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Ein „Maßanzug“ für de Gaulle

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Im Franzosen wohnen zwei Wesen, die einander auszuschließen scheinen: auf der einen Seite ist er ein handfester Praktiker, auf der andern ein Liebhaber abstrakter Spiele des Verstandes. Recht deutlich wird das wieder an der Reaktion der französischen Oeffentlichkeit auf de Gaulies Verfassungsentwurf, der nun endlich veröffentlicht, worden ist. Einerseits wird augenzwinkernd gesagt, daß man noch jede Verfassung umgangen oder unterlaufen habe. Der gleiche Mens-.h aber ist imstande, sich mit Leidenschaft am Umdrehen jedes einzelnen Paragraphen dieses Entwurfes zu beteiligen, obwohl noch nicht feststeht, ob im Herbst die Verfassung in dieser Form dem Volksentscheid unterbreitet wird: es ist durchaus möglich, daß Abänderungsvorschläge des von Altministerpräsident Reynaud präsidierten „Verfassungskonsultativkomitees“, das sich zur Zeit mit dem Entwurf befaßt, von dem seit seinem zweiten Regierungsantritt sich so zugänglich zeigenden General noch berücksichtigt werden.

Der Widerspruch in dieser Haltung ist für Frankreichs heutige politische Lage durchaus kennzeichnend. In der „nationalen Revolution“, die de Gaulle an die Macht getragen hat, wirkt ein starkes rhetorisches Element; hinter ihr steht der Glaube, daß ein „Aufschwung der Seelen“ den Lauf der Geschichte zu ändern vermag. Dieser Aufschwung ist zweifellos da, und er wiegt manches von dem auf, was seit dem Putsch vom 13. Mai an bedrohlichen Symptomen vermerkt werden mußte. Aber es ist der arithmetische Punkt noch nicht gefunden, an dem die Verwirklichung einzusetzen hat, an dem jener Elan Fleisch werden kann. Gegenüber dem brennendsten Problem, dem Algerienkrieg, blieb bisher alles beim alten; zwar wurde die Gleichberechtigung von Algeriern und Franzosen proklamiert, aber diese Proklamation ist bisher noch nicht von entscheidenden Maßnahmen gefolgt worden. Aehnlich steht es um die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Erfolg von Pinays Anleihe hat für einige Monate Bewegungsfreiheit geschaffen. Im übrigen sucht man den bisherigen Stand zu wahren: die soeben erlassenen Sondersteuern für die begüterten. Schichten sollen den kleinen Mann dazu bewegen, vorerst alle Wünsche nach einem Angleich seines Einkommens an die Teuerung zurückzustellen. Auch die Außenpolitik tritt vorerst an Ort: die anfängliche Freude über die Gipfelkonferenz wich angesichts des angelsächsischen Wunsches, sie in das de Gaulle nicht vertraute Gewühl der UNO zu betten, und Frankreich zog sich seither auf Maximalforderungen zurück. So bleibt denn die Arbeit an der künftigen Verfassung der „Fünften Republik“ das einzige Feld, auf dem man bisher wirklich tätig ist: die Festlegung des juristischen Rahmens geht also der praktischen Arbeit voraus.

Das ist aber nicht das einzige, was der mit allem Eifer eines alten Juristenvolkes geführten Debatte über den Verfassungsentwurf etwas Unwirkliches gibt. Die neue Verfassung soll eine neue Periode der französischen Geschichte einleiten. Wer sie näher unter die Lupe nimmt, entdeckt aber sogleich, daß es sich bei ihr — wie es von der Pariser Presse formuliert wurde — um „einen Maßanzug für General de Gaulle“ handelt. Ihre Befürworter stützen sich einseitig auf diese Betrachtung der Dinge. Sie haben dabei die Mehrheit der französischen Politiker hinter sich, die ja heute in de Gaulle nicht einen Feind, sondern den Schild der Republik erblicken. Und es ist zu erwarten, daß auch das Stimmvolk den Verfassungsentwurf vor allem im Hinblick auf den General beurteilen wird. Nur wenige scheinen sich Gedanken darüber zu machen, welche Auswirkungen diese Verfassung haben könnte, wenn das in ihrem Mittelpunkt stehende Amt des Staatspräsidenten (.Präsident der Republik“) nicht von der in jeder Beziehung außergewöhnlichen Gestalt de Gaulles ausgefüllt würde.

Man hat den nunmehr vorliegenden Entwurf auf die Formel zu bringen gesucht, daß er das bisherige „P a r 1 a m e n t s r e g i m e“ (das sich zweifellos als unfähig erwiesen hat, die großen Probleme Frankreichs zu lösen) durch ein „P r ä s i d i a 1 r e g i m e“ nach amerikanischem Muster ersetzen wolle. Gewiß trifft sich manches mit dem amerikanischen Vorbild. Der auf sieben Jahre gewählte Staatspräsident würde zum eigentlichen Chef der Exekutive und der von ihm ernannte Ministerpräsident wäre ein bloßer

Adjutant, der als Prell- und Sündenbock zwischen diesem Regierungschef und dem in seiner Kontrollfunktion beschnittenen Parlament dienen würde. Und der neu zu konstituierende „Verfassungsrat“ ist deutlich als eine dem Staatspräsidenten übergeordnete Kontrollinstanz nach dem Muster des Obersten Bundesgerichtes in Washington gedacht. Aber ein wichtiger Unterschied ist bei diesem Vergleich mit den USA übersehen. Ein Ausgleich zur Machtfülle des Präsidenten wird dort durch dessen Volkswahl gebildet.

In der vorgeschlagenen französischen Verfassung jedoch ist man der Tradition der Dritten und der Vierten Republik treu geblieben, d i e direkte Einflußnahme des Volkes auf die Politik ängstlich auszuschalten. Die Annahme dieser Verfassung wäre nicht nur seit langem der erste wirkliche politische Entscheid des französischen Volkes; er wäre wohl auch der letzte, solange diese Verfassung bestehen würde. Das „Referendum“ ist nämlich bloß für Verfassungsänderungen und zwei andere Fälle von geringer Bedeutung vorgesehen. Genau gleich schaltet der Verfassungsentwurf bei der Wahl des Staatspräsidenten, die angesichts von dessen Mächtfülle zum wichtigsten Akt der französischen Innenpolitik würde. Einerseits schließt sie die Wahl durch das Parlament aus, die in der Vergangenheit zu so viel unwürdigem Handel geführt hat. Anderseits soll aber auch das Volk nicht direkt darüber entscheiden können, an wen es für sieben Jahre de facto seine Souveränität delegiert. Das Wahlgremium wird sich vielmehr aus den Parlamentariern und den Generalräten der Departemente und den Gemeinderäten zusammensetzen — also dem, was man in Frankreich die „Notabein“ nennt. Da aber die völlig überalterte administrative Einteilung Frankreichs bis zur ersten Wahl eines solchen Staatspräsidenten kaum umstürzend verändert wäre, würde das bei dem bisherigen Uebergewicht der zurückgebliebenen ländlichkleinbürgerlichen Gegenden heißen, daß die Wahl eines Mannes praktisch ausgeschlossen wäre, der energisch Frankreichs Anschluß an die moderne Welt durchsetzen würde.

Allerdings: Nicht nur ein bremsendes Element ist in dieser Konstruktion des Amtes eines Staatspräsidenten neuer Art eingeschlossen. Sie enthält zugleich auch recht explosive Möglichkeiten. Der umstrittenste Satz des Verfassungsentwurfes lautet: „Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Unversehrtheit ihres Territoriums oder die Ausführung ihrer internationalen Verpflichtungen in schwerer und unmittelbarer Weise bedroht sind, ergreift der Präsident der Republik nach offizieller Konsultation (sie!) des Ministerpräsidenten und der Präsidenten der Versammlungen die von den Umständen erforderten Maßnahmen.“ Auch der Nichtjurist erkennt, daß das ein „D i k t a-turparagraph“ ist, der den entsprechenden Paragraphen der Weimarer Verfassung an Großzügigkeit weit übertrifft. Ein Kritiker auf der Linken konnte mit Recht feststellen: „Es ist sicher, daß ein Mann des Putsches vom 13. Mai, wenn er-eines Tages zum Präsidenten der Republik gewählt würde, mit Hilfe dieser Bestimmungen sein persönliches Regime errichten könnte: Er brauchte zum Beispiel nur festzustellen, daß der Algerienkrieg die territoriale Integrität bedrohe.“ Der Satz des gleichen Paragraphen 14, daß bei der Errichtung einer solchen Diktatur der Verfassungsrat konsultiert (!) werden müsse, scheidet ja mit dieser Formulierung wohl von vornherein ein Veto des Verfassungsrates gegen die Diktatur aus ...

Damit ist nur der eine kritische Punkt dieses Verfassungsentwurfes berührt. Der andere besteht darin, daß die Formeln, welche den künftigen Einbau von Commonwealth-Strukturen in die Verfassung erlauben sollen, von einer Verschwommenheit und Unklarheit sind, welche die französische „clarte“ schmerzlich vermissen lassen. Es hat denn auch schon eine Rebellion eines Großteils der Negerpolitiker eingesetzt, die der Meinung sind, daß sie sogar in der doch so zentralistischen bisherigen Verfassung besser weggekommen seien.

Auf jeden Fall gefährdet diese Unzufriedenheit im „schwarzen Afrika“ de Gaulles „Ple-biszitierung“ in diesem Herbst: Es ist bekannt, daß der General allfällige größere Widerstände unter dem französischen Stimmvolk gegen die neue Verfassung mit seinem Ansehen bei der farbigen Bevölkerung Afrikas ausgleichen will: sie soll in einer noch nicht genau bestimmten Form am Referendum teilnehmen.

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