Im Land des Terrors

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Algerien: Tod und Terror im Norden, Ruhe in den Oasen des Südens. In der Kabylei Widerstand gegen Islamisten. Der Sturm auf Europa steht erst bevor.

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Algerien: Tod und Terror im Norden, Ruhe in den Oasen des Südens. In der Kabylei Widerstand gegen Islamisten. Der Sturm auf Europa steht erst bevor.

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Beispielloser Terror hat in Algerien während der letzten Jahre mehr als 70.000 Menschen das Leben gekostet. Allerdings ist die Situation in den Regionen des riesigen Landes sehr unterschiedlich: In der Kabylei und in den Oasen des Südens herrscht Ruhe, während im Norden ein mörderischer Bruderkrieg tobt. Nicht nur das Regime, sondern auch die fanatischen Islamisten haben längst die Kontrolle über die diversen Fraktionen, Clans und Stämme verloren. Deshalb mußte auch bezweifelt werden, ob der Besuch der "EUTroika" irgendeinen Erfolg bringen kann.

Aus der Ferne betrachtet ist die "Weiße Stadt" Algier (arabisch El Djaza'ir) immer noch eine der schönsten Hafenstädte der Welt. Amphitheatralisch steigt die Hauptstadt Algeriens aus einer riesigen, halbmondförmigen Bucht an den Hängen des Sahels empor. Das blutende Herz der Stadt schlägt in der Kasbah, wo rund 100.000 Menschen eng zusammengedrängt leben. Schon in den Jahren des Unabhängigkeitskrieges gegen die Franzosen (1954-1962) galt das 30 Kilometer lange Gassen-Labyrinth mit seinen unübersichtlichen Durchgängen, verschachtelten Häusern, den terrassenförmigen Dächern und schattigen Innenhöfen als Versteck der "Terroristen".

Die "Nationale Befreiungsfront" (FLN), die nach beinharten Kämpfen rivalisierender Gruppierungen die Führung im Krieg gegen die Franzosen übernommen hatte, schickte ihre Leute, darunter auch Buben und Mädchen, von geheimen Schlupfwinkeln in der Kasbah aus in die "französische" Neustadt, wo fast täglich Bomben krachten. Heute sind es die Drahtzieher der "Islamistischen Heilsfront" (FIS), die von der Kasbah aus operieren und ihre Autobomben hochgehen lassen.

An das Grauen des Algerienkrieges 1954 bis 1962, der über einer Million Algeriern und 25.000 Franzosen das Leben kostete, erinnert neben zahlreichen Kriegerfriedhöfen, die im ganzen Land verstreut sind, vor allem ein gigantisches Mahnmal hoch über Algier. Riesige Skulpturen, die den Freiheitskampf der Algerier von 1830 (als die Franzosen in der Nähe von Algier landeten) bis 1962, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, symbolisieren sollen, umgeben das Mahnmal. Soldaten der algerischen Armee halten Wache vor der "Ewigen Flamme", die an die Opfer der Freiheitskämpfe erinnert. Heute weinen dort, von den Spitzeln der Geheimpolizei aufmerksam beobachtet, die Mütter und Frauen islamistischer "Fundis", die von Polizei und Armee gefoltert und hingerichtet wurden.

Für die junge Generation Algeriens ist der "heroische Befreiungskrieg" gegen die Franzosen nur mehr eine geschichtliche Episode. Die brennenden Probleme der Gegenwart lassen die dramatischen Ereignisse zwischen 1954 und 1962 völlig verblassen. Die volksdemokratische Regierung, die 30 Jahre wie gebannt nach Marx und Moskau blickte, den Reichtum des Landes (Öl und Erdgas) verwirtschaftete und sich am Volksvermögen mästete, hat die anfängliche Sympathie der breiten Masse längst verspielt. Die Revolution hat, getreu dem alten Sprichwort, auch in Algerien ihre Kinder gefressen. Nutznießer des FLN-Regimes sind nur mehr die Armee und Polizei, die vom Staat bestens versorgt werden.

Polizei und Spitzel Die große Geisel des Landes heißt Arbeitslosigkeit. In Algerien leben heute rund 28 Millionen Menschen - 1962 waren es nur zehn Millionen. Wegen der extrem hohen Geburtenrate muß zu Beginn des nächsten Jahrtausends mit einer Bevölkerung von annähernd 40 Millionen gerechnet werden. Zwei Drittel der Algerier sind unter 25, die Hälfte von ihnen ohne Aussicht auf einen Job.

Die Islamisten nützten geschickt den wachsenden Haß der Massen gegen das Regime. Wie in der Türkei, in Pakistan und anderen islamischen Ländern wird in den Moscheen gegen den dekadenten Westen und den "Satan USA" gewettert und der "Heilige Krieg" gegen die Verräter des Islams proklamiert. Bei den vorläufig ersten und letzten freien Wahlen im Jahr 1992 kam es dann zu einem Erdrutschsieg der "Islamistischen Heilsfront": Sie gewann 188 von insgesamt 430 Mandaten. Zu einem zweiten Wahlgang ließ es die Regierung nicht mehr kommen. Seither dreht sich die tödliche Spirale der Gewalt, die bereits 70.000 Algeriern das Leben gekostet hat.

Selbst in den Städten des Nordens, die als relativ sicher gelten, kommt es immer wieder zu Attentaten und Mordanschlägen. Trotzdem läßt sich in den Städten ein Teil der Bevölkerung von den permanenten Todesdrohungen nicht beeindrucken. Volle Discos und unverschleierte Frauen beweisen es.

Auch in den Gebirgen der Kabylei, östlich von Algier, stoßen die Dogmen der "Heilsfront" auf Widerstand. Dort sind die Frauen unverschleiert, trinken die Männer Alkohol und essen Schweinefleisch. Viele Berber befürchten von einem islamistischen Regime eine Verstärkung der "Arabisierungspolitik". Die stolzen "Söhne der Kabylei" widersetzten sich immer wieder, auch gegenüber der Kolonialmacht Frankreich, jedem fremden Einfluß und antworteten mit blutigen Aufständen. Auch mit mächtigen Kasernenbauten konnte Algier den Freiheitsdurst nicht ersticken.

Gelassener reagiert man auf die dramatischen Vorgänge im Norden im "Land der Mozabiten", 600 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier. Die Reise dorthin ist heute lebensgefährlich, besonders für Ausländer. Autos und Busse werden immer wieder von Armee- und Polizeiposten, aber auch von Freischärlern angehalten, wobei die Insassen ausgeplündert und sogar abgeschlachtet wurden. Denn selbstverständlich nützen auch kriminelle Banden die allgemeine Unsicherheit im Lande aus.

Von einer früheren Reise her erinnern wir uns an die Bewohner des M'zab als ein eigenartiges Volk, das mit den Bewohnern Nord-Algeriens wenig gemeinsam hat. Die Mozabiten überdauerten schon den Ansturm der Römer, dann der Araber, von denen sie sich mit ihren Sitten und Traditionen stark unterscheiden. Sie sehen semitisch aus und haben viele Charaktereigenschaften der Israeliten, weshalb vermutet wird, daß sie der "verlorene Stamm" Israels seien. Ähnliches wird ja auch von den Armeniern und den Falascha, den "braunen Juden Äthiopiens", behauptet.

Andererseits wird angenommen, daß die Mozabiten Nachkommen der Phönizier seien, die der Rache Roms entgingen, als Karthago 146 n. Chr. zerstört wurde. Nach einer dritten Version sind sie Berber, gehören also zur Urbevölkerung Nordafrikas. Nur - ob Tuareg oder Rifkabyle - die Berber sind Kämpfer, was man von den Mozabiten in keiner Weise behaupten kann. Sie sind vor allem Kaufleute, und zwar die besten Nordafrikas. An Geschäftstüchtigkeit übertreffen sie sogar die Araber, Juden und Armenier. Doch wo immer ein Mozabite seine Geschäfte betreibt, eines Tages kehrt er in seine Heimat, die "Pentapolis" im M'zab zurück. Von den Arabern verfolgt, zogen sie sich in die sonnendurchglühte, regenlose Sahara zurück, bohrten 3.000 Meter tief nach Wasser und gründeten fünf Städte. Die größte ist Ghardaia. Wie alle Städte der Mozabiten ist auch Ghardaia stufenförmig übereinander gebaut, so wie eine Stufenpyramide. An der Spitze erhebt sich die Moschee. Frankreichs berühmtester Architekt Le Corbusier ließ sich bei vielen seiner Bauten vom Stil der Mozabiten beeinflussen.

Plünderungen Beni Isguen, die heiligste der fünf Städte, ist schlechthin einmalig in der Welt. Eine hohe Mauer umgibt die ganze Stadt. Die drei Tore werden mit Sonnenuntergang geschlossen. Rauchen, Radfahren und Fotografieren sind in Ben Iguen verboten! Niemals hört man in dieser Stadt Musik und Gesang. Viele Häuser haben separate Eingänge für Männer und Frauen. Fremde müssen einem einheimischen Führer folgen. Sie werden gerade noch toleriert. Freundliche Gesichter sieht man kaum.

In Ben Iguen findet man nur wenige Läden. Man kennt hier nämlich seit urdenklichen Zeiten eine einmalige Methode, um Geschäfte zu tätigen. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang findet am Marktplatz eine Auktion statt. Wer etwas verkaufen will, seien es nun Datteln, ein Radioapparat, Konserven oder ein Bett, bringt es zum Marktplatz und wandert an den potentiellen Käufern vorbei, seine Ware laut anpreisend. Bei Sonnenuntergang wird die Auktion abgebrochen. Sie wird erst am nächsten Tag mit dem letzten Preisangebot des Vorabends fortgesetzt.

Weder die Franzosen, noch das marxistische Regime konnten an den überlieferten Traditionen der Mozabiten etwas ändern. Die Regierung in Algier, die nun einen wirtschaftlich liberaleren Kurs eingeschlagen hat, ist froh, im tiefen Süden eine politische "Oase des Friedens" zu besitzen.

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