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Umkämpfte Universität

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Die katholische Universität von Löwen, die zu den traditionsreichsten Hochschulen Europas zählt, steht seit langem im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Flamen und Wallonen. Der Autor des Beitrages, Richard Buch er, studiert derzeit in Löwen. Als Schweizer dürfte er besonders prädestiniert sein, die Dinge in Belgien mit der nötigen Distanz zu allen Nationalismen zu sehen.

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Eine der großen Sorgen der belgischen Innenpolitik bildet seit Jahren das Sprachenproblem, das, weit davon entfernt, einer baldigen Lösung entgegenzugehen, an Schärfe ständig zunimmt und immer extremere Auswüchse erzeugt. Die katholische Universität von Löwen ist einer der Hauptstreitpunkte des Konfliktes zwischen den flämisch-und französischsprachigen Belgiern, oder zumindest dient sie den flämischen Extremisten als Vorwand, ständig erneut gegen die französische „Besatzungsmacht“ zum Kampf aufzurufen. Die Tatsache, daß an dieser Universität an allen Fakultäten eine französischsprachige Sektion besteht, die von achttausend Studenten besucht wird, obwohl die Universität sich in einer Stadt befindet, die ganz offiziell Leuven und nicht Louvain heißt und sich ganz im flämischen Sprachgebiet befindet — diese Tatsache dient den flämischen Nationalisten immer wieder als Aufhänger und als Rechtfertigung ihrer Aktivität für ein „freies Flandern“.

Die „Volks-Unie“, offizielle Partei dieser freiheitsliebenden nationalistischen Flamen, stellt zwar im belgischen Parlament nur eine geringe Minorität dar, hat aber durch das geschickte Spielenlassen ihrer demagogischen Verführungskünste einen bedeutenden Einfluß auf die flämische Bevölkerung. Daß sich auch (angehende) Intellektuelle von ihr beeinflussen lassen, zeigt gerade das Beispiel Löwen, wo es beinahe tagtäglich zu Zusammenstößen zwischen randalierenden Studenten und den Ordnungskräften kommt.

Episkopat gegen „Flaminganten“

Nachrichten über die Straßenschlachten zwischen Studenten und der oft tagelang im Städtchen festliegenden mobilen Brigade der Gendarmerie dringen ja öfters auch bis ins Ausland vor, wo sie natürlich nur Kopfschütteln erregen können. Daß diesem Konflikt aber ganz andere, historisch und sozial bedingte Gegebenheiten zugrunde liegen, die den eigentlichen Kern des Problems ausmachen, dessen vordergründige Auswüchse unser Kopfschütteln erzeugen, trat besonders deutlich zutage im vergangenen Frühjahr. Am 13. Mai 1966 veröffentlichte der belgische Episkopat, oberste legislative und entscheidende Instanz der Löwener Universität, eine feierliche Erklärung, worin es sich gegen jegliche Teilung der katholischen Hochschule ausspricht. In der Tat war diese Teilung, das heißt der Wegzug oder, besser, Abzug der französischsprachigen Abteilung aus Löwen, eine wesentliche Forderung der flämischen Extremisten, vom Volk „Flaminganten“ genannt.

Aber nicht nur von ihnen, sondern vom Großteil des flämischen Volkes wurden Ton und Inhalt des bischöflichen Entscheides schlecht aufgenommen. Es scheint, daß die Erklärung des belgischen Episkopates der Tropfen war, der die lange aufgestauten Ressentiments und Unter-legenheitskomplexe des flämischen Volkes plötzlich zum Überlaufen brachte, so daß es sich in einem heftigen Antiklerikalismus Luft machen mußte.

Straßenschlachten

Der von den Bischöfen wohl kaum ] erwartete Umschwung, der durch 5 ihre Deklaration in der flämischen i Bevölkerung hervorgerufen wurde, 1 äußerte sich durch eine giftige Pressekampagne, die den ganzen i belgischen Blätterwald aufrauschen i ließ und gleich zu Anbeginn weit über das Ziel hinausschoß. Gleich- s zeitig begaben sich die flämischen i Studenten Löwens zu Hunderten, dann zu Tausenden auf die Straße, 1 bald verstärkt von Berufsagitatoren 1 aller möglichen Tendenzen, die im 1 trüben zu fischen gewohnt sind. Sie i manifestierten mit einer Heftigkeit 1 und einem Haß gegen die Bischöfe 1 und die Wallonen, wie Löwen sie ; bisher noch nie erlebt hatte. Schau- : fenster wurden eingeworfen, Autos ; demoliert und Köpfe blutig geschla- 1 gen. Nach einigen Tagen hatten die 1 Ordnungskräfte die Situation . einigermaßen in der Hand, dank ] einem Großeinsatz von mehreren Tausenden von Polizisten und Gen- ; darmen im Kampfanzug, Helm auf 1 dem Haupt und Maschinenpistole l unter dem Arm. Von Gummiknüt- i teln, Wasserwerfern, Tränengas und s Farbpulver wurde reichlich Ge- i braucht gemacht, während der Bür- . germeister jede Versammlung von : mehr als fünf Personen verbot. Und i die Bischöfe? Ihre Reaktion erfolgte ! erstaunlich rasch und energisch. Um : dem gleich zu Beginn der Krise ausgerufenen Generalstreik der flämischen Studenten — zu dem aber viele gezwungen werden mußten — die Spitze zu brechen, wurde das akademische Jahr eine Woche früher abgeschlossen als vorgesehen, so daß auch die Wallonen und die 2200 ausländischen Studenten — davon rund 2000 in der französischen Sektion — vom Aufstand der Flamen „profitierten“. Die zahlreichen Verhaftungen, die von der Polizei während der Straßenschlachten vorgenommen wurden, führten zur Beschlagnahme der Studentenkarten und zum Ausschluß der Rädelsführer und Verantwortlichen von der Universität. Nach dem Schließen der Hörsäle und dem Beginn des „Blokus“, der Vorbereitungszeit auf die Examen, kehrte langsam wieder die gewohnte Ruhe in das Universitätsstädtchen ein. Doch war es ein höchst unstabiler Waffenstillstand, zu dem die flämischen Studenten durch die Examenszeit, nicht aber durch ein Vernunftannehmen geleitet wurden Es war klar vorauszusehen, daß mit dem Beginn des neuen akademischen Jahres im Oktober neue heftige Unruhen sich produzieren würden.

Die Sommermonate gestatteten jedoch eine gewisse Entspannung der Lage und Beruhigung der Gemüter, und die Ordnungskräfte taten das möglichste, um die schlimmsten Zusammenstöße nach der Ankunft der Studenten zu vermeiden. Erst zum Jahresende sind wieder vermehrte Manifestationen und Straßenschlachten vorgekommen, indem wieder Hunderte, dann Tausende von flämischen Studenten mit dem Kampfruf „Leuven vlaams“ oder „Walen buiten!“ („Löwen flämisch“, „die Wallonen hinaus!“) durch die Straßen zogen oder stürmten und sich nicht nur am Widerstand der Polizei, sondern auch der wallonischen Studenten stießen. Diese sind natürlich auch keine Schäfchen und meinen, bei der ganzen Angelegenheit auch einiges mitzureden zu haben, und nicht zuletzt mit den Fäusten...

Gibt es aber objektive Daten, die der flämischen Forderung zugrunde gelegt werden können? Oder sind diese unter dem Deckmantel der Demokratie erstellten Gründe rein affektiv, entstanden nur aus dem Unterlegenheitskomplex so mancher Flamen gegenüber der französischen Kultur, aus der Angst vor einer stets weiter vordringenden „Französisie-rung“ des Landes? Es genügt, sich das Dokument der Bischöfe und die von ihm aufgeworfene Kontroverse ein wenig genauer anzusehen, um eine Antwort zu finden. Der Entscheid der Bischofskonferenz enthält zwar ein klares Nein an die lauten Rufe nach dem „Splitsing“, der Aufteilung der Alma mater und dem Umzug der französischen Sektion in den wallonischen Landesteil, doch war dieser negative Aspekt nur die Schlußfolgerung, die sich aus den Ansichten der Bischöfe über den wahren Kern des Löwener Problems ergab. Dieses Problem besteht darin, daß die Universität und das Städtchen bald einmal zu klein sein werden, um die ständig wachsende Anzahl der Studenten aufzunehmen. Dieses Jahr sind rund 21.000 Studenten an der Alma Mater eingeschrieben, davon etwa 13.000 Flamen und 8000 Französischsprechende (darin inbegriffen 2000 Ausländer). Bis 1980 — andere sprechen von 1975 — erwartet man ein Ansteigen der Einschreibungen auf 35.000, eine Zahl, die für das alte Städtchen, das etwa ebensoviele Einwohner zählt, einfach zu hoch sein wird. Darauf gründet sich das Hauptargument der Forderung nach dem Auszug: Aus der Tatsache, daß Löwen allmählich zu klein wird, um alle Studenten zu beherbergen und eine geregelte, fruchtbare wissenschaftliche Ausbildung zu ermöglichen, ziehen die Flamen die für sie naheliegende Schlußfolgerung, daß die Wallonen die Stadt zu verlassen und sich anderswo eine eigene katholische Hochschule zu erbauen haben, in ihrem Territorium.

Neue Entwicklungsprogramme

Eine solche Argumentierung enthält aber eine totale Mißachtung der Besonderheit der Löweniger Universität, und um dessentwillen haben sich die Bischöfe mit ihrer Erklärung so scharf gegen die Teilungsideen gewandt. Sie schlagen vielmehr ein Programm vor, das den Schwierigkeiten der Raumknappheit und der Überbevölkerung Rechnung tragen will, ohne die Hochschule in zwei Stücke zu zerreißen.

Löwen ist zu klein — gut, dehnen wir die Universität geographisch aus, gründen wir neue Institute und Gebäude außerhalb Löwens, sei es in der Bannmeile Brüssels, wie es für die französischsprachigen Medizinstudenten bereits realisiert wurde, sei es in Heverlee, Vorort von Löwen, wo sich bereits die Fakultäten der

Ingenieure, Physiker und Agronomen befinden. Weiter soll der Raumknappheit Löwens durch eine Verdopplung der „Kandidaturen“, der beiden ersten Jahre des Löwener Studienprogramms, abgeholfen werden. Die Verdopplung soll aber beide sprachlichen Abteilungen betreffen und dazu führen, Kandidaturzentren in mehreren Städten Belgiens neu einzurichten oder auszubauen, wo sie bereits bestehen. Das Wort Verdopplung ist mit Bedacht gewählt und dem von vielen Flamen geforderten totalen Transfer entgegengestellt. Ein Projekt für den Umzug war bereits entworfen worden, angesichts der Unentschlossenheit der Bischöfe, und sah die Einpflanzung eines ganz neuen, französischsprachigen Löwens in Wavre vor, einem kleinen Städtchen von knapp 20.000 Einwohnern, nur 20 km von Leuven entfernt.

Demokratisierung als Reform

Das Programm der Bischöfe sieht aber nicht nur äußere Änderungen vor, die Ausdehnung betreffend, sondern auch innere Reformen, die mit Beginn des neuen akademischen Jahres in Kraft getreten sind. Die beiden Sektionen bilden zwar weiterhin die Universität Löwen, das heißt Leuven-Louvain, sind aber administrativ und finanziell von nun ab vollkommen unabhängig, verfügen über getrennte Räte und Ausschüsse und über eigene Organisationen des wissenschaftlichen Personals. Die eigentlichen Leiter der Hochschule sind damit die beiden Pro-Rektoren geworden, assistiert von je einem Professorenausschuß der betreffenden Sektion. Dem „Einheitsrektor“ fällt die rein repräsentative Pflicht zu, die Alma Mater nach außen zu vertreten.

Es ist also nicht unangebracht, von einer gewissen Demokratisierung innerhalb der Universitätsstruktur zu sprechen, und damit ist wenigstens teilweise der autoritäre „diktatorische“ Entscheid der Bischöfe gemildert (für den die Professoren nicht oder kaum konsultiert wurden). Der Episkopat bleibt natürlich weiterhin das oberste Patronat der Universität und verfügt über ein Vetorecht, vor dessen allzu rigoroser Anwendung man sich aber in Zukunft wohl hüten wird. Außerdem ist es der belgische Staat, der zu 90 Prozent die Finanzierung der Ausbil-dungs- und wissenschaftlichen Forschungskosten sicherstellt und so am weiteren Verlauf des Ausdehnungsprojektes bestimmt einiges mitzusprechen haben wird. Damit erhiebt sich natürlich auch die Frage, wieweit die Löwener Hochschule überhaupt noch katholisch genannt werden kann, und die Frage, ob eine katholische Alma Mater [übersetzt: eine universitäre Universität!] heute noch einen Sinn hat, nachdem endlich der Ghettogeist des 19. Jahrhunderts überwunden ist, wird von Professoren und Studenten offen gestellt.

Hoffnung auf Vernunft

Eine anfangs Dezember 1966 in Belgien veröffentlichte Sondierung der verschiedenen Meinungen betreffend die Löwener Universität hat Resultate erbracht, die beweisen, daß das Interesse selbst der Flamen an einem totalen Transfer der französischen Abteilung in wallonisches Land gering ist. Durchgeführt wurde die Erhebung von einem belgischen Meinungsforschungsinstitut, auf Anfrage des Verbandes der französischsprachigen Professoren und wissenschaftlichen Angestellten

(ACAPSUL) der Universität. Nur ein Viertel der flämischen Bevölkerung (27,9 Prozent) besteht auf diesem Transfer, während sich 27,3 Prozent der Befragten ihm offen widersetzen und der Rest eine indifferente Haltung einnimmt. Die Durchschnittszahlen der Erhebung betragen für ganz Belgien: 24,8 Prozent für und 40 Prozent gegen den Transfer, mit

35,2 Prozent Indifferenten. Ein anderer Test betraf die gerade im Hinblick auf die Einheit der Löwener Hochschule wichtige Frage, ob die Hauptaufgabe einer Universität auf internationalem, nationalem oder regionalem Plan liege; die Resultate für ganz Belgien: An die erste Stelle setzten 43,5 Prozent der Befragten die internationale, 27,4 Prozent die nationale und nur 5,4 Prozent die regionale Bedeutung, mit 23,7 Prozent „ohne Meinung“.

Die Resultate beweisen —sofern man ihnen vertrauen kann oder will *—, daß die Bemühungen der Volks-Unie und anderer nationalistischer Hitzköpfe im flämischen Volk bisher noch kein besonders großes Echo gefunden haben, geschweige denn bei der gesamtheitlichen Bevölkerung Belgiens. So besteht immerhin weiter die Hoffnung, daß die Vernunft sich durchsetzt.

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