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Radikale aller Länder lernen voneinander

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Wir lesen erschüttert von religiös motiviertem Morden ohne Ende, in Ägypten, vor allem aber in Algerien. Befinden sich die Menschen der islamischen Länder, ähnlich der Situation, die sich in Afghanistan entwickelt hat, unaufhaltsam auf dem Weg zur gegenseitigen Selbst-zerfleischung? Der französische Orientalist Gilles Kepler hat vor zehn Jahren eine Dissertation über die Wurzeln und den Werdegang der is^ lamistischen Bewegungen geschrieben, die nun, um zwei Kapitel erweitert und auf den gegenwärtigen Stand der Dinge gebracht, unter dem Titel „Der Prophet und der Pharao” auch in deutscher Sprache erschien. Es ist wohl der Charakter der wissenschaftlichen Arbeit, welche dazu geführt hat, daß sie in der Teheraner Tageszeitung „Keyhan” in Fortsetzungen erschien und eine arabische Piraten-Übersetzung bei Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen islamistischen Strömungen als Referenzwerk Verwendung findet.

Radikale Bewegungen hat es auch im Islam immer wieder gegeben. Bei der aufmerksamen Lektüre von Ke-pels Arbeit entdeckt man jedoch, daß die Entwicklung der radikalen islamistischen Strömungen der Nachkriegszeit erstaunliche Parallelen zur Entwicklung der Radikalenszene Europas aufweist. Im Weltdorf weiß man nur zu gut, was beim Nachbarn passiert, und versucht, Erfahrungen verwandter Geister zu verwerten. Doch läuft die Verwertung keineswegs als einfache Imitation ab.

Stets am Galgen gelandet

Spezifisch für den Islam waren stets die Prediger, die Gelehrten islamischen Rechtes, Theologen in unserer Sicht. Kepler erwähnt den Pakistaner Mawdudi als einen der ersten derartigen Theoretiker eines modernen integristischen Islams. „Die vier Grundbegriffe des Korans”, sein Hauptwerk, schrieb er 1941. Doch das, was wir jetzt erleben, hat seinen Ursprung im Ägypten der zwanziger Jahre. 1928 gründete Hassan al Ban-na in Ismailia am Suezkanal die Vereinigung der Muslimbrüder. Diese steht konzeptuell noch im Rahmen der allgemeinen Auflehnung gegen die englische Kolonialherrschaft.

Das Ziel lag für die Muslimbrüder allerdings nicht, wie für die Vertreter fortschrittlicher Tendenzen, in einem modernen, freien Ägypten, sondern in der Errichtung eines islamischen Gottesstaates nach Vertreibung der Engländer. Über die folgenden Jahrzehnte des Kampfes um die Unabhängigkeit der einzelnen Staaten hatten die Muslimbrüder starken Einfluß auf alle Strömungen im mohammedanischen Raum, die eine religiöse Alternative zu den weltlichen Bewegungen suchten.

Nach 1945 wurden die Muslimbrüder von radikaleren Gruppen abgehängt. Doch erst in den siebziger Jahren, mit dem offensichtlichen wirtschaftlichen Mißerfolg der Vertreter der weltlichen Ideologien, die vorrangig den Kampf gegen die Kolonialmächte geführt hatten, entstanden die Verhältnisse, welche für

breitere Schichten der Bevölkerung den islamistischen Extremismus zur glaubhaften Alternative machten.

Mit äußerster Genauigkeit verfolgt Kepel den Werdegang der einzelnen Pührerpersönlichkeiten und ihrer jeweiligen Gruppen. Im Ägypten Nassers, Sadats und Mubaraks landeten sie früher oder später stets am Galgen.

Ein Abraham a sancta Clara?

Doch neue Führer nahmen ihre Plätze ein, mit noch radikaleren Thesen. Die wichtigsten von ihnen sind wohl Sayyid Qutb, Mustafa Schukri, Scheich Kischk und Salam al Faraj. Sayyid Qutb war ursprünglich Romanautor und Journalist, wurde 1955 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt und schrieb 1964 als Häftling das als Grundwerk der Islamisten betrachtete „Wegzeichen”.

Es beginnt mit einer Prinziperklärung: „Die Menschheit steht ... am Rande des Abgrunds ... wegen ihres Versagens im Bereich der ,Werte'. ... Nachdem die Demokratie' in der westlichen Welt Bankrott anmelden mußte,” hätten sich viele den Theorien des Ostblocks zugewandt. Doch am Ende seien individualistische wie kollektivistische Ideologien fehlgeschlagen: „Die Menschheit braucht unbedingt eine neue Führung! ... Die Zeit des Islam ist gekommen.”

Daß die arabischen Regimes aller Richtungen ihren Bürgern nichts als steigende Arbeitslosigkeit zu bieten haben, nimmt 30 Jahre später diesen Worten in den Augen der Bewohner der Elendsviertel und der verarmenden Bauern nichts von ihrer Glaubwürdigkeit.

Auf der Grundlage von Sayyids Schriften gründete Mustafa Schukri seine „Gemeinschaft der Muslime”. Er war jedoch ein Mann der Praxis.

Prediger des neuen Islams wird Scheich Kischk, eine Art von islamischem Abraham a Sancta Clara:

„Seine volkstümliche, bisweilen pöbelhafte Redekunst verhalf ihm zu einem beachtlichen Erfolg. Doch da er schon früh die Erfahrung der nasseristischen Konzentrationslager gemacht hatte, stellte er sein Talent nicht in den Dienst des Regimes. Statt dessen übernahm er die Rolle eines strengen Kritikers der Werte und Einstellungen der Gesellschaft, die sowohl im moralischen als auch im sozialen und politischen Bereich mit dem Islam, so wie er ihn versteht, nicht im Einklang stehen.”

Kassetten mit seinen Predigten sind heute Dauerrenner im gesamten arabisch sprechenden Raum. Schließlich verfaßte Abd al Salam al Faraj, ein Mitglied der Gruppe „Heiliger Krieg”, welche Sadat tötete, eine kurze Schrift mit dem Titel „Die unterschlagene Pflicht” -nämlich die Pflicht der Muslime, den heiligen Krieg gegen den unrechten Herrscher zu führen. Faraj beruft sich dabei auf Ibn Taiyyma, einen Rechtsgelehrten des neunten (islamischen) Jahrhunderts, der eine Deutung des Korans erstellte, die es dem guten Gläubigen zur Pflicht macht, einen schlechten Herrscher und seine Anhänger zu töten.

Europäische Vorbilder

Die islamistischen Bewegungen standen angesichts der Unterdrückung durch das Regime immer wieder vor der Wahl, sich anzupassen, um zu überleben, oder aus der Gesellschaft auszutreten, um in Geheimorganisationen zu leben und zu wirken. Scheich Kischk versteht sich immerhin als, wenn auch bedingungsloser, offizieller Oppositioneller. Schukris „Gemeinschaft der Muslime” und ähnliche Gruppie-

rangen verstanden sich dagegen als völlig außerhalb der bestehenden Gesellschaft stehend.

Folgt man Kenels Beschreibungen der einzelnen Gruppen und ihrer Schicksale in der Zeit, fällt immer wieder die Parallelität mit europäischen politischen Entwicklungen auf.

Bis in die sechziger Jahre hinein denkt man, ähnlich den westlichen Kommunisten dieser Periode, an Agitprop, Unterwanderung und selbst den Stimmzettel als möglichen Weg zur Macht. Mit Sayyid Qutbs „Wegzeichen” steigt man, wie in Kalifornien, aus der Gesellschaft aus, mit Schukri gründet man in den sechziger und siebziger Jahren unabhängige Kommunen von jungen Leuten, während die extremen Gruppen schädliche Persönlichkeiten ermorden. Schukris Hinrichtung Ende 1977 beendet die Kommunen, der Terror geht weiter, bis hin zu Präsident Sadats Ermordung. Seither laufen Infiltrationsversuche islamistischer Strömungen und Destabili-sierung der Gesellschaft durch Terror Hand in Hand, typisch für die europäische rechstextreme Szene ab etwa 1975.

Die Methoden mögen westlichen Kommunisten, Alternativen bis hin zur RAF und den Rechtsextremisten, abgesehen worden sein, die Formen sind den lokalen Gewohnheiten angepaßt: Agitprop wird mit Predigt und intensiver Verwendung von Kassetten übersetzt. Aussteigen aus der Gesellschaft wird als „Hijra” definiert, der Flucht des Propheten in die Wüste angesichts der Verfolgungen, denen er in Mekka ausgesetzt war. Die von Kepel erwähnte, aber nicht näher erklärte sexuelle Freiheit in den Kommunen für Schukri und einige Auserwählte scheint mir auf die 33. Sure zurückzuführen zu sein: „Dir, o Prophet, erlauben wir alle Frauen (der weiteren Familie und die Sklavinnen) und jede gläubige Frau, die sich dem Propheten überlassen und die derselbe heiraten will. Diese Freiheit sollst nur Du haben vor den übrigen Gläubigen. ... Du kannst (wegschicken) wen du willst, und zu dir nehmen, wen du gerade willst,” heißt es in den Versen 51 und 52. Das klingt zwar wie

Otto Mühl, doch Schukri hat sich als Prophet von heute gefühlt. Dieselbe Sure wird jetzt in Algerien von den „Kämpfern Gottes” verwendet, um Frauen zur „islamischen Hochzeit” zu zwingen, wie sie sagen - sie entführen Mädchen, die den Djahids sexuell zur Verfügung stehen müssen.

Dazu kommt die „Exkommunizierung” der Staatsführung und aller ihrer Anhänger, denn sie haben die Anbetung Gottes gegen die Anbetung weltlicher Herrscher aufgegeben. Die gegenwärtige muslimische Gesellschaft sei „Jahiliyya”, also gleich der heidnischen Gesellschaft vor dem Erscheinen Mohammeds. Das verpflichte aber auch dazu, die schlecht gläubigen Moslems zu bekämpfen wie Heiden, also notfalls auszurotten.

Letzte Chance der Regime?

Die etablierten Gelehrten islamischen Rechts, die Ulamas bei den Sunniten, haben alle diese Erscheinungen als Verirrung verurteilt. Das mag der Grund dafür sein, daß bisher in keinem sunnitischen Land Islamisten an die Macht kamen. Nur im schiitischen Iran kam es zu einem Bündnis zwischen dem dortigen religiösen Establishment - den Mullahs - und den Islamisten, allerdings einschließlich der laizistischen Bürgerlichen und Linksrevolutionäre. Islamisten befinden sich weiterhin in der iranischen Führung, doch die letzte Kontrolle liegt in der Hand der Mullahs. Ähnliches gilt für den Sudan.

Was ein Sieg der Islamisten ohne eine solche Kontrolle bedeutet, läßt sich in Afghanistan beobachten. Doch nirgendwo im sunnitischen Gebiet, nicht einmal in Algerien, hat sich bisher eine ähnlich günstige Situation wie in Afghanistan durch den Krieg gegen die Sowjets ergeben. Wir können also hoffen, daß die mohammedanische Welt ihre Islamisten schließlich unter Kontrolle bringt, vor allem aber, daß sie die Grundübel beseitigt, welchen den Islamisten Auftrieb geben.

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