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Frankreichs Linke im Tunnel

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Seit Jahrzehnten gehört es zum guten Ton, sich in Frankreich links zu gebärden. Denn links hieß, die Folgen der französischen Revolution bedingungslos anzuerkennen und das Modewort „fortschrittlich” zu verwenden, selbst wenn ultrakon- servative, wirtschaftliche Theorien vertreten wurden. Das spritzige Wort „man wählt links, trägt aber das Portefeuille rechts”, konnte eine gewisse Berechtigung bis zu Beginn der V. Republik beanspruchen. Die Tradition verlangte eine laizistische und antiklerikale Einstellung, die sich besonders in der Ablehnung der freien, sprich kirchlichen, Schulen äußerte. Die Innenpolitik der IV. Republik war durch den Schulkampf , und die Verneinung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gekennzeichnet.

Als Hüter dieses Erbes trat die sozialistische Partei Frankreichs SFIO auf, die von 1944 bis 1958 eine wahre Schlüsselposition einnahm. Ohne Zustimmung ihres Generalsekretärs Guy Mollet konnte keine Regierung gebildet werden oder sich auf längere Dauer halten. Aber nicht nur die Sozialisten rühmten sich, links zu stehen, auch die zusammengeschmolzene radikalsozialistische Partei zog diese schmückende Bezeichnung jeder anderen vor. Die politischen Klubs, zusammengefaßt in einer Konvention, wollten ebenfalls sozialistisch denken. Die intellektuelle Splitterpartei PSU (Parti socialiste uniifiė) gebärdete sich am meisten revolutionär und linksradikal. In dieses Konzert stimmte die kommunistische Partei ein, die in Orthodoxie und Reinheit die Opposition anzuführen gedachte. Schließlich sei der Einzelgänger Mendės France erwähnt, der von der radikal-sozialistischen Partei zur PSU überwechselte, diese kürzlich verließ, aber eine besondere Tendenz innerhalb der französischen Linken inkarniert.

Wahl zwischen Faschisten und de Gaulle

Während drei Republiken versuchten diese Parteien, Gruppen und Zirkel eine zumindest oberflächliche Einheit zu finden. Dies war für kurze Zeit 1936 unter der Formel „Volksfront” möglich, als Leon Blum eine Koalition der drei Linksparteien präsentierte. Sozialpolitisch hatte diese Volksfront Frankreich bedeutende Sozialreformen geschenkt, und es wäre falsch, in dieser Koalition nur negative Seiten zu sehen.

ivacn aem AOgang General ae Gaulles als provisorischer Regierungschef 1946, besaßen die Sozialisten und Kommunisten die absolute Mehrheit, aber die Armee drängte damals die christlichdemokratische Partei MRP, dem Beispiel des Befreiers nicht zu folgen und in einer Regierung, gebildet aus SFIO, KP und MRP eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Volksrepublikaner wurden in Opposition zu General de Gaulle getrieben und besiegelten einen nicht mehr aufzuhaltenden Niedergang. Noch einmal wurde die SFIO praktisch allein zur Staatspartei, als Guy Mollet 1956 die Regierung bildete. Mit seiner Amtstätigkeit ist die Erinnerung an die unglückliche Sueiz- kanalexpedition verbunden. Die ersten Höhepunkte des Konfliktes zwischen dem weißen Algerien und der Pariser Zentrale zeichneten sich in diesen Jahren ab.

Die sozialistische Partei sträubte sich sehr lange gegen eine Machtübernahme durch de Gaulle nach dem 13. Mai 1958. Der ehemalige Staatschef Auriol und Guy Mollet mußten ihren ganzen Einfluß geltend machen, um die Parlamentsfraktion sowie die Partei für de Gaulle zu gewinnen. Der Generalsekretär der SFIO hatte übrigens hinter dem Rück seines Regierungschefs Kontakte mit dem Einsiedler von Colom- bey-les-deux-Egiises aufgenommen, und dadurch wurde Pflimlin in eine ausweglose Situation hineinmanövriert. Die Sozialisten glaubten, zwischen den faschistischen Generälen und Obersten und de Gaulle wählen zu müssen und meinten, im Heros des zweiten Weltkrieges einen Schützer der parlamentarischen Demokratie zu finden. Das gaullistische Regime jedoch entwickelte einen eigenen Stil und folgte inneren Gesetzen. Die politischen Parteien wurden entmachtet und die Regierungsgewalt verlagerte sich von der Kammer in den Elysėe- Palast. Seitdem der Sozialist Rama- dier 1947 die Kommunisten aus seiner Regierung entfernt hatte, stellte sich diese Partei mit ihren 25 Prozent der Wähler als ein vereister Block vor, der keine nenenswerten politischen Initiativen ergreifen konnte. Nachdem die gaullistische Außenpolitik vielfach den Wünschen der Kommunisten entgegenkam (Kampf gegen ein supranationales Europa, Austritt aus der Militärorganisation der NATO), zeigten sich diese sehr zahm und stimmten nicht nur einmal mit den Gaullisten im Parlament gemeinsam ab.

Volksfront oder Mittelpartei?

Immer wieder wurden Versuche unternommen, die französische Linke in der V. Republik zu einen. Die Anregungen dazu kamen regelmäßig von den politischen Klubs, also lose Studienzentralen linksgerichteter Intellektueller und Technokraten, die eine enge Parteibildung ablehnten, aber von einer mächtigen linken Opposition schwärmten. Ein vielfach umstrittener Politiker und oftmaliger Minister der IV. Republik, Mitterrand, gründete spontan die demokratische und sozialistische Föderation, eine Dachorganisation der SFIO, Klubs und radikalsozialistische Partei. Aus wahlarithmetischen Gründen sah er sich gezwungen, einen Flirt mit den Kommunisten zu beginnen und überzeugte zeitweise gewisse sozialistische Funktionäre, daß eine Annäherung an die Kommunisten keine Gefahr für die Demokratie bedeute. Allerdings wurden diese Absprachen mit den Kommunisten nicht von allen Persönlichkeiten der sozialistischen Föderation gebilligt. Den Vertretern der Radikalsozialisten wurde die Tuchfühlung mit der KP höchst unheimlich. Bei den Sozialisten protestierte Deflerre heftigst gegen dieses Konzept einer linken Föderation mit Einschluß der Kommunisten. Der Bürgermeister von Marseille vertrat das Projekt einer Union zwischen SFIO und christlicher Demokratie und wollte eine Arbeiterpartei im Stile der englischen gründen. Der MRP konnte pich lange nicht entscheiden, den Einladungen Defferres nachzukommen.

Als die christlichen Demokraten endlich einlenkten, war es bereits zu spät und der antiklerikale Flügel in der SFIO hemmte sämtliche Versuche, eine breite Mittelpartei zu schaffen.

Auch Generalsekretär Guy Mollet glaubte zeitweise an die Möglichkeit einer Fusion mit den Kommunisten und nannte sogar den Termin von fünf Jahren. Einige Kontaktkomitees zwischen SFIO und KP untersuchten die doktrinären Positionen der beiden Parteien, stellten aber beachtliche Divergenzen fest. Die Mai-Juni-Ereignisse 1968 wie der Einmarsch der Warschauer-Pakt- Mächte in der Tschechoslowakei haben den Standort der französischen Linken grundlegend verändert. Weder die Sozialisten noch die Kommunisten sind für den Ausbruch der Mai-Krise, der Studentenrevolte. oder den sechswöchigen Generalstreik verantwortlich zu machen. Im Gegenteil, beide Parteien versuchten diesen Bewegungen Herr zu werden, die Anarchie zu bekämpfen und die Gewerkschaften unter Kontrolle zu bringen. Dies gelang relativ einfach bei der kommunistischen CGT. “Viel schwieriger war die CFDT zu manipulieren, die einstige christliche Gewerkschaft, welche zahlreiche Parolen der PSU übernahm. Letztere trat als einzige Linkspartei für die Fortführung der Revolution ein.

Gespaltene KP

Die sozialistische und demokratische Föderation taktierte in den Mai-Juni-Tagen höchst unglücklich. Mitterrand glaubte, den Zeitpunkt richtig zu wählen, um sich und Men- des-France an die Macht zu bringen. Sein Vorgehen wurde von den Sozialisten nicht ohne weiteres kau- tioniert, und die Spannung zwischen dem Chef der Föderation und dem Generalsekretär der SFIO wuchs derartig, daß Mitterrand immer mehr isoliert wurde. Er mußte schließlich die Konsequenzen ziehen und trat im November von seinem Amt zurück, das er seit dem 9. Dezember 1965 bekleidete. Es ist noch nicht abzusehen, ob Mitterrand später wieder in irgendeiner Form einen bedeutenden Platz in der Innenpolitik erringen wird. Durch Meinungsumfragen wurde festgestellt, daß seine Popularität an einem Tiefpunkt angelangt ist. Aber nachdem es das Vorbild Nixon gibt, meinen Pariser Beobachter, daß Mitterrand nach einer „Durststrecke” wieder an die Oberfläche schwimmen wird. Obwohl der einstige Präsident der Föderation eine sehr schillernde Persönlichkeit ist, müssen ihm großes Fingerspitzengefühl und Geschicklichkeit zuigesprochen werden.

Die Verbindungen zwischen SFIO und KP haben sich in den letzten Monaten und Wochen zusehends getrübt. Die Sozialisten vermerkten trotzdem mit Wohlgefallen, daß die KP sofort und zum erstenmal ein Vorgehen Moskaus öffentlich verurteilt hatte. Dem Generalsekretär Waldeck-Rochet gelang es darüber hinaus, die Witwe von Thorez, die Erzstalinistin Jeannette Ver- meersch, aus dem Zentralkomitee auszuschließen. Der kommunistische Starphilosoph Garaudy, der besonders heftig gegen das Vorgehen der W arschauer-Pakt-Mächte aufgetre- ten war, wurde nur milde gerügt. Aber die KP wallfahrte — die eigene Courage schien doch zu gefährlich — in den Kreml, um sich eine Absolution zu holen. Dem Anschein nach wurde der russischen Bruderpartei soviel Verständnis entgegengebracht, daß der endgültige Bruch zwischen der KP der Sowjetunion und der zweitstärksten kommunistischen Partei Westeuropas nicht erfolgt ist.

Aber die französischen Kommunisten bleiben weiterhin allein. Nach der Auflösung der sozialistischen Föderation ist an eine Zusammenarbeit der beiden Linksparteien kaum zu denken.

Mollets sichere Stellung

Die Sozialistische Partei hielt Anfang November 1968 einen Kongreß ab, um sich als „neue Partei” der Öffentlichkeit vorzustellen. Wenn man jedoch diese Tagung genau analysiert, erkennt man, daß eventuell der Name geändert wird und doktrinäre Klarheiten geschaffen wurden. Im wesentlichen handelt es sich um eine Etappe, welche die SFIO mit dem Ziel einleitete, als modern zu gelten und die Jugend anzusprechen. Mag ab 1. Jänner 1969 eine sozialdemokratische Partei funktionieren, so heißt der Herr dieser politischen Gruppierung nach wie vor Guy Mollet. Seit über zwanzig Jahren beherrscht der Generalsekretär den Apparat, und seinem Gegenspieler Defferre blieb es versagt, die Stellung Mollets zu erschüttern oder in Frage zu stellen. Der stellvertretende Generalsekretär Pierre Mauroy, als Dauphin ausersehen, muß weiterhin im Schatten seines Herrn und Meisters arbeiten und verfügt über geringe Bewegungsfreiheit. Die radikalsozialistische Partei hat bereits erklärt, daß sie nicht daran denkt, in eine geläuterte Sozialdemokratie aufzugehen. Es bleiben also die politischen Klubs, und die Addition SFIO plus Klub scheint beiderseits auf geringe Liebe zu stoßen.

Der Kongreß der SFIO bestätigte alle in Europa bekannten Theorien des demokratischen Sozialismus. Eine Referenz zum Marxismus erfolgt in bescheidenem Ausmaß, daß man die einzelnen Entschlüsse wirklich sehr eingehend studieren muß, um eine Idee Karl Marx’ zu finden. Das Bekenntnis zur persönlichen Freiheit, zur parlamentarischen Demokratie und zu übernationalen Strukturen beweisen, daß die Sozialistische Partei Frankreichs humanistischen Traditionen gehorcht, aber wenig originelle Akzente gesetzt hat. Es ist zu fragen, ob dieses an sich durchaus sympathische Grundsatzprogramm die französische Linke aus dem Tunnel führt, in dem sie sich seit dem Machtantritt General de Gaulles verbirgt. Der Traum von der großen französischen Arbeiterpartei ist auf alle Fälle für lange Zeit ausgeträumt.

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