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Archaisches Belgien

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Die Streikbewegung in Belgien ragt wie ein Fossil in unsere Zeit hinein. In der übrigen westlichen Welt sind Streiks — sofern es überhaupt noch zu Streiks kommt — fast durchweg zu strategischen Planspielen zwischen gleichwertigen Partnern der Nationalwirtschaft geworden. Der gegenwärtige Streik in Belgien hingegen spielt sich noch auf der Straße ab; er hat die Färbung, wie wir sie fast nur noch aus den Lithographien der Sozialpathetiker von Daumier über Steinlen bis zu Käthe Kollwitz kennen. Streikende, die mit ihren Lastwagen Soldaten über den Haufen fahren wollen; Gendarmen, die an die Scheiben ihrer Eisenbahnwagen schreiben: „Naht euch nicht, sonst wird scharf geschossen!“ — wie fern ist das doch dem Stil, in dem in einer modernen Managerdemokratie Konflikte zwischen deh : Partnern dfes’%1&?iisWelt ,,Si-: reinigt“. werden! Während die Sozia- listen anderer Länder in Verlegenheit geraden, wenn noch einmal die traditionellen Kampflieder ertönen, kann man heute in den Straßen Lüttichs und selbst Brüssels die „Internationale“ und sogar die „Marseillaise“ als Wamgesänge erklingen hören — von Arbeitern mit jener Erbitterung gesungen, die nun einmal zu diesen Liedern gehört, wenn sie noch echtes Kolorit haben sollen. Während man in Belgiens Nachbarländern die Gewerkschafter für politische Streiks — zur Zeit zumindestens — nicht mehr auf die Beine bringt, nicht einmal in Frankreich, ist der Streik in Belgien ein politischer Streik durch und durch: Es geht bei ihm ja längst um mehr als bloß das Austerity-Ge- setz der Regierung Eyskens. Es ist ein „insurrektioneller Streik“ wie jener Streik der gleichen wallonisch-sozialistischen Massen, der vor zehn Jahren den Rücktritt eines von einer (wenn auch knappen) Volksmehrheit bestätigten Königs erzwang Der gegenwärtige Streik will mit außerparlamentarischen Mitteln den Rücktritt einer Regierung erzwingen, die von einer eindeutigen Mehrheit des vom Volk gewählten Parlaments in den Sattel gesetzt wurde und zu Beginn des Streiks von einer immer noch eindeutigen Parlamentsmehrheit das Vertrauen bestätigt erhielt.

Echte „Marseillaise“ und echte „Haute-finance"

Es wäre jedoch ungerecht, nicht zu sehen, daß diesem „archaischen“ Stil auf der Seite der Streikenden und im Lager ihrer Gegner ebenso überalterte Strukturen entsprechen. Erst beides zusammen erklärt, weshalb es in Belgien zu diesem Ausbruch kommen’ konnte. Zum Charme dieses Landes gehören nicht nur seine alten Rathäuser und Kathedralen, seine Fischerhäfen und seine Museen. Für den Touristen ist auch ein eigenartiger Reiz, daß Belgien, obwohl es ein Industrieland ist, die totale Technisierung bisher nicht mitgemacht hat. Gewiß, sein Eisenbahnnetz, eine alte Spezialität Belgiens, ist hochmodern. Dem Reisenden aus Essen oder Zürich fällt jedoch gleich auf, wie sehr im Bild der belgischen Städte noch die

Bauten der „Gründerzeit" dominieren — also jener letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und des Anfangs unseres Jahrhunderts, in welcher

Epoche Belgien eine industrielle und vor allem auch finanzielle Weltmacht war. Gewiß gibt es auch durchaus moderne Bauten in Belgien — sie wirken aber stets inselhaft isoliert. Und diesem Stilrückstand in der Architektur entspricht auch eine Überalterung der Installationen eines erheblichen Teiles der Industrie (insbesondere etwa im Kohlenbergbau). Damit ist aber auch schon gesagt, daß, was für den Touristen einen altvaterischen

Charme haben mag, für die Nationalwirtschaft Belgiens kein Segen ist. Das industrielle und kommerzielle Bürgertum des 19. Jahrhunderts war ein Gebilde, das, wie jede historische Erscheinung, seine, positiven und seine negativeri .Seiten besaß. In Belgien bekommt man jedoch den Eindruck nicht los, daß von den Schattenseiten dieses Bürgertums sich mehr gehalten hat als von seinen kühnen Pioniertugenden. Ein Symptom dafür ist die Machtstellung der um die „Société Genérale“ gruppierten Finanzinstitute, welche die Wirtschaft des Landes zur normalen (und stark gewucherten)

Bürokratie hinzu noch mit einer zusätzlichen Finanzbürokratie überzogen haben, welche immer wieder die Initiative zu ersticken droht.

Gewiß, auch Belgien hat die moderne westliche Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat mitgemacht. Jene Finanzgruppen haben die kleine, ins- besonders in der Brüsseler Gegend vertretene Liberale Partei zu ihrer politischen Stellung ausgebaut — eine Partei also, deren Bedeutung vor allem in ihrer Schlüsselstellung zwischen den beiden großen Massenparteien, der christlichsozialen und der sozialistischen, begründet ist. Christlichsoziale und Sozialisten aber vertreten mehrheitlich die Massen der Arbeiterschaft und des Mittelstandes und haben darum in Belgien auch weitgehend die Errungenschaften des modernen Sozialstaates eingeführt. Es fehlt jedoch in Belgien in vergleichbarem Maßstabe das, was in den modernen „Wohlstandsdemokratien“ die sozialen Gegensätze immer mehr hat ausschleifen helfen: die unablässige Produktionssteigerung. Bei einer solchen Wirtschafts- und Sozialstruktur aber muß eine Austerity-Gesetzgebung wie diejenige der Regierung Eyskens explosiv wirken. Eine gewisse Auste-

rity wird für Belgien angesichts der Katastrophe im Kongo unvermeidlich sein, so wenig sie auch zu dem die Freuden des Lebens liebenden belgischen Charakter passen mag. Aber es fragt sich, ob man ein Ansetzen der Schraube nicht gerade dort hätte vermeiden sollen, wo sie „technisch" am leichtesten angesetzt werden kann: beim kleinen Lohnempfänger.

Immerhin, so explosiv hätte der Streit um diese Austerity nicht werden können, wenn nicht jeder soziale Gegensatz in Belgien gleichzeitig noch durch Gegensätze anderer Art verschärft wird. Mit seinen hundertdreißig Jahren ist der belgische Staat ein jugendliches Gebilde; es fehlt ihm der Kitt, der anderen Staaten allein schon durch ihr Alter verliehen wird. Und dieser junge Staat umfaßt in sich größere Spannungen als die meisten seiner Nachbarn. Zur Spannung sozialer FJatpf kommt die zwischen, einer starken katholischen Kirche und einem affektiv sehr virulenten Antiklerikalismus (der das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der sozialistischen Partei von der in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht so deutlich von ihr unterschiedenen christlichsozialen Partei ist); es gibt den immer noch schwärenden Streit um die Monarchie, und der intensivste Gegensatz von allen ist derjenige zwischen dem flämischen und dem französischen Volkstum. Er gräbt einen so tiefen Graben, weil die Unterschiede zwischen zwei Stammeseigenarten noch verschärft werden durch den Kampf zwischen einer regional beschränkten (das Flämische) und einer Weltsprache (das Französische).

„König der Flamen“?

Nun gibt es allerdings eine offiziöse Ideologie, welche gerade in diesen Gegensätzen den eigentlichen Kitt des belgischen Staatswesens sehen will: diese Gegensätze verliefen nämlich quer durcheinander und würden damit verhindern, daß ein einziger Gegensatz das Land zerreiße. Wer sich aber einige Zeit in Belgien aufhält, merkt sehr bald, daß da der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Gewiß gibt es Sozialisten in Flandern und Katholiken in Wallonien, gewiß hat sich der König von jeher redlich bemüht, König aller Belgier zu sein. Im großen gesehen fällt aber doch der Gegensatz zwischen den Christlichsozialen und den Sozialisten mit dem Gegensatz zwischen Flandern und Wallonien zusammen, und im „frankophonen Landesteil (wie man statt „wallonisch“ wohl richtiger sagt, da das Französische längst über das eigentliche Wallonien hinaus vorgestoßen ist) ist nun einmal das Vorurteil schwer auszurotten, daß der König der „König der Flamen" sei.

Der Verlauf der gegenwärtigen Streikbewegung hat das deutlich gezeigt. Das Schwergewicht des Streiks liegt eindeutig im Französisch sprechenden Teil des Landes. Es ist zu hoffen, daß der belgische Streik bald durch eine Verständigung der Lager sein Ende findet. Er könnte sonst Gräben aufreißen, die nicht mehr zu überbrücken sind.

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