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Die Romantik an der Macht?

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„De Gaulle glaubt an das Frankreich seines Geschichtsbuches. Er handelt, als ob er an es glaube, und entreißt es dadurch der Fiktion: dank ihm wird dieses Frankreich wahr.“ Francois Mauriac

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„De Gaulle glaubt an das Frankreich seines Geschichtsbuches. Er handelt, als ob er an es glaube, und entreißt es dadurch der Fiktion: dank ihm wird dieses Frankreich wahr.“ Francois Mauriac

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Der Putsch in AJgier wäre nicht auf so geringen Widerstand gestoßen und hätte nicht solche Folgen haben können, wenn er nicht mit einer geistigen Bewegung parallel gelaufen wäre, deren Anwachsen man seit einigen Jahren hat feststellen können — nämlich der sogenannten „nationalen Revolution“. Die Verschwörung gegen die Republik und diese „nationale Revolution“ haben sich wechselseitig mit Energien aufgeladen, aber es wäre ein Irrtum, sie für identisch zu halten. Die Gefühle und Ressentiments, welche in der „Nationalen Revolution“ nach ihrem Ausdruck suchen, sind umfassender; sie finden sich auch bei Franzosen, die mit dem Putsch vom 13. Mai nichts zu tun haben wollen. Neben dem Putsch steht die „Revolution der Seelen“. Ein Francois Mauriac, bisher Apostel von Mendes-France, bekennt sich so gut zu ihr wie seine Feinde unter den Rechtsextremisten, für die er ein Erzverräter ist. Und bei den Kommunisten hat man selbstkritisch festgestellt, daß man sie zu wenig in die eigenen Rechnungen eingesetzt habe.

Eine solche Verschiedenartigkeit der Zeugnisse für die gleiche Sache ist für den Beobachter wertvoll. Sie erleichtert ihm, an die Existenz einer Sache zu glauben, die so schwer mit der Gleichgültigkeit in Deckung zu bringen ist, die er während der entscheidenden Maitage zum mindesten in der Metropole (also diesseits des Mittelmeeres) bei der Mehrheit der Franzosen feststellen mußte. Aber diese Gleichgültigkeit paßt mit der besonderen Art jener „Revolution der Seelen“ besser zusammen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

„Nationale Revolution“ — das ist ein sehr unbestimmter Begriff. Das einzig Sichere, was man von ihm sagen kann ist, daß er das Gegenteil einer sozialen Revolution meint. Hier will keine Schicht ihre Lage innerhalb eines Volkes verbessern, sondern das Volk als Ganzes soll zu einer Kraftleistung nach außen hingerissen werden. Aber die „nationale Revolution“, von der heute in Frankreich gesprochen wird, läßt sich keiner der gebräuchlichen Kategorien unterordnen. Sie ist kein Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit, wie ihn der algerische Maquis fühlt. Sie ist auch kein Kampf, in dem ein Volk über seine Grenzen hinaus ein Reich aufbauen oder eine Heilsbotschaft verbreiten will. Sie ist vielmehr ein Aufstand gegen die Geschichte — im Namen der Geschichte.

Es war seit langem schon schwierig für einen ausländischen Beobachter, sich mit Franzosen offen über die französische Politik zu unterhalten — in einer Weise nämlich, welche die französischen Formeln nicht als selbstverständliche Gegebenheiten nahm. Der Beobachter von außen kam bei solchen Gesprächen selten um die unangenehme Aufgabe herum, seinen Partner darauf hinzuweisen, daß dessen Vorstellungen sich mit den Realitäten nicht mehr deckten. Nun, seit dem 13. Mai sind solche Versuche zu einem Gespräch von vornherein dazu verdammt, ins Monologisieren zu entarten. In seiner „nationalen Revolution“ nämlich hat sich der Franzose zu einer Haltung gegenüber der Wirklichkeit entschlossen, die für den nicht näher Beteiligten nur mit Schwierigkeiten nachvollziehbar ist.

Bisher sah es so aus, als blieben einem Franzosen nur zwei politische Verhaltensweisen offen. Die eine war, das überkommene Ideologiengebäude abzureißen und die eigene Vorstellungswelt auch dort, wo das schmerzlich sein mußte, der veränderten Wirklichkeit anzugleichen. Die andere bestand darin, sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen, sich verbitterten Ressentiments hinzugeben und für alle Uebel nach Sündenböcken zu suchen. Man würde der „nationalen Revolution“ von 1958 Unrecht tun, wenn man in ihr nur diese zweite Haltung entdecken würde. Es steckt in ihr auch ein Gefühl, dem man die Größe nicht absprechen sollte — gerade weil es unserer Nüchternheit und (geben wir es zu) unserem Hang zu mittleren und zuweilen mittelmäßigen Verhaltensweisen so fremd ist.

Dieses Gefühl wird durch den bereits zum Schlagwort gewordenen Ausruf eines zwanzigjährigen Schriftstellers - „De Gaulle und Mal-raux — mit ihnen ist die Romantik an der Macht!“ — nur etwas einseitig ausgedrückt. Näher kommt ihm de Gaulles in Algier ausgesprochener Satz: „Es geschieht nichts ohne einen großen Aufschwung der Seele.“ Und in den Kern führt der gerade bei jüngeren Sprechern dieser „nationalen Revolution“ immer wieder anzutreffende Protest gegen die „Geschichtsphilosophie“; es gibt keine ein für allemal festgelegte Marschroute der Geschichte, von der man nicht abweichen kann; jener „Aufschwung der Seele“ vermag der Geschichte einen anderen Lauf zu geben.

Damit hat diese „nationale Revolution“ eines der großen Themata unseres Jahrhunderts aufgegriffen, das durch die nur scheinbar totale Vernünftigkeit unserer Existenz immer wieder durchbricht. Insbesondere die Jugend der europäischen Völker spricht an auf diesen Appell des Irrationalen, des absurd Erscheinenden und doch mit dem Anspruch der einzigen Wirklichkeit fordernd Auftretenden. Dem sich ganz einsetzenden Menschen scheint sich in der für un-überwindbar gehaltenen Bergkette ein Paß zu öffnen, von dessen Höhe er in ein neues Land hinunterzublicken vermag.

Doch damit kommen wir zu dem Haken an dieser ganzen „nationalen Revolution“: Setzen sich in ihr die Menschen wirklich ganz ein? Und blicken sie wirklich in ein neues Land hinunter? Wir verschließen unsere Augen nicht vor dem Maß an Opfern, die von Franzosen aller Altersstufen gerade in Algerien 'aufgebracht werden. Aerzte, Lehrer, Offiziere der Spezial-einheiten für den Kontakt mit der mohammedanischen Bevölkerung und andere mehr vollbringen hier Leistungen, die über den Fehlgriffen anderer Franzosen nicht übersehen werden sollten. Und wir glauben gerne, daß große Wandlungen immer erst bei einer Minderheit einsetzen. Aber es wird einem doch unbehaglich, wenn einem bewußt wird, was so viele junge Leute tun, die mit Begeisterung von der „nationalen Revolution“ zu künden wissen: sie sind nicht dort, wo sich Frankreichs Schicksal entscheidet; -sondern--sie—ziehen den bequemeren Aufenthalt in Paris vor, um dort Zeitungen herauszugeben, „A bas Mitterand!“ zu schreien und allenfalls unter wohlwollender Neutralität der Polizei die Umfassungsmauern des Parlamentes zu erklimmen. Sie übersehen, daß eine Idee, ein Gefühl Fleisch werden müssen: die Realitäten gehorchen nicht dem Kommando der Worte, sie müssen angepackt werden. Ein Großteil der Träger der „nationalen Revolution“ — wir wagen ihren Anteil nicht genau zu bemessen— unterscheidet sich nur verbal von der Gleichgültigkeit der überwiegenden Mehrheit der Franzosen diesseits des Mittelmeeres.

Daran ist nicht nur menschliche Schwäche schuld — es liegt auch an der besonderen Struktur des französischen Nationalismus. Von der Großen Revolution bis zu Gambetta, als er von der Linken getragen war, hatte er etwas Stolzes und Spendendes: er besaß den Glauben, mit den Ideen von 1789 den anderen Völkern etwas geben zu können. Gegen Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde jedoch die Rechte zum Träger des französischen Nationalismus. Und damit wurde dieser „har-gneux“, verbittert: er beschränkte sich darauf, etwas, was man einmal besessen hatte, nämlich Elsaß-Lothringen, zurückzufordern. Und nach 1918 zog er sich vollends auf ein bloßes Festklammern am Status quo zurück. Das ist so geblieben bis heute: sachlicher Kernpunkt der „nationalen Revolution“ von 1958 ist die Forderung, daß in Algerien alles so bleiben solle, wie es bisher war. Der Ruf nach der „Integration“ der Mohammedaner Algeriens widerspricht dem nicht: diese „Integration“' bleibt doch für die meisten der sie Fordernden etwas Nebelhaftes, dessen Konsequenzen man sich nicht wirklich zu Bewußtsein zu führen wagt. So daß dieser Ruf nur zu oft den Anschein eines Ausweichens vor den Problemen, ja eines Spiels um Zeitgewinn annimmt.

Damit steckt in der „nationalen Revolution“ — auch jenseits des Mittelmeeres — ein die Tat lähmendes, jenes Fleischwerden vereitelndes Element. Und wir erkennen die Gefahr, die in dem eindrucksvollen Aufschwung steckt: daß er nämlich in einem Lande, wo ohnehin so manches zu schnell zu Literatur wird, ein bloßes rhetorisches Ereignis bleibt.

Das hat auch das linksradikale Wochenblatt „France Observateur“ gemeint, als es die Parole von der zur Macht gekommenen Romantik dahin verschärfte, daß bloß die „Stilisten“ an die Macht gekommen seien. Die Politik, die von General de Gaulle und dem Dichter Andre Mal-raux verkörpert wird, beruhe „auf dem Glauben an die Proklamation. Damit eine Idee sich realisiert, genügt es, daß man sie proklamiert.“ Und etwas bissig stellt das Blatt fest, daß de Gaulles Radiorede vom 3. Juli in der Ankündigung einer — neuen Briefmarke kulminiert habe. Der General hatte nämlich damals verkündet: „Um jener Einheit (von Franzosen und Mohammedanern) von vornherein sichtbaren Ausdruck zu geben, wird es in Zukunft nur noch eine

Kategorie von Briefmarken für die Metropole und Algerien geben.“

Der Schluß, den der erwähnte Artikel zieht, ist bitter: „Es sieht so aus, als ob sich Narziß an der Macht befände, der in den historischen Katastrophen nur Anlässe zur Vervollkommnung seines Stiles sieht. Und wenn eines Tages der Bürgerkrieg alle Phrasen hinwegwischt — wird de Gaulle dann, bei seinem neuerlichen Rückzug in die Einsamkeit, ausrufen: .Welchen Künstler verliert die Welt in mir!'?“

Solche Prognosen jedoch seien den Franzosen selbst überlassen. Uns neutralen Beobachtern stehen sie nicht zu. Das „Experiment de Gaulle“ und die es inspirierende „nationale Revolution“ haben ihr Recht auf einen Vertrauenskredit. Hoffen wir darum, daß ein anderer Stilist, der in einen glühenden Gaullisten verwandelte Nobelpreisträger Francois Mauriac, mit seiner Prognose recht habe. In seinem schnell berühmt gewordenen Artikel über „De Gaulle und Mal-raux“ im „Figaro Litteraire“ stoßen wir zwar auch auf den verräterischen Satz: „Heute wird die Geschichte vor unseren Augen wieder zur Künstlerin.“ Aber dann spricht er aus, was er von de Gaulle erwartet — diesem „Botschafter von Jahrhunderten der Gloire, der gleichwohl nicht blind ist für die Notwendigkeiten der Stunde, sondern vielmehr erstaunlich aufmerksam für sie“. So sieht Mauriac de Gaulle: „Es geht für ihn darum, im Bereich der Grandeur nichts zu verleugnen und doch das zuzugestehen, was zugestanden werden muß; da zu brechen, wo die Geschichte keinen anderen Weg zuläßt, ohne daß es sich dabei um eine Ausflucht oder eine Verminderung handeln würde. Das erfordert in dieser bereits legendär gewordenen und gleichsam in eine Idee verwandelten Persönlichkeit zweierlei: die Fähigkeit, eine politische Gegebenheit kalt und unromantisch zu analysieren und anderseits die Fähigkeit, die sich aufdrängende und dauerhafte Lösung zu ersinnen. Diese Fähigkeiten aber besitzt de Gaulle.“

Sollte der General de Gaulle jedoch so sein, wie Mauriac ihn sieht, so wäre eines zu fragen: ob er dann nicht bereits außerhalb jener „nationalen Revolution“ stünde, die ihn an die Macht getragen hat und als deren erste Verkörperung er vorerst immer noch gilt.

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