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Endlose Barbarei der „Prinzen”

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Auch der angebliche Tod des Führers der radikalsten algerischen Terrorgruppe, GIA, konnte die Gewalt in dem nordafrikanischen Land nicht stoppen.

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Auch der angebliche Tod des Führers der radikalsten algerischen Terrorgruppe, GIA, konnte die Gewalt in dem nordafrikanischen Land nicht stoppen.

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Sie kamen maskiert, mit gewetzten Messern und Äxten. Ihr Ziel waren kleine Dörfer um Algier. Ihren Opfern - viele davon Frauen und Kinder - schnitten sie die Kehlen durch. Viele wurden enthauptet, Fliehende erschossen, schwangeren Frauen wurden die Bäuche aufgeschlitzt. Sogar die Föten sollen massakriert worden sein, berichten Uberlebende. Zurück blieben ausgebrannte Häuser und Berge von Leichen.

Wieviele Tote die Nacht auf Freitag vergangener Woche forderte, ist unklar. Während offizielle Stellen den Tod von 98 Dorfeinwohnern bestätigten und von 120 Verletzten sprachen, berichteten Überlebende von über 300 Toten. Noch am selben Wochenende wurden weitere Massaker gemeldet. Auch deren Opfern wurden die Kehlen durchgeschnitten. Mädchen wurden entführt - normalerweise werden sie vergewaltigt, bevor auch sie grausam ermordet werden.

Die Schreckensnacht war freilich nur der Gipfel eines regelrechten Vernichtungskampfes der Terroristen gegen die algerische Zivilbevölkerung. In einer ersten Reaktion wurden Elitetruppen in die isolierten Dörfer geschickt; in Zukunft sollen allgemein die Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung verschärft werden. Die Behörden, die häufig zu Gewalttaten schweigen, machen die radikale „Bewaffnete Islamische Gruppe” (Grou-pe Islamique Arme GIA) für die Blutbäder verantwortlich.

Diese radikalste algerische Terrorgruppe - eigentlich ein loses Netz von teils verfeindeten Untergrundgruppen mit regional herrschenden Anführern (Emiren) - kapselte sich 1992 als radikaler Arm von der verbotenen „Islamischen Heilsfront” (FVont Islamique du Salut - FIS) ab, nachdem das Militär den drohenden Erdrutschsieg der FIS bei den Parlamentswahlen vereitelt hatte. Seither soll die GIA die meisten der vermuteten 60.000 Opfer der politischen Gewalt auf dem Gewissen haben.

Rivalisierende Gruppen

FLnde Juli meldeten Zeitungen den Tod des GIA-Emirs Antar AI Zouabri

— er soll bei einer zehntägigen Großoffensive der Sicherheitskräfte getötet worden sein. Aber es blieb bei „Berichten aus Sicherheitskreisen”; eine offizielle Bestätigung blieb aus. Tatsächlich trifft auf Algerien in abgewandelter Form das französische Sprichwort „Le roi est mort - Vive le roi!” zu: „Der Prinz ist tot - Ks lebe der Prinz”, müßte es heißen. Denn nachts, so unken die Algerier, regieren die Emire (arabisch: Prinzen). Der 27jährige Schustersohn AI Zouabri war bereits der siebente Anführer der GIA; manche wurden von Begierungstruppen getötet, andere - wie Zouabris Vorgänger Djamal Zitouni

- wurden offenbar von rivalisierenden Gruppen ermordet.

Zouabri war als besonders grausam bekannt, wenn er auch zunächst nicht so brutal vorging wie sein Vorgänger Djamal Zitouni, der die Gewaltakte zusehends auf die Zivilbevölkerung und nach Frankreich ausgedehnt hatte. Zouabris Brutalität wurde spätestens im Fastenmonat Bamadan deutlich, als er in einem „heiligen Krieg” 350 Zivilisten niedermetzeln ließ.

Alle - auch Moslems, die nicht der GIA angehören - seien „Ungläubige”, soll er gesagt haben. Auch vor der Ermordung führender F'IS-Mitglie-der machte die GIA nicht halt. Bereits die Idee eines Dialogs mit der Begie-rung gilt der Gruppe als Verrat.

Für viele Beobachter sind die menschenverachtenden Morde der Terroristen Zeichen verzweifelter Batlosig-keit. Die GIA, von deren geschätzten 20.000 Kämpfern viele Bückkehrer aus dem Afghanistan-Krieg sind, gebärde sich wie ein gejagtes Tier, analysierte jüngst eine Beporterin der Zeitung „AI Watan”. Planlos sind die Anschläge allerdings nicht unbedingt. Denn häufig zielen sie auf Fa milien, deren Söhne in den Sicherheitskräften dienen.

Gewaltverzicht?

Auch die vorzeitige Freilassung des FIS-Führers Abassi Madani beschwichtigte die Terroristen nicht. Der als moderat geltende FIS-Chef, der für öffentliche Stellungnahmen nach der Begnadigung durch Innenminister Mustafa Benmansur gerügt wurde, schrieb nach den schlimmsten Nächten seit Ausbruch der Unruhen vor fünfeinhalb Jahren in einem Brief an UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Er sei bereit, „sofort” das Fjide der Gewalt zu fordern, so Madani, der kurz darauf vom Innenministerium unter Hausarrest gestellt wurde. Es ist freilich zweifelhaft, ob Madani überhaupt noch Einfluß auf die militanten Splittergruppen nehmen kann. Eher wird dies Ali Belhadj, dem zweiten Führer der FIS, zugetraut, der weiter im Militärgefängnis sitzt, sich aber nicht von der Gewalt als Mittel zum Zweck distanzieren will. Wichtig ist hier der Hinweis, daß die FIS und ihr militärischer Arm, die „Islamische Heilsarmee” (Armee Islamique du Salut - AIS) zwar das Ziel einer islamischen Bepublik mit der GIA teilen, aber offiziell Gewaltaktionen gegen Zivilisten ablehnen. Gerüchte wollen es, daß AIS-Führer Madani Mezrag mit der Armee über einen Waffenstillstand verhandelt, was die ohnehin vorhandenen Spannungen mit der GIA noch verstärken könnte.

Hausgemachte Probleme

Viele Beobachter fürchten schon eine islamische Gewaltwelle, die über Nordafrika bis nach Europa rollt. Aber eine nationale Solidarisierung im Sinne der Terroristen ist nicht zu erwarten, und auch international gibt es allenfalls versuchte Einflußnahmen aus dem Sudan und dem Iran. Ägypten hat vorgemacht, wie mit harter - für viele zu harter -'Hand gegen Islamisten durchzugreifen ist. Für die Mehrheit der Beobachter ist das algerische Problem außerdem hausgemacht. Sie sehen nicht die Beligion als Krux der Angelegenheit, sondern die Lösung der drängenden Wirtschaftsprobleme. Nach inoffiziellen Schätzungen sind fast drei Viertel der Algerier unter 30 Jahren ohne Job. Offiziell liegt die Arbeitslosenrate nach jahrelanger sozialistischer Mißwirtschaft bei 28 Prozent. Kombiniert mit akutem Wohnungsmangel und dem Frust über Korruption wächst eine'desillu-sionierte Jugend heran, die leicht mit vorgeblichen religiösen Heilslehren fehlgeleitet werden kann.

Auf der Suche nach einer besseren wirtschaftlichen Zukunft buhlt Präsident Liamine Zeroual derzeit um ein neues Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, das von europäischer Seite mit einer Menschen-rechtsklausel verbunden werden soll. Außerdem hofft die Begierung auf günstige Bedingungen in den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds in bezug auf seine Schulden in Höhe von rund 40 Milliarden Dollar. Die Begnadigung Madanis sei hauptsächlich ein Versuch Zerouals, westliche Investoren von den demokratischen Absichten seiner Begierung zu überzeugen, vermuten Beobachter. In das Bild paßt, daß Zeroual zwei moderat islamistische Parteien mit abgeschwächten Wahlprogrammen bei den Parlamentswahlen teilnehmen ließ, sowie die Ankündigung von Kommunalwahlen am 23. Oktober. Angesichts der angedeuteten Bereitschaft Zerouals, den Dialog mit gemäßigten Islamisten zu suchen, ist fraglich, welchen Widerstand die Hardliner des Militärs leisten werden. Die bevorstehende Ernennung des ihm nahestehenden Generals Tayeb Derradji zum Gendarmeriechef deutet jedenfalls aufwachsenden Spielraum des Präsidenten hin.

Ol- & Gasschätze

Bein von den Zahlen her befindet sich die algerische Wirtschaft wegen steigender Ölpreise und wachsender Auslandsinvestitionen schon seit 1994 im Aufwärtstrend. Der Schatz des Landes

- die großen Öl- und Gasvorkommen

- liegen weitgehend unberührt in der südlichen Sahara. Anschläge auf Pipelines in Bichtung Küste sind die Ausnahme geblieben. Diese auf den ersten Blick überraschende Tatsache erklären manche Beobachter damit, daß die Terroristen offenbar realistisch genug sind, Algeriens Haupteinnahmequelle nicht zu zerstören und sich damit das Wasser im Fall einer Machtübernahme abzugraben. Da dies zwangsläufig aber auch die Aufrechterhaltung des Handels mit dem verhaßten Westen bedeuten würde, der 90 Prozent der Exporte abnimmt, bleiben Fragen offen.

Schlimme Gerüchte wollen es gar, daß korrupte Offizielle im Wolfspelz der GIA Massaker veranstalten, um sich Einfluß und persönliche Vorteile zu sichern. Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Human Bights Watch” ist tatsächlich kaum nachzuvollziehen, wer hinter den einzelnen Taten steckt: Während die militanten Gruppen gern Uniformen als Tarnung wählen, tragen die Sicherheitskräfte häufig Zivil.

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