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Spanien im magnetischen Feld des Islam

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In dem Augenblick, da die „Gothic", das Schiff, das Elizabeth II. um den Erdball trug, Tobruk verläßt und Kurs auf Gibraltar nimmt, versinkt hinter ihr gleichsam die noch einmal Wirklichkeit gewordene exotische Märchenwelt aus den Träumen einer Königin, und es erwartet sie die nüchterne Wirklichkeit Europas. Gibraltar ist wie der erste Leuchtturm des heimischen Inselreiches, das in den Winternebeln- des Nordens weiterhin den Alltag Europas leben mußte.

Er wartet schon am Pier, und all die Vorbereitungen zum festlichen Empfang ihrer anmutigen Majestät berühren ihn nicht. Er wendet kaum den Kopf nach Algeciras und hört nicht auf das drohende Rumoren hinter dem Felsen, drüben, jenseits der „Linea“. Er blickt stumm und besorgt über die Wasser des „Estrecho“ hinüber zu den diesigen Konturen der marokkanischen Küste.

Noch glauben die Spanier, ihre flammende Empörung über das souveräne An-Land-Gehen einer fremden Königin auf „spanischem“ Boden könnte die „Gothic“ veranlassen, ohne Aufenthalt weiterzudampfen. Schon als das Programm der Reise Elizabeths bekannt wurde, hatten die spanischen Zeitungen ihre Unruhe vor dem bevorstehenden Besuch in Gibraltar nicht verborgen, zumal immer noch die Befürchtung besteht, daß die Landzunge demnächst, womöglich gar anläßlich des Besuches der Königin, aus dem Kolonialstatut entlassen und „in anderer Form“ und inniger an das „Home-land“ angeschlossen werden soll. Daß diese andere Form der Status einer Grafschaft sein könnte, dieser Gedanke läßt den Spaniern keine Ruhe mehr. Es wäre die größte Herausforderung, die ihnen begegnen könnte, gerade jetzt, da sie sich stärker fühlen als je, ihrer säkularen Forderung nach Rückgabe des „Penöns“ den nötigen Nachdruck zu verleihen. Sie fühlen die Beleidigung, die darin liegt, ihren Zorn geringer einzuschätzen als die kommunistische Unberechenbarkeit der Guayaner, die nationalistische Empfindlichkeit der Zyprioten. „Die spanische Ueberempfindlichkeit mit einem Nadelstich zu beantworten, der so unfein wie kontraproduzierend wirkt, das ist die in aller Welt evidente Absicht Englands“, schrieb „Abc“ schon am 4. Dezember. „Eine unnötige Beleidigung“ nennt „Arriba“, der sonst im Austeilen von Beleidigungen nicht gerade zimperliche „Völkische Beobachter Madrids“, den Besuch der Königin, und „YA“ schreibt: „Jetzt, da so viel von der Solidarität der Völker Europas gesprochen wird, ist sauberes Spiel und gegenseitige Aufrichtigkeit notwendiger denn je, und diesem Erfordernis stehen die alten Imperialisten entgegen wie dieser, den Gibraltar verkörpert. Bedeutet Gibraltar für Spanien auch keine Angelegenheit auf Leben und Tod, so handelt es sich doch um eine solche beleidigter Ehre und um die Grundbedingung für gute Beziehungen zwischen uns und England.“ In Protestversammlungen der Falange fallen sogar mehr oder weniger verhüllte Drohungen, es könnte Elizabeth in Gibraltar etwas zustoßen. Selbst kleine Dörfer von kaum 200 Seelen Einwohnern formulieren ihren Protest, das heißt sie unterschreiben, soweit sie schreiben können, die patriotischen Ergüsse ihrer Alkalden und schicken sie ans Außenministerium. All dem war der feierliche Protest des spanischen Gesandten vor Mr. Eden vorausgegangen.

Freilich, so wie man von hier aus die Haltung Englands beurteilen kann, hat es vielleicht nie allzu großen Wert auf gute Beziehungen zu Spanien gelegt, aus dem einfachen Grunde, weil es weiß, sie sind unmöglich, solange es nicht auf Gibralter verzichtet. Gibraltar ist für die Engländer mehr als eine Festung, mehr als ein Flottenstützpunkt, ja es ist mehr als das „Tor zum Mittelmeer". Es ist ein Mythos. Solange der „Union Jack“ auf dem Gibraltarfelsen weht, so lange wird Großbritanniens Einfluß nicht nur in den zu mehr oder weniger glücklicher Unabhängigkeit gelangten Staaten Vorder- und Mittelasiens, sondern auch in Europa eine Realität bleiben. Eine Realität, die in Tobruk, Anzio, an der Gotenlinie, im Aosta- tal und in Triest — ja, auch in Triest! — etwas vom europäischen Verantwortungsbewußtsein und vor allem Verantwortungs- vermögen Englands zu sagen wußte.

Indessen ist nicht zu leugnen, daß die Anklagen und Ansprüche Spaniens ihrer geographischen und subjektiv moralischen Berechtigung nicht entbehren. Spanien ist nicht mehr der verschlampte, desorganisierte Sta t von einst. Das muß man Franco lassen: ob aus Staatskunst oder aus Gunst des Geschickes — des Geschickes, das amerikanisches Englisch spricht —, unter ihm ist

Spanien zu einer Macht geworden, die ernst zu nehmen jeder Staatsmann sich angewöhnen müßte, ganz gleich, wo er politisch steht.

Deutlich genug erfährt das in diesen Tagen Frankreich. Als es im August des vergangenen Jahres den Sultan von Marokko absetzte und nach Korsika verbannte, glaubte es, die möglichen Rückwirkungen seines Vorgehens in Madrid und Tetuah mißachten zu können. Spanien hatte sich sofort als von dem einseitigen Vorgehen betroffene Signatarmacht des Marokkostatuts von 1912 in Erinnerung gebracht und von Anfang an über seine Diskrepanz mit Frankreich keinen Zweifel gelassen. Das, obwohl es bis dahin Sidi Mohammeds zu liberale, „zu europäische“ Anschauungen und persönliche Lebensart kritisiert hatte und in der mittelalterlichen Despotie seines Gegners, des Glaui von Marrakesch, „das Gewissen Marokkos“ gestärkt sehen wollte.

Aber man sieht, ideologisch-moralische Affinitäten gelten auch für Spanien nur so lange, als eigene machtpolitische Belange nicht darunter leiden…

Die Bestrebungen der Madrider Regierung, die spanische Marokkozone vom Sultanat in Rabat zu lösen und in direkte Abhängigkeit von Madrid zu bringen, datieren nicht erst seit gestern. Die Entthronung Mohammed Ben Yusufs kam ihr daher „como anillo al dedo“ — wie ein Ring an dem Finger, möchte man in spanischer Diktion sagen, wie gerufen also. Aber natürlich, der im Warten so erfolgreiche General sah, daß er Zeit hatte, seinen nächsten Schritt sorgfältig vorzubereiten und im wirkungsvollsten Moment in Szene zu setzen. Die innen- und außenpolitische Szenerie Frankreichs bekam er gratis dazu. Denn wie steht Frankreich in diesen Wochen da! Erdrückt von Problemen und Sorgen, eine mühselig überwun dene Präsidentschaftskrise, Teuerungswellen, Streiks, Indochinakrieg — und jetzt mit dem Dilemma ob amerikanisches Vertrauen oder russische Versprechungen; eine Regierung, die von allen Seiten zu Entscheidungen gestoßen wird, die sie nicht auf sich nehmen will, und die jetzt auch noch Feuerlöschdienste in Marokko leisten soll!

Die Bombe von Casablanca, die am Weihnachtstage 19 Personen tötete, war harmlos gegen die Bombe, die nun Kalif Muley Hassan, die Kaids, Paschas, Ulemas, Priester und Führer der religiösen Bruderschaften samt ihren mit Reiterfantasias, frommen Prozessionen, gellenden Ansprachen und kostenlosen Hammelbraten (europäische Massenversammlungen sind da anspruchsloser!) in siedenden Enthusiasmus gebrachten Anhängern gegen den Usurpator auf dem Sultansthron in Rabat und den französischen Generalresidenten schleuderten:

„Wir verurteilen aufs schärfste und ohne die geringste Einschränkung die im französischen Marokkoprotektorat geübte Politik und die Machenschaften, die zur Entthronung unseres rechtmäßigen Sultans Sidi Mohammed Ben Yusufs führten…" — „Wir fordern die vorübergehende Trennung der spanischen Zone von der französischen, solange dort die politische Lage keine Aende- rung erfährt…“ — „Wir vereinen uns mit Spanien in dem Bemühen, die Einheit, Freiheit und Größe Marokkos zu erringen, die wir alle ersehnen …“

Damit hat Franco alles, was er haben wollte. Zwischen Frankreich und Marokko zu wählen, wird ihm und den Spaniern nicht schwerfallen, genau so wenig, wie es ihnen schwerfällt, zwischen England und Aegypten, Israel und Jordanien zu wählen.

Es war von tiefer Bedeutung, als Franco im vergangenen Sommer einen Marokkaner, Generaloberst Mohammed Ben Mizziam, zum Kommandanten des Wehrkreises Nordwestspanien ernannte. Mohammed Ben Mizziam ist der erste Afrikaner, der seit der Vertreibung der Mauren mit Befehlsgewalt über Europäer nach Europa zurückkehrte.

„Niemand zweifelt daran, daß Spanien Marokko und den Staaten der Arabischen Liga gegenüber von aufrichtiger Gesinnung beseelt ist“, erklärte Allah El Fasi, der nach Aegypten geflohene Führer der Istiqlal, einem Redakteur des „Al Kahira“, und wie sollte es anders sein, da der politischen und ideologischen Gegensätze der französischen und englischen zur Franco-Regierung so tiefgreifende sind und von in der Geschichte begründeten Gegensätzen der Nationen erhärtet werden?

Das traurige ist, daß ein Europa, in dem Frankreich und England eine maßgebende Rolle spielen, nie eine große Anziehungskraft auf Spanien ausüben kann. Die Abgründe klaffen nun tiefer denn je. Seit dem Entstehen der unabhängigen arabischen Staaten kann man außerdem eine immer deutlicher werdende Parallelität der Entwicklung der Dinge in ihnen und Spanien feststellen, so als ob — und es tut uns weh, dies als Europäer aussprechen zu müssen — Spanien immer noch organisch an seine Blutspender gebunden sei als, freilich europäisiertes und christianisiertes Glied der großen Völkerfamilie des Halbmonds. Cordoba und Granada sind dabei, zum europäischen kulturellen Mekka und Medina der Gebildeten aller arabischen Länder zu werden, und die politischen Wechselbeziehungen Spaniens zur arabischen Welt gewinnen von Monat zu Monat an Bedeutsamkeit.

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