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Gaullismus an der Wende

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In der gegenwärtigen Phase der Fünften Republik ist der Aufbau längst in den Hintergrund getreten. Gewiß fehlt es nicht an großartigen Projekten. Da wird etwa angekündigt, daß beim Bahnhof Montparnasse im südlichen Paris der größte Wolkenkratzer Europas gebaut werden soll. Oder der Premierminister Debrė verkündet auf einer seiner Algerienreisen, daß man aus Algerien das „Musterland” für ganz Afrika machen werde. Aber solche Proklamationen wecken keinen besonderen Enthusiasmus mehr — sie gehören sozusagen zum Tagewerk der Fünften Republik.

Was das Interesse der aufmerksameren Beobachter in Anspruch nimmt, ist etwas ganz anderes: die kaum mehr verhüllte Art, mit der die wirklich aktiven unter den politischen Gruppen für den „zweiten 13. Mai” rüsten — sei es nun zu seiner erfolgreicheren Durchführung oder sei es zu seiner Abwehr. So bitter diese Feststellung ist — diejenigen politischen Kräfte Frankreichs, die sich nicht der Illusion hingeben, daß mit dem Machtantritt de Gaulles alle Probleme Frankreichs gelöst worden seien, scheinen heute kein anderes wesentliches Ziel zu haben, als sachte in möglichst günstige Ausgangspositionen für einen Bürgerkrieg einzurücken.

DER STÖRENFRIED

Daß dies heute die eigentliche politische Realität ist, spürt insgeheim jeder. Aber gerade darum reagiert die übergroße Mehrheit der Franzosen gereizt, wenn man sie daraufhin anspricht. Man möchte seine Ruhe haben. Und man hat vor allem keine Lust, von Ausländern sich sagen zu lassen, welche Stürme sich im eigenen Lande zusammenbrauen — jenen Ausländern, denen man seit Großvaters Zeiten Lektionen in Demokratie und im „Maßhalten” erteilt hat.

Besonders peinlich ist dem Durchschnittsfranzosen auch, daß in diesem Zusammenhang wieder die verflixt unangenehme Gestalt jenes melancholischen Herrn mit dem durchdringenden Verstand auf taucht: die Kassandra Mendės- France meinen wir. Er und seine Sprachrohre wurden seit dem ‘l3. Maf letzten 7äKres nicht müde, dem Volk einzuhämmern T „De Gaulle erspart euch die entscheidende Auseinandersetzung mit den Feinden der Republik nicht — er schiebt sie bloß auf. Und wenn es dann wirklich zu ihr kommt, so werden jene Kräfte nicht mehr so leicht zu bändigen sein, denn sie sind dann im großen Schatten de Gaulles so stark geworden, daß sie offen hervortreten können. De Gaulle wird dann als erster die Feindschaft dieser Gruppen zu spüren bekommen, die er schonte, weil er die Franzosen nicht .entzweien1 wollte Vor einem Jahr wirkte diese Prophezeiung extravagant. Heute spürt jeder im stillen, wie nahe sie ihrer Verwirklichung bereits gekommen ist.

Von hier aus wird auch schon deutlich, wo dieser Aufmarsch eingesetzt hat: rechts von de Gaulle. Vor einem Jahr schien es „rechts von de Gaulle” nichts zu geben als ein Häufchen von „Ultras” in Algerien und eines von Rechtsextremisten in Frankreich. Besonders ernst schien man beides nicht nehmen zu müssen. Das hat sich aber nun geändert.

WIRD FRANKREICH „FASCHISTISCH”?

Besteht in Frankreich die Gefahr einer „Faschisierung”? Im letzten Herbst konnten wir die unmittelbare Präsenz einer solcher Gefahr noch verneinen. Doch inzwischen hat sich das politische Klima radikal verändert. Die Ernüchterung über die Fünfte Republik hat Entwicklungen im Schnellzugstempo abrollen lassen, die sich unter normalen Umständen übei Jahre erstreckt hätten. Heute ist eine solche Gefahr ganz konkret da.

„Faschismus” — das Wort ist allerdings sehi unbestimmt und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissen. Schicken wir gleich voraus, daC wir jene kleinen Formationen, wie „Jeune Nation”, die sich selbst als „faschistisch” bezeichnen und von denen wir an dieser Stelle berichtet haben, keineswegs überschätzen. Sowoh ihrer Organisation wie ihrer Ausstrahlung nacl handelt es sich da um verschwindende Minderheiten, die nur eine gewisse symptomatische Bedeutung — als „Fieberbläschen” — habeq.

Mit „Faschismus” meinen wir vielmehr, dal erhebliche Blöcke des Volkes das Vertrauen ii

„Träumereien an französischen Kaminen” „Furche” Nr. 20 vom 16. Mai 1959.

die Institutionen der parlamentarischen Republik verlieren und strafferen Organisationsformen zuneigen, innerhalb deren die individuellen Freiheiten bewußt dem reibungslosen Funktionieren des-Ganzen geopfert werden. „Faschismus” heißt in Frankreich, daß die Massen die längst schon etwas hohl gewordene Parole von der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” zugunsten von nationalistischen Parolen aufgeben — Parolen, die im Konkreten auf das unbedingte Festklammern am Status quo in Algerien, auf das Sahara-Erdöl als Sinnbild künftigen Reichtums und auf ein Angleichen der politischen Haltung an bestimmte rassistische Affekte (etwa den Haß gegen die „Sidis” genannten Algerier) zielen. „Faschismus” ist in Frankreich auch immer ein Suchen nach einem Sündenbock, den man für alles verantwortlich machen kann. Früher waren das mit Vorliebe die Juden oder die Jesuiten. Heute sind die „Araber” (in dieser ungenauen Form) Aspiranten auf den Posten. Die Wut kann sich aber auch gegen die „Synarchie” richten: jene angebliche Verschwörung der „vaterlandslosen” (sprich: integrationsfreundlichen) „Technokraten” gegen den unschuldigen „kleinen Mann”. Und der traditionelle Generalsündenbock der französischen Rechten, der Kommunismus, sei auch nicht vergessen, der bekanntlich für viele Franzosen der eigentliche Drahtzieher hinter dem FLN ist.

Eine der bedrohlichsten Entwicklungen zeichnet sich innerhalb der Armee — und das heißt heute fast ausschließlich: der Algeriijiarmee — ab. Die Vorgänge des letzten Frühjahrs hatten gezeigt, wie weit eine erschreckende Politisierung innerhalb der Armee bereits um sich gegriffen hatte, die doch nach republikanischer Ideologie die dienende „große Schweigende” sein sollte. Insbesondere die Offiziersschicht zwischen dem Hauptmann und dem Obersten, welche erfahrungsgemäß den Geist einer Armee bestimmt, hatte unter dem demütigenden doppelten Peitschenschlag von Dien-Bien-Phu und Suez eine Wandlung durchgemacht. „Was nützt es, wenn wir tapfere Soldaten sind und uns auf der politischem Ebene djsr Sieg dann doch ver.-. lorengeht? Wir müssen in die Politik gehen, solange es keine Regierung gibt, die eine wirklich französische Politik betreibt.”

Es ist bekannt, wozu diese Ueberlegüng geführt hat: zur sogenannten „Psychologischen Aktion”. In ihr wollte man die politische Kriegführung, deren Opfer man in Indochina geworden war, nun selbst anwenden. Man übernahm wörtlich Mao-Tse-Tungs Vorschriften für den Partisanenkrieg, die für den chinesischen Bürgerkrieg aufgestellt worden waren. Was Ho- Tschi-Minh für den Kampf eines kolonisierten Volkes gegen eine technisch überlegene Minderheit einsetzen konnte, suchten nun die jungen französischen Obersten in genau der umgekehrten Situation zu verwenden. Daß der Algerienkrieg dadurch keineswegs verkürzt wurde, ist bekannt. Die zweite und praktisch wirksamere Phase der „Politisierung” begann dann, als die Armee sich an die Spitze des Putsches von Algier stellte und eine Aenderung des Regimes in Frankreich erzwang.

Hat de Gaulle die Armee im letzten Jahr einmal ganz in der Hand gehabt? Die Frage ist verschieden beantwortet worden. Man kann vielleicht am ehesten sagen, daß er einen Aufschub im Prozeß ihrer Politisierung erreicht hatte. „Warten wir einmal ab, ob er besser ist als die anderen” — das scheint die verbreitetste Reaktion im Offizierskorps gewesen zu sein. Und de Gaulle unternahm denn auch einiges, um die Armee in seine Hand zu bekommen. Er entwand ihr einige Positionen zugunsten der neuen, Paris wirklich gehorchenden Zivilgewalt, die sein „Generaldelegierter” für Algerien, Delouv- rier, aufbauen sollte. Und er beförderte geschickt einige der aufsässigsten Generale — darunter Salan und Massu — auf Dekorationsposten ohne wirkliche Verfügung über Truppen. Aber das waren doch nur, am Ganzen gemessen, einige Retuschen — das gesamte Offizierskorps einer im Krieg befindlichen Armee konnte schließlich nicht ausgewechselt werden.

Daß das Bekenntnis der Armee zu de Gaulle auf weite Strecken nur ein Lippenbekenntnis war, hat besonders in den letzten drei, vier Monaten eine ganze Reihe von Symptomen gezeigt. Es ist zu öffentlichen Stellungnahmen von Offizieren gekommen, deren Widerspruch zu den vom Elysėe ausgegebenen Parolen kaum noch verhüllt war. Und ein Symptom ganz besonderer Art war die Reaktion eines großen Teiles des Offizierskorps auf die jüngsten Gemeindewahlen. Im Gespräch mit Offizieren konnte man immer wieder Stellungnahmen dieser Art hören: „Ja, wenn ,er’ mit den Kommunisten nicht fertig wird, dann müssen wir wohl die Sache wieder in die Hand nehmen…”

WIRKUNG DER DEMOBILISIERTEN

Immerhin: auch wenn die Algerienarmee angesichts des Trümmerfeldes der französischen Politik automatisch zum stärksten diese Politik bestimmenden Gebilde geworden ist, so könnten doch von ihr her die bestehenden Institutionen nicht gefährdet werden, solange diese Armee isoliert ist. Es sind jedoch im zivilen Sektor zwei Vorgänge zu verzeichnen, die in gleicher Richtung arbeiten und sich mit der Politisierung der Armee zusammen zu einem unwiderstehlichen Wirbelsturm entwickeln könnten.

Der eine dieser Vorgänge ist der Einfluß des Algerienkrieges auf die wieder ins Zivilleben zurückkehrenden einfachen Soldaten. Auf der Linken hat man des öftern betont, daß die Hauptleute und die Obersten nicht die ganze Armee seien und daß dieser Krieg den Soldaten „die Augen öffnen” werde. Das war eine Illusion. Wer mit aus Algerien zurückgekehrten Soldaten zu tun hatte, der weiß, daß in ihnen vor dem Dienst vorhandene „linke” oder „liberale” Ideen in der übergroßen Mehrheit drüben radikal ausgemerzt worden sind. Und zwar hätte es dazu gar nicht der besonderen „psychologischen Schulung” bedurft, welcher alle frisch aus Frankreich angekommenen Truppen vom bereits installierten Offizierskorps unterworfen werden.

Der besondere Geist, mit dem der Algerienkrieg geführt wird, hat sich als stärker als alles andere erwiesen. Und bestimmte Formen der Härte und Grausamkeit, mit denen fast jeder einzelne Soldat in Berührung kommt, wirken da nur als Kitt. Der Führer einer kleineren faschistischen Formation in Paris, den wir nach dem Umfang seiner Gruppe fragten, antwortete uns: „Darauf kommt es gar nicht an. Merken Sie sich eines: Faschismus ist keine Theorie. Er lebt allein aus der Aktion. Und die haben wir: in Afrika! Die französische Armee, die in Algerien kämpft, ist eine Maschine, um Faschisten zu fabrizieren.” (Ob er sich bewußt ist, daß er da, mit umgekehrtem Vorzeichen, wörtlich dasselbe sagt wie gewisse Linksextremisten?) Er fährt fort: „Den Hunderttausenden von jungen Franzosen, die dort drüben kämpfen, vergehen diö demokratisch-humanitären Phrasen recht bald. Sie entdecken dort drüben eine Realität, an die sie bisher nicht glaubten: die Rasse, ln der fremden Welt Afrikas merken sie, daß sie eine Erbschaft zu verteidigen haben: Sie entdecken die Solidarität der weißen Rasse…”

Ein höherer republikanisch gesinnter Offizier, dem wir diese Aussage vorlegten, fand den Ausdruck „Faschismus” zu stark: „Ich würde sagen, daß diese jungen Leute ihre Familien und ihren Bekanntenkreis mit nationalistischem Geist anstecken. Außerdem kommen sie aus einer Situation, in der die Armee alles ist: sie kämpft nicht nur, sondern verwaltet auch, baut auf, ist dis Justiz, erzieht — das kann dazu verleiten, sich den idealen Staat zu sehr nach Analogie der Armee vorzustellen.” Womit er also, in abgedämpfter Form, eine Entwicklung in genau der gleichen Richtung andeutet.

DER „TECHNOKRATEN-SCHRECK”

Die andere Entwicklung innerhalb des zivilen Sektors, die „faschisierende” Wirkung haben kann, hat ihre Wurzel in dem ernüchternden Alltag der Fünften Republik. Wir haben davon in unserem ersten Bericht gesprochen, und wir rekapitulieren kurz. Diese Fünfte Republik, von der er sich so viel erwartet hatte, ist für den „kleinen Mann” zu einer fernen Apparatur über den Wolken geworden, von der zweierlei auf ihn herunterblitzt: einerseits hart in sein Leben eingreifende Verordnungen fühllos scheinender „Technokraten”, anderseits etwas schulmeisterlich-säuerlich vorgetragene Moral, angesichts der er bloß verblüfft die Baskenmütze aufs linke Ohr schieben kann.

Dieser Schock muß notwendig Dinge aufdecken, die im französischen Mittelstand seit lange schon schlummern. Diesem Mittelstand ist es seit einigen Jahrzehnten nicht mehr wohl in der Haut, denn er spürt wohl, daß er im Vergleich zur Gesellschaft als ganzer zu stark gewuchert ist und die Umwandlung Frankreichs in einen wirklich modernen Staat blockiert. Er ist darum ständig auf dem „qui vive”, um sich gegen operative Eingriffe, die meist unter der Fahne der „Austerite” versucht werden, vorsorglich in Abwehrpositur zu stellen. Dazu dient ihm vor allem die Verschwörungsthese.

Wer aufmerksam die umfangreiche faschistische Literatur durchblättert, die an jedem französischen Kiosk zu haben ist, der findet in ihr eine bereits fix und fertig präparierte Verschwörungstheorie. Wir haben seinerzeit am Beispiel von Premierminister Debre dargestellt, daß der Gaullismus in starkem Ausmaß seine Wurzeln im Nationalismus jener jüdischen Bürgerfamilien hat, die sich in ihrer nationalen Haltung von keiner anderen Gruppe der Gesellschaft übertreffen lassen wollten. Es ist auch bekannt, daß Vertreter von Banken, wie Rothschild, Lazard, Worms, besondere Stellungen in de Gaulles Umgebung hatten und noch haben. Diese Fakten werden nun in jener Verschwörungstheorie mit viel Phantastischem und Erfundenem durcheinandergemischt, und das Ergebnis ist dann die Legende, daß die Fünfte Republik nichts anderes sei als der Versuch der „jüdischen Banken”, unter dem Aushängeschild des Generals de Gaulle dem „kleinen Mann” das Fell über die Ohren zu ziehen. Der landläufige Antisemitismus ist da also mit der Furcht vor den „Technokraten” eine sehr explosive Mischung einge angen, deren Wirkung auf breitere Schichten bereits weit herum festzustellen ist.

Wer mit dem Aufbau und der Dynamik politischer Mythen vertraut ist, der erkennt, daß diese drei Elemente — politisiertes Offizierskorps, totalitäre Ansteckung der Zivilbevölkerung durch den Algerienkrieg, Schreckreaktionen des Mittelstandes — in ihrem Zusammenwirken imstande sein könnten, eine faschistische Großbewegung zu entfesseln, die nicht nur Frankreich erschüttern würde. Gleichzeitig aber ballt sich auch auf der Linken etwas Bedrohliches zusammen, worauf wir in einem abschließenden Bericht zu reden kommen.

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