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Helft doch den Gemäßigten!

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Vor wenigen Tagen hat in der Bundesrepublik Deutschland der diesjährige Politologentag stattgefunden. Jahrelang haben unter den Politikwissenschaftlern in Deutschland die Neo-Marxisten das große Wort geführt. Aber zum erstenmal sind sie bei einem Zentralthema in die Defensive geraten, als es um die Frage ging, was den nun wirklich der brisanteste Konfliktstoff der modernen Gesellschaft sei. Wilhelm Hennis, einst von der SPD zur CDU gewandert, hat dem Vertreter der Frankfurter Schule und Links-Papst Jürgen Habermas unwidersprochen nachgewiesen, daß die eigentlichen historischen und gegenwärtigen Kon-; flikte religiösen und ethnischen Ursprungs seien — nicht aber Klassenkonflikte — wie man vugarisierend und interpretisierend Karl Marx nachbetete. Die jüngste Entwicklung in einem europäischen Land, das fast schon die Funktion des politisch weißen Landkartenflecks inne hatte, hat das besonders deutlich gemacht — und sie kann als Exempel für seine Richtigkeit in der Welt gelten, die jenseits der Pyrenäen derzeit ihre Probe hält: in Spanien.

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Vor wenigen Tagen hat in der Bundesrepublik Deutschland der diesjährige Politologentag stattgefunden. Jahrelang haben unter den Politikwissenschaftlern in Deutschland die Neo-Marxisten das große Wort geführt. Aber zum erstenmal sind sie bei einem Zentralthema in die Defensive geraten, als es um die Frage ging, was den nun wirklich der brisanteste Konfliktstoff der modernen Gesellschaft sei. Wilhelm Hennis, einst von der SPD zur CDU gewandert, hat dem Vertreter der Frankfurter Schule und Links-Papst Jürgen Habermas unwidersprochen nachgewiesen, daß die eigentlichen historischen und gegenwärtigen Kon-; flikte religiösen und ethnischen Ursprungs seien — nicht aber Klassenkonflikte — wie man vugarisierend und interpretisierend Karl Marx nachbetete. Die jüngste Entwicklung in einem europäischen Land, das fast schon die Funktion des politisch weißen Landkartenflecks inne hatte, hat das besonders deutlich gemacht — und sie kann als Exempel für seine Richtigkeit in der Welt gelten, die jenseits der Pyrenäen derzeit ihre Probe hält: in Spanien.

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Seit in Spanien Todesurteile an verurteilten Terroristen vollzogen wurden, schwappt in der ganzen Welt eine Welle der Erregung geradezu über. Angeheizt zweifellos durch Fakten, die tiefe Ursachen haben:

Spanien ist das Land eines Bürgerkrieges, der Auftakt und Generalprobe des Zweiten Weltkrieges war. In Spaniens Bürgerkrieg standen sich zwiei Internationalen ge-genüber: die rote, damals noch auf Volksfronten in aller Welt hoffend, und die faschistische, in Italien und Deutschland bereits fest im Sattel. Beide Seiten machten Spanien zum bewaffneten Austragungsort ihrer Händel, die sie einerseits in den anderen Rest-Parlamenten austrugen, zum anderen bereits in den Gefängniszellen von faschistischen Geheimpolizeien. Spaniens eigentliche Probleme gingen in dem internationalen Krieg schon 1936 auf spanischem Boden unter, t So istij*S)inicht verwunderlich, daß Spanien auch 1975.. nicht l als: spanische Angelegenheit angesehen wird, sondern als internationales Problem. Und man meint hierzulande, daß sich heute eben wiederum die faschistischen Spanier um ihren inzwischen senilen Caudillo gegen die proletarischen Spanier und die Widerstandsgruppen des Untergrunds rüsten.

Das führt dann zu so verlogenen Reaktionen wie jener des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, der in der einen Woche Franco-Spanien ein Blutrsgime nennt, in der nächsten aber just nach Havanna fährt und dem kubanischen Staatschef Fidel Castro jovial die Hand drückt

— jenem Castro, der nach seinem Amtsantritt im Stadion Von Havanna wie ein römischer Imperator Schauprozesse abführte und die Opfer gleich anschließend vor dem Fernsehen füsilieren ließ.

Zurück zu Spanien. In Spanien ist der heutige Konflikt kein Klassenkonflikt. Er ist ein ethnischer Konflikt. Es geht vor allem um die Autonomie jener iberischen Nationen, die eine andere Sprache sprechen und vom Madrider Zentralismus genug haben: um die Basken (eine Million), die Katalanien (über sieben Millionen), die Galicier (zwei Millionen). Das, was spanisch in Spanien spricht, spricht ja in Wirklichkeit castellän — also die Sprache der zentralspanischen Provinz Kastilien rund um die Hauptstadt Madrid und auch noch südlicher bis Andalusien.

Die Terroristen der baskischen ETA sind heute deshalb „links“, weil der „rechte“ Francisco Franco ein kastilianischer Zentralist ist. Und der spanische Bürgerkrieg ist nicht deshalb ausgebrochen, weil die sozialen Spannungen in Spanien so außergewöhnlich waren (die gab es ja auch in Mitteleuropa), sondern weil es um die Frage des Föderalismus und der Autonomie der Völkerschaften Iberiens ging. Der Bürgerkrieg ist für die Spanier — anders als für die anderen Europäer

— ein ethnischer Konflikt — begründbar aus der Geschichte und der bevölkerungspolitischen Struktur der Pyränäenhalbinsel seit der Zeit der Westgoten:

• Im Oktober 1934 proklamierte Katalonien seine Unabhängigkeit von der Madrider Zentralregierung.

• Die Antwort war nach langem Hin und Her die Verhängung des Kriegsrechtes in der Provinz Barcelona.

• Nach den Wahlen im Februar 1936 stellte die neue republikanische Regierung aber eine Autonomie Kataloniens wieder her. Am 8. Oktober 1936 erklärte die reguläre republikanische Regierung auch die Autonomie des Baskenlandes.

• Acht Tage vorher aber hatte sich Franco bereits zum Chef eines nationalspanischen Staates selbst ernannt — und nationalspanisch hieß: gegen die Autonomisten in Barcelona und San Sebastian.

Das ist die Lage. Auch heute noch. In Spanien geht es nach gut vierzig Jahren wiederum nicht primär um links oder rechts, sozialistisch oder

Künftiger Staatschef Juan Carlos: Sympathie aus Westeuropa?

Photo: Votava faschistisch — sondern um eine föderalistische oder eine zentralisti-sche Verfassung — um die Herrschaft von 49 Prozent Kastiliern über 51 Prozent anderssprechende und anders empfindende Völker.

Daß es in den nächsten Monaten in Spanien wieder zu bürgerkriegsähnlichen Ereignissen kommen kann, ist nicht auszuschließen. Spanien könnte wiederum ein Krisenherd werden. Aber nicht primär aus gesellschaftspolitischen Gründen, sondern aus ethnischen.

Parallelen drängen sich auf. Auch in Jugoslawien geht etwa ein autoritäres Einmannregime zu Ende. Und auch in Jugoslawien wird es nach Titos Tod nicht etwa zu einem Kampf der Stalinisten gegen die Gemäßigten kommen (oder wie auch immer die Terminologie sein mag), sondern zu einem Kampf der Nationalitäten gegeneinander — ganz genauso wie in Spanien. (In Jugoslawien werden übrigens nach wie vor Todesurteile verhängt und vollzogen: zuletzt an Terroristen der Ustascha, die man in den bosnischen Bergen bewaffnet aufgriff und nach Schnellverfahren füsilierte; wo war denn da die internationale Lobby, die angeblich im Namen der Menschlichkeit gegen die Vollstreckung von Todesurteilen protestierte?)

Und die anderen Konflikte in Europa? Der irische Bürgerkrieg ist ein religiöser Konflikt — aus dem erst subsidiär auch ein sozialer wurde; der Konflikt in Zypern ist ein nationaler.

Anders als 1936

Spanien war im Jahre 1936 allerdings ganz ohne Frage ein sozial überaus rückständiges Land. Nach einer Periode der Weltherrschaft und der föderativen und geordneten Verwaltung unter den Habsburgern Karl V. (in Spanien Karl I.) und Philipp II. verfiel das Land einer sowohl der spanischen Seele wie der ökonomischen Entwicklung nach konsequenten Degeneration. Der Feudalismus hielt sich in Spanien länger als sonst irgendwo. Bis heute hat der Großgrundbesitz eine dominierende Rolle tone. Die Industrialisierung wurde viel zu spät eingeleitet. Die spanischen Bourbonen richteten ihren Staat im Zeitalter des Absolutismus nach französischem Vorbild ein. Aus Madrid wurde ein Klein-Paris — die Provinzen hatten zu gehorchen.

Die Spanier verloren den Großteil ihres Kolonialreiches schon viel früher als andere Mächte — jedenfalls wurden sie nie zum klassischen imperialistischen Staat des 19. Jahrhunderts. Dafür zogen sie sich sukzessive, aber kqnsequent, selbst aus der Weltpolitik zurück, um in stolzer Eigenart einem historischen Traum nachzuhängen — ihrem literarischen Nationalhelden Don Quijote nicht unähnlich. Spanien wurde schon im 19. Jahrhundert der Außenseiter Europas; unfähig, in die Weltpolitik einzugreifen; unfähig auehp^Mie--^Inneren' Strukturen an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen. Der Bürgerkrieg war daher geradezu ein Aufbruch aus der Erstarrung — aber nicht so sehr ein sozialer Aufschrei, sondern eine konsequente Entladung spanischer Verkrustung nationaler und ethnischer Disproportionen.

Mittlerweile sind vierzig Jahre vergangen. In Spanien hat Franco trotz seiner autoritären und zentra-listischen Verwaltung — und auch dank der Nichtteilnahme am Zweiten Weltkrieg und mit massiver US-Hilfe — die Wirtschaft auf vielen Ebenen in Bewegung gesetzt. Unnachsichtig gegenüber seinen ehemaligen Todfeinden, sah der Caudillo aber mittlerweile in Spanien eine Generation heranwachsen, die den Bürgerkrieg nur mehr aus der Erzählung kennt. Gut 70 Prozent der heutigen Spanier sind ja nach dem Bürgerkrieg geboren!

Eine ungeheure Landflucht hat zu einer völligen Umstrukturierung der Bevölkerung geführt. Ausländische Investoren haben in dem Land ohne Streik tausende neue Fabriken begründet, die nicht nur zu einem städtischen Proletariat führten, sondern auch zu einem neuen Mittelstand. Geht man offenen Auges durch die riesenhaft angewachsenen Städte Madrid oder Barcelona, dann begegnet man jenen tausenden modernen Konsumenten, deren Hauptwunsch eben ein neuer SEAT ist und die heute in den vielen Riesenkaufhäusern mit vollen Brieftaschen einkaufen können. An den Stadträndern und den Küsten wachsen schon die Ferienkolonien der Spanier aus dem Boden. Das Land erreichte weit überdurchschnittliche Wachtsums-raten seiner Volkswirtschaft, und gewisse soziale Reformen ließen auch eine — gebremste — Umverteilung erkennbar werden.

Vor allem hat sich Spanien in einem Ausmaß gegenüber dem Ausland geöffnet, wie fast kein anderer Staat in Europa. Vom Land der Isolation mit Visapflicht noch in den fünfziger Jahren ist Spanien heute Fremdenverkehrsland Nummer eins in Europa. Nach Spanien kommen jährlich mehr Auslandsgäste, als es selbst Einwohner hat. Man zeige ein anderes autoritäres Regime, wo dies möglich wäre. Und gerade deshalb ist die sprunghafte und launische Art der Regimeführung, wie sie Franco ausübt, für viele Spanier einfach nicht mehr erträglich. Spaniens Bildungsrevolution hat tausende in die Universitäten geführt —deren Väter noch als Republikaner in den Schützengräben lagen. Spanien hat sich ausländischem Einfluß wieder geöffnet und die Entwicklung in der Welt mitverfolgt. Es hat heute exzellente Beziehungen etwa zum arabischen Raum — bessere jedenfalls als die meisten anderen europäischen Staaten. Spanien hat auch zum Ostblock immer stärkere Kontakte geknüpft. Und der Osten hat einmal mehr die Kämpfer für ein linkes Spanien verraten und fleißig mit dem Caudillo Geschäfte gemacht — sogar Waffengeschäfte. Es war bis vor kurzem eigentlich eine Frage der Zeit, wann Spanien zur Europäischen Gemeinschaft stoßen werde.

Das alles ist in Frage gestellt, weil ein starrköpfiger alter Mann nicht schon vor Jahren systematisch seine Geschäfte abgegeben hat und heute eine fanatische, um Privilegien besorgte Falange jede echte Sammlung demokratischer Parteien der Mitte immer wieder ziu verhindern weiß. Während sich sowohl die Separatisten im Untergrund oder im Ausland organisieren (auch in Frankreich gibt es Basken) und ein spanischer KP-Führer durch Europa reist und fleißig Interviews gibt, müssen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale in Spanien selbst auf den Tag der natürlichen Ablöse Francos warten.

Und viele meinen, daß es dann vielleicht zu spät sein wird.

Es wäre .'beruhigend,.. zu.Äwissen,. daß das Gesetz des .Handelns.*£A#88 hysterische Falangisten, naive Militärs und terroristische Linke schon bald in die Hände von Demokraten gelegt wird.

Ministerpräsident Arias Navarro ist zweifellos ein Mann, der heute lieber als. morgen eine echte Demokratisierung einleiten möchte. Und Prinz Juan Carlos dürfte sich einer solchen Mission gleichfalls verpflichtet fühlen.

Diese Männer brauchen aber heute mehr denn je die Unterstützung der westlichen Demokraten — durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, durch diplomatische Hilfe, durch die Werbung von Sympathie in den westeuropäischen Ländern.

Die Reaktion auf die verwerflichen Todesurteile war jedenfalls falsch — man sollte das ohne Pathos zur Kenntnis nehmen. Man hat Francisco Franco das Argument geliefert, es ginge (wieder einmal) um den Bestand des einheitlichen Nationalstaates Spanien einerseits, um die Abwehr des Chaos anderseits.

Ebensowenig wie Schüsse auf Polizisten, die vor Banken WäcÄS schieben, den Spaniern helfen, so wenig hilft den Spaniern die hysterische Verdammung des faschistischen Zipfels im Südwesten Europas. Das Reden mit den vernünftigen Spaniern — und die Isolierung Francisco Francos in seinem Prado-Palast — nur das verhindert die Portugalisierung Spaniens.

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