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Erdrutsch in Belgien

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Seit die Belgier ihre Königsfrage glücklich gelöst haben, beschäftigt sich die Weltöffentlichkeit nur wenig mit dem gesegneten, reichen, arbeitsamen und blühenden Land, in dem zwei Nationalitäten, zwei Weltanschauungen und, wenigstens theoretisch, zwei Wirtschaftssysteme nebeneinander bestehen. Das Ausland kennt nicht einmal dem Namen nach die führenden Politiker Belgiens, Spaak ausgenommen. Wer in Deutschland, der Schweiz, Frankreich oder England hat, von Spezialisten abgesehen, je etwas von den Herren Destenay oder Buset gehört, den Präsidenten der bis zu den jüngsten Parlamentswahlen allein regierenden beiden Parteien, der Liberalen und der Sozialisten? Wer entsinnt sich der christlichsozialen Regierungschefs Duvieusart, Pholien, Van Houtte, die dem nun zurücktretenden Erstminister, dem Sozialisten Van Acker, im Amt vorangegangen sind? Das soll bei weitem nichts gegen die Tüchtigkeit der belgischen Staatslenker besagen; es beweist eher, wie froh ein Gemeinwesen sein kann, keine allzu aufregende Geschichte zu haben.

Denn, wir wiederholen das, den Belgiern geht es gut, besser als irgendeinem europäischen Volk, außer den Schweizern. Ihr Standing ist nach wie vor sehr hoch, ihr durchschnittliches Realeinkommen nicht minder. Und sie haben, nachdem einmal der Streit um Leopold III. in Minne beigelegt worden ist, keine Probleme vor | sich.'-dufch die politischeleidetaschaftur Heiß-I glwfo geraten müßte.! An-nd- für sich-gibt esvSn Belgien drei latente Gefahren für den inneren Frieden; doch sie sind derzeit nicht von brennender Aktualität: der nationale Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen; der weltanschauliche zwischen gläubigen Katholiken und Freidenkern — Protestanten, Juden und andere Konfessionen sind zahlenmäßig ohne Bedeutung —; der soziale Konflikt zwischen Kapital und Lohnempfängern. Diese Streitfragen bilden nun jeweils einen Prüfstein, an dem sich die Geister voneinander scheiden und — vordringlich die zwei letzterwähnten. Momente — die großen Parteien ihre Verschiedenheit bewähren; doch geht es dabei ohne Aufregung zu. Nicht einmal in Wahlzeiten erlebt man jene Ausbrüche, die zwischen 1945 und 1950 durch die künstlich aufgeblähte Fehde um den Herrscher geschürt wurden.

Von nationalen Zusammenstößen größeren Umfangs ist überhaupt nichts zu verspüren. Die Wallonen haben resigniert die nicht mehr auszulöschenden Fakten zur Kenntnis genommen, daß Französisch aufgehört hat, die Obersprache des Landes zu sein und daß die Niederländisch als Schriftsprache gebrauchenden Flamen in steigendem Maße die ziffernmäßige Mehrheit der Bevölkerung bilden, ganz einfach wegen der ständig die wallonische sehr überwiegenden flämischen Geburtenrate. Die Flamen versuchen ihrerseits nicht, den Wallonen die völlige Gleichberechtigung abzustreiten. Bezeichnenderweise hat, anders als vor dem zweiten Weltkrieg, das Bekenntnis zu einer deT beiden Nationalitäten aufgehört, parteibildend zu wirken. In den vier Parlamentsfraktionen (Christ-lichsoziale-PSC, Sozialisten-PSB, Liberale, Kommunisten) finden wir Flamen und Wallonen nebeneinander. Ein vereinzelter Repräsentant, der Vlaamse Volksunie, wirkt als Fossilie aus früheren Perioden. Soziale Gegensätze spielen freilich eine parteibildende Rolle. Den Marxisten der Zweiten (PSB) und der Dritten Internationale (Kommunisten) treten die Nichtmar-xisten (PSC, Liberale) gegenüber. Dennoch sind die Klassenunterschiede auch innerhalb des PSC von Belang, und im PSB steht der von sehr bürgerlichen, ja großbürgerlichen Führern geleitete rechte dem authentischen proletarischen linken Flügel gegenüber. Es ist wiederum für Belgien typisch, daß die soziale, wirtschaftstheoretische Scheidung zeitweise nicht von so durchschlagender Kraft war wie die weltanschauliche.

Die von 1954 bis jetzt regierende Koalition zwischen den Sozialisten und hochkapitalistischen, Liberalen war nur durch gemeinsamen Antiklerikalismus (im Stil der französischen Dritten Republik) zusammengehalten und für den PSC, in dem sehr radikale Gesellschaftsreformer neben Erzkonservativen sitzen, stellt die Kirchentreue das einzige Band dar, das jedem Rütteln trotzt. Es war auch eine weltanschauliche Frage, die beim heurigen Wahlkampf und beim Urnengang vom 1. Juni 1958 im Vordergrund beharrte. Alle Ursachen, die man für die Niederlage der liberal-sozialistischen Koalition vorgebracht hat — natürliches Sichabnützen jeder Regierung, Unzufriedenheit mit der Finanzgebarung des Kabinetts, Wehrpolitisches, Europapolitik, Ansteigen der Preise — waren nicht imstande gewesen, einen, an belgischen Erfahrungen gemessen, so beträchtlichen Erdrutsch hervorzurufen, wie er nun erfolgt ist, hätte nicht die Schulfrage dem PSC zehn-tausende Stimmen geworben.

Es handelt sich da um ein belgisches „Speci-ficum“. Etwa vier Siebentel der Lernenden besuchen in diesem Lande einer sehr hohen Bildung die sogenannten „freien“ Schulen, in die fast hundert Prozent der gläubigen Katholiken ihre Kinder schicken und an denen kirchentreue Professoren, Lehrer den Unterricht im Geiste ihrer Ueberzeugung erteilen. Löwen allein oder — mehr wird auch nicht von Antiklerikalen behauptet — zusammen mit Brüssel die beste Hochschule Belgiens, ist eine katholische Universität, aus der-nicht' nur“ Verführenden Staatsmänner und Wirtschaftsleute 'des'PSCi'-roiV dem auch eine glanzvolle Reihe großer Wissenschaftler hervorging. Das Netz der freien Schulen wurde aber, nach dem Amtsantritt der Regierung Van Acker, im Jahre 1955 durch ein nach dem sozialistischen Unterrichtsminister Collard benanntes Gesetz finanziell schwer gegenüber den staatlichen Schulen benachteiligt. Zudem erregte, nicht nur bei streitbaren Katholiken, sondern auch bei unbefangenen Neutralen Aergernis, daß unter der Aegide Collards die staatlichen Unterrichtsanstalten, die man als überkonfessionell und als überparteilich rühmte, zum Heim sektiererischer antikirchlicher Ideen wurden, die bereits den Kindern durch die vorwiegend sozialistische Lehrerschaft eingeprägt werden sollten. Proteste der mannigfachsten Warner blieben unbeachtet. x

Die Folgen sind am Tag der Parlamentswahlen sichtbar geworden. Im Vergleich zum Ergebnis von 1954 haben die Christlichsozialen acht Mandate und fünf Prozent der Stimmen gewonnen; die Sozialisten haben drei, die Liberalen ebenso viel, außerdem die Kommunisten zwei Mandate eingebüßt, die sie im Repräsentantenhaus besaßen. Diese aus direkten Wahlen hervorgehende Kammer zählt jetzt von 212 Mitgliedern 104 PSC und einen ihr weltanschaulich verwandten flämischen Nationalisten, 84 Sozialisten, 21 Liberale, 2 Kommunisten. Noch deutlicher war der Triumph des PSC im Senat. Von dessen 106 direkt gewählten Mitgliedern (zu denen der parteilose Bruder des Königs, Prinz Albert, und 69 indirekt erkorene Senatoren kommen) sind 54 vom PSC. Insgesamt haben die Christlichsozialen in dieser Kammer 90 Sitze, gegen 85 aller anderen Parteien. Angesichts dieser Sachlage hat die sozialistisch-liberale Koalitionsregierung Van Acker sofort demissioniert.

Die Mehrheit des PSC, und, wie man hört, der König, wünschen eine Dreiparteienregierung, die auf Grund eines Paktes stabil des Amtes walten und in Belgien große Dinge verwirklichen könnte. Hindernisse dagegen sind die schwierige Einigung über die verfahrene Schulfrage, die Unlust' des linken Flügels des PSC, sich mit den wirtschaftlich reaktionären Liberalen zu verbünden, endlich die Verärgerung der Liberalen und der Sozialisten über ihre Wahlniederlage samt der Hoffnung, daß nunmehr der PSC sich an der Macht verbrauchen und daß der Opposition die angenehmere Aufgabe zufallen werde. Eine christlichsoziale Einparteienregierung ist k um denkbar und wird von den

Nächstinteressierten weise abgelehnt. Von den beiden Zweierkoalitionen ist die mit den Sozialisten insofern günstiger, als dann die Regierung über eine erdrückende Mehrheit und damit über volle Bewegungsfreiheit verfügte. Ein Zusammenwirken nur mit den Liberalen käme einzig dann in Betracht, wenn der Widerstand innerhalb des PSB gegen jederlei Koalition mit dem PSC unüberwindlich wäre. Hemmend ist, wie bei einer Dreierallianz, auch bei einem Zweiparteienkabinett, der Konflikt über das Unterrichtswesen.

Um zu erkunden, welche Aussichten für eine stabile Regierung vorhanden sind, hat König Baudouin nach belgischer Sitte zunächst einen „Informateur“ berufen, und zwar den hochangesehenen christlichsozialen Staatsminister und früheren Vorsitzenden des PSC, Auguste De Schryver. Nachdem dieser seine Fühler ausgestreckt hatte und dabei die Umrisse einer Koalition entdeckt zu haben scheint, wurde ein „Formateur“ ernannt, der die Bildung eines Kabinetts in Angriff nehmen soll. Das ist Gaston E y s k e n s, ein sehr jugendlich wirkender, ausgezeichneter Nationalökonom und Universitätsprofessor, der bereits 1949 für kurze Zeit an die Spitze der Regierung berufen worden war und dem seine fortschrittlichen Ansichten Sympathien bei gemäßigten Sozialisten verbürgen. Er ist der richtige Mann für ein Dreiparteienkabinett oder für eine Koalition mit dem PSB. Sollte er scheitern und eine kleine Allianz zwischen PSC und Liberalen erwogen werden, dann hätte ein anderer ehemaliger Erstminister, Van H o u 11 e, die meisten Chancen. Jedenfalls aber ist seit dem 1. Juni in Belgien weder ohne, noch gar gegen die Christlichsozialen zu regieren.

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