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Schwierige Demokratisierung

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Mingote, der geniale Zeichner der Pyrenäenhalbinsel, der seit zwei Jahrzehnten mit seinen Karikaturen in einer der großen Tageszeitungen seines Landes der in der Form liebenswürdige, im Wesensinhalt aber unerbittliche politische Kritiker spanischer Gegenwart ist, veröffentlichte in diesen Tagen eine kleine Skizze: „Die Politiker“. Sie zeigt zwei Caballeros, die durch die alten Gassen des Madrider Habsburgerviertels — so nennen die Spanier heute noch den aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Kern ihrer Hauptstadt — wandern und sich mit tiefem Stoßseufzer eingestehen: „Mein Gott! Was war es früher, als es noch rechts und links gab, doch leicht und bequem, die Parteien voneinander zu trennen und sich zu der einen oder anderen zu bekennen. Jetzt, da sich die politischen Lager in Spanien nur noch in Schlaue und Überschlaue scheiden, weiß wirklich kein Mensch mehr aus und ein...“

In wenigen Federstrichen und fast noch weniger Worten ist hier das Bild der Lage Spaniens gekennzeichnet. Die geistigen und ideologischen Konfusionen, die innenpolitische Leere, die durch das Nichtvorhandensein von Parteien entstanden ist, die Suche nach Surrogaten für ein System, das man fürchtet und das man doch nicht mehr entbehren kann, und schließlich last not least der allgemeine Wettlauf nach dem politischen Alibi für eine Zukunft, von der niemand mit wirklicher Sicherheit vorauszusagen vermag, welche Gestalt sie annehmen wird, die aller Voraussicht nach aber weitgehend von den Entscheidungen und der Lebensdauer eines einzelnen Mannes, General Francas, abhängt, der dem unabwendbaren Gesetz der Zeit unterworfen ist.

Der vorurteilsfreie Betrachter, der heute das Bild der spanischen Hauptstadt an sich vorüberziehen läßt, wird überrascht sein von den Entwicklungen der letzten Jahre. Eine Fülle der Automobile, die selbst die breiten Aveniden sprengt, ein Luxus in den Auslagen der Geschäfte, wie er kaum anderswo in Europa anzutreffen ist, nicht endenwollende Vororte, die mit ihren Wolkenkratzerstraßen aus dem Grau der kastilischen Landschaft in den Himmel greifen, Industriegürtel, die sich im Horizont verlieren, und eine Geschäftigkeit, die Spaniens einst so viel besungene Siesta lange schon in ein Märchen verwandelt hat. Der Eindruck könnte wirtschaftlich auf den ersten Blick nicht positiver Sein. Erst ein Blick in die Zeitungen des Landes läßt andere Perspektiven auftauchen. Lohnkonflikte und Demonstrationen von Studenten und Arbeitern, Prozesse und Disziplinarverfahren gegen Hochschüler und Professoren, Verurteilungen wegen illegaler Versammlungen und verbotener politischer Propaganda füllen in den Zeitungen ganze Seiten, während in den Leitartikeln und Kommentaren nach Formulierungen für eine Demokratie gesucht wird, die ohne zum Parlamentarismus zurückzukehren dem Druck der Bevölkerung, vor allem aber dem der Intellektuellen und der Syndikate zu politischer Selbstbestimmung und Verantwortung, in irgendeiner Weise gerecht wird.

Diese innenpolitische Unruhestimmung ist kein spanischer Sonderfall, sie ist allgemein europäisch. Man darf sie also nicht überschätzen. Aber man wird auch nicht übersehen können, daß die Probleme Spaniens ihr besonderes Gesicht tragen. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg hinter den Pyrenäen ist in den letzten drei oder vier Jahren ein weit schnellerer und teilerer gewesen als anderswo in Westeuropa. Jeder Rückschlag und Jede Stagnation, die schon durch die europäischen Gesamtentwicklungen bedingt stock, müssen also eine entsprechend stärkere Schockwirkung auslösen. Die Auffangmöglichkeit rückläufiger Bewegungen und sozialer oder politischer Verstimmungen ist aber durch das Einparteiensystem des Staates begrenzter, weil das eigene politische Verantwor-tungs- oder Schuldbewußtsein des Spaniers ausfällt oder zumindest geschmälert ist. Das Staatsreformgesetz General Francos, das im Dezember durch Volksentscheid bestätigt wurde, hatte die Hoffnung geweckt, daß nun der innenpolitische Wandlungsprozeß Spaniens auf breiter Grundlage in Gang kommen würde. Ein Vierteljahr darnach ist immer noch ungeklärt, wann und in welcher Form die Umbildung der Regierung, die logischerweise der erste Ansatzpunkt der Staatsreformen sein sollte, in Gang kommen wird, und ebenso unklar ist es, in welchem Rhythmus der Demokratisierungsprozeß weitergeführt werden soll.

Die Ankündigung der Regierung, daß die Studenten, die in die Madrider Universitätsunruhen der ersten Jännerwochen verwickelt waren, vor einem Militärgericht abgeurteilt werden sollen, hat in weiten Kreisen der akademischen Jugend und des Intellektuellentums Überraschung und selbst Konsternation hervorgerufen, die noch dadurch erhöht wurden, daß die Behörden bekanntgegeben haben, daß in Zukunft alle Unruhen und Zusammenstöße, bei denen es zu Angriffen und tätlichen oder wörtlichen Beleidigungen gegen die Staatspolizei kommt, der Zuständigkeit der Militärrichter unterstellt werden. Das bedeutet die Anwendung des Militärrechts an Stelle des zivilen Strafrechtes und eine wesentliche Einschränkung der Berufungs-möglichkeiten. Nach einem Jahr der Pressefreiheit und eines sich anbahnenden politischen Dialoges mußten diese Maßnahmen eine weit stärkere Enttäuschung ausüben, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen wäre. Auch bei jenen Spaniern, die der Überzeugung sind, daß Ruhe und Frieden an der Universität unter allen Umständen wiederhergestellt werden müssen.

Aber die Ursachen der spanischen Universitätskrise liegen tiefer als nur in politischen Gegensätzen und in dem Streit um die Gestaltung und Leitung der neuen Studentenvereinigungen und ihrer Vertretungen. Die spanische Universität ist in ihrer Struktur überaltert und muß von Grund auf reformiert werden, in erster Linie aber muß die Vermassung der beiden großen Universitäten Madrid und Barcelona aufgebrochen werden, die ganz automatisch zu einem politischen Explosivstoff wird. Allein in den Fakultäten und Technischen Fachschulen dieser beiden Städte studieren heute mehr als 75.000 junge Menschen, während alle übrigen 16 Universitäten des Landes sich den Rest der spanischen Studenten — noch etwa 45.000 —< teilen. Es ist kein Zufall, daß die studentischen Unruhen sich gerade in den drei größten Universitäten Madrid, Barcelona und Valencia konzentrieren, in denen eine wirkliche Einheit zwischen Studierenden und Lehrenden unmöglich ist. Ein grundlegender psychologischer Fehler war es sicher auch vor zwei Jahren im Anschluß an die ersten Studentendemonstrationen in Madrid, mehrere Universitätslehrer, unter ihnen die bei einem großen Teil der Jugend beliebten Professoren Aranguren und Tierno Gal-van, wegen ihrer Stellungnahme zugunsten der Demonstranten von ihren Lehrstühlen zu trennen. Der natürliche Idealismus der spanischen Jugend mußte automatisch — das war vorausgesehen worden — di Studenten, auch jene, die politisch nicht auf der Linie der gemaßregelten Professoren standen, in eine Front bringen. Die Universität aber ist in Spanien immer ein politischer Feuerherd gewesen. In einem Augenblick, in dem nach einem Vierteljahrhundert Personalregime und Einparteistaat nun eine Staatsreform mit allen ihren Problemen zur Debatte gelangt, ist es allerdings für die gesamtpolitischen Entwicklungen besonders unglücklich, daß die Universitätsjugend in eine Oppositionsstellung gedrängt wurde, die ihre positive Mitarbeit an der Neugestaltung des Staates schmälern würde. Die Annäherung, die sich im Laufe der letzten Monate zwischen einzelnen betont linksorientierten Studentengruppen und sozialistischen und zum Teil noch weiter links stehenden „Arbeiterkommissionen“ innerhalb oder am Rande der Staatssyndikate vollzogen hat, könnte sich durch diese Entwicklungen noch verschärfen, wenn es nicht gelingt, den Universd-tätskonftikt erst einmal zu entgiften. In dieser Hinsicht könnte es wichtige Auswirkungen haben, wenn General Franco tatsächlich, wie in letzter Zeit vielfach behauptet wird, den früheren Madrider Universitätsrektor, den Arztphilosophen Doktor Lain Entralgo, der das Vertrauen der Universitätsjugend genießt, mit der Leitung des Erziehungsministeriums beauftragen würde.

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