Nordafrikas die Preußen Frankreichs.

Die Pariser Politik sahen sie als Frivolität an. Als Frivolität, die ihnen langsam neben der Verachtung auch Angst einflößte. Es war schließlich ihr Boden — Algerie Francaise —, den sie durch Paris aufs Spiel gesetzt, zum allgemeinen Ausverkauf angeboten glaubten. Sie sahen nicht den Strom von Geld, der aus dem Mutterland nach Algerien kam, sie waren sich nicht be-! wüßt, daß es zum größten Teil die Söhne des Mutterlandes sirid, die als Fallschirmjäger die FLN bekämpften und im Inneren Algeriens tatsächlich besiegt hatten. Aber sie sprachen von der „Quatschbude“ und meinten das Parlament, sie sprachen von der Notwendigkeit der nationalen Erneuerung und meinten damit die Unterdrückung aller gemäßigt Denkenden und sie sprachen von der Notwendigkeit einer autoritären Regierung und meinten de Gaulle. Algerien wurde langsam reif.

Gesamtfranzösische Rechtsorganisationen schleusten ihre aktivsten Elemente nach Algier ein. Seit Monaten besteht in der Bevölkerung bereits ein Kern der Bewegung und an seiner Spitze eine Elite!

Die Demonstrationen waren schon vorbei und einige Läden wagten schon zu öffnen, als die Stoßtrupps der Bewegung zum Forum zogen, den Platz vor dem Gouvernement Generale. Ihnen nach die Jugend. Fünftausend waren es, die sich vor dem Regierungsgebäude gesammelt hatten: ein Kreuzzug der Schuljugend, aber unter ihnen auch aufgeregtes Lumpenproletariat aus Spanien, dunkler als die Muslims, mit Frauen, die wie Zigeunerinnen aussahen und wie Hexen kreischten. Französische Halbstarke mit Armbinden hielten das Ganze zusammen — die Elite gab den Befehl zum Angriff.

Eine halbe Stunde lang spielte das Militär Verteidigung. Ueber den Wolken aus Schweiß lag ein bläulicher Himmel aus Tränengas. Der Schweiß und das Tränengas blieben unbeweglich über dem Platze liegen. An Tränengas, gewöhnt man sich.

In dreißig Minuten waren alle Autos am Forum zerstört, das eiserne Tor war mit Lastwagen gesprengt. Ein Hund wurde zertreten. Steine zertrümmerten alle Fenster im Gouvernement Generale. Die Menge aus Schuljugend, farbigem Mob und armbindengezeichneten „Ordnungstruppen“ stürmten die Zimmer.

Die Armee hatte die FLN im Inneren Algeriens so gut wie besiegt. Sie unterlag den anstürmenden Halbwüchsigen. Die Fallschirmjäger, langbeinige Männer, die sich wie Landsknechte aus dem 17. Jahrhundert bewegen und fühlen, gaben der Menge den Weg frei und verliehen der nationalen Erhebung den Schutz ihrer mächtigen Nichtintervention.

Bald erkannte man den Grund. An der Spitze des Wohlfahrtsausschusses stand General Massu, gefeierter Held der Fallschirmtruppen, unerbittlicher Kondottiere gegen die Rebellen. Mit einer Bewegung seiner gewaltigen Faust hatte er die Fallschirmtruppen hinter die Insurrektion gebracht. Mit drei Sätzen, abgehackt, mit heiserer Stimme und im Kommandoton in die Menge geschrien, hatte er die Ruhe nach dem Sturm wiederhergestellt. In einem zehn Minuten langen Gespräch hatte er den Oberkommandierenden der französischen Armee in Algerien, General Salan, davon überzeugt, daß die Armee nichts gegen die nationale Erhebung- unternehmen idürfej„ sondern ari der Spitze der Bewegung, das Aergste verhindern müsse: die Sezession Algeriens von Frankreich im Namen einer nationalen Einheit Frankreichs.

Den tapferen Soldaten aber war es schon am nächsten Tage angst und bange in der politischen Kampfarena, die sie als Toreros betreten wollten und in der sie sich schon als Opfer-stiere liegen sahen. Nachdem das nationale Wohlfahrtskomitee gegründet war, ließ Paris keinen Zweifel darüber, daß es Algerien als aufständisches Territorium, die Komiteemitglieder als Insurgenten, die Generäle als Meuterer befrachtete. Alle Verbindungslinien von und nach Algerien wurden abgebrochen. Alle Versuche der Generäle, doch noch zu Kompromißlösungen zu kommen, in den Wind geschlagen. Sowohl von Paris als auch von den Zivilisten im Wohlfahrts-'komitee. Verzweifelt bat Massu in einem der letzten Ferngespräche zwischen Algier und Paris Lacoste, wieder nach Algier zu kommen. Lieber alle Verbindungswege der Armee beteuerten die Generäle in Algier ihren Vorgesetzten in Paris, daß sie die Führung der Bewegung übernommen hatten, um den Aufstand zu verhindern, die Sezession. Plötzlich war Paris hart. Plötzlich erklärte man in Paris, man kenne nur die bedingungslose Uebergabe des aufständischen Territoriums an die Kräfte der Verfassung. Plötzlich mußte man erkennen, daß man auf Stein gebissen hatte, als man glaubte, mit eineinhalb Millionen Franzosen in Algerien und der militärischen Elite Paris seinen Willen aufzwingen zu können. Und die nationalen Politiker, die Sou-stelle und Delbecque, ließen ihrerseits auch keinen Zweifel, daß nur die autoritäre Verfassung eines neuen nationalen Frankreichs dieser Wille sei. Paris lehnte es ab, den verhinderten natio* nalen Helden Gehör zu schenken. Algier, das heißt Soustelle und Delbecque, diktierten ihnen die scharfe Tonart. Und mit der Ankunft Soustelle schwanden die letzten Hoffnungen der Militärs, Orden zu gleicher Zeit als Helden der nationalen Erhebung und als loyale Verteidiger der Verfassung zu bekommen.

Vier Tage ist die Erhebung nun alt. Mit seinem mächtigen Gascognergesicht ist Massu ihr Symbol geworden. Aber weiter ist er nichts. Als Präsident des nationalen Wohlfahrtskomitees der algerischen Sezessionsregierung isjjt er das Aussteckschild für die ambitiomerten Politiker, ritterliche Staffage für den Führer der Erhebung Soustelle.

Anders ist die graue Wirklichkeit als der Tagtraum eines ritterlichen Fallschirmjägergenerals von der Rettung des Vaterlands. General de Gaulle ist alt und wird am wenigsten von seinen politischen Managern ernstlich als Kraft anerkannt. Es ist Zeit für eine neue Generation von de Gaulles, für General Massu als Retter von Algerie Francaise, der Einheit und der Größe des Vaterlandes! Und plötzlich ist die Gloriole der Vaterlandserrettung da — von Gnaden der ambitionierten Politiker Soustelle und Delbecque verliehen. Er darf sich der johlenden Menge zeigen. Der Fallschirmjägergeneral, der seinen Tarnanzug wie einen Kettenpanzer trägt, wenn es Soustelle will, hinter dessen Rücken er dann wieder verschwindet. Als Schild des nationalen Frankreichs hatte sich Massu vor die nationale Bewegung gestellt. Als Fahnenträger der nationalen Erhebung hatte er die Führung der Sezessionsregierung — des Wohlfahrtskomitees — übernommen. Vier Tage ist die Erhebung alt, als diese Zeilen geschrieben wurden. Gascogner Massu ist ein machtloser Leibgardist ambitio-nierter Politiker, Armeegeneral Salan, dessen Ernennung zum militärischen und politischen Generalbevollmächtigten durch den Präsidenten der Republik, Coty, vom Wohlfahrtskomitee formell anerkannt wurde, ist ein zur Machtlosigkeit verurteiltes Opfer seiner eigenen Vorsicht und politischen Zwiespältigkeit geworden.

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