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Die Zukunft hat noch nicht begonnen

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Frankreich befindet sich nach dem Plebiszit vom 28. September in einer paradoxen Lage: die eindeutigste Mehrheit nach 1945 hat eine der konfusesten Lagen in diesem Lande geschaffen. Die „Fünfte Republik“ hat mit einem Vorgang begonnen, den man an der nun begrabenen Vierten Republik immer wieder gerügt hat: die Gegensätze wurden unter einer „nationalen Einheit“ begraben, die in Wirklichkeit nur eine Scheineinheit ist. Dem General de Gaulle ist nun einmal die nationale Mythologie wichtiger als die konkreten Probleme Frankreichs. Er hat darum für die nationale Einigkeit hinter seiner Person einen Preis bezahlt, der gefährliche Folgen haben kann: er hat allen Recht gegeben; indem er sich für niemanden entschieden hat. Außer den Kommunisten und ein paar Einzelgängern um Mendes-France oder auf der äußersten Rechten ist heute jedermann Gaullist: Soustelle so gut wie Mollet; die Feinde der Republik so gut wie ihre Freunde; die Putschisten vom 13. Mai sowohl wie die Mitglieder der Regierung, gegen die der Putsch sich damals richtete. Man konnte für de Gaulle stimmen, weil man von ihm ein Verhandeln mit den algerischen Nationalisten erwartet, und ebensowohl, weil man von ihm eine verschärfte Weiterführung des Algerienkrieges erwartet. Das Ja bedeutete für die einen, daß die Arbeiterschaft nun endlich den ihr gebührenden Platz innerhalb der Nation erhalten solle, für die anderen bedeutete es, daß von nun an eine starke Hand alle Streiks niederschlagen werde. Die einen erhoffen von de Gaulle eine Zurückdämmung der aus Algerien herüberzüngelnden totalitären Versuchungen, die andern feiern bereits die endgültige Niederlage der Demokratie. Man sieht: das Plebiszit hat nichts gelöst, es hat bloß alle Probleme ein weiteres Mal auf die lange Bank geschoben.

Ein Mann, auf den sich so verschiedenartige Hoffnungen heften, ist in seiner Handlungsfreiheit aufs schwerste beschränkt. Was er auch immer tun wird — einen Teil seiner Anhänger wird er bestimmt damit vor den Kopf stoßen. Diese unglückliche Situation verstärkt in de Gaulle den ihm ohnehin schon innewohnenden Hang, das Repräsentieren der Nation vor das notwendig Parteiungen schaffende Handeln zu stellen. Die Proklamation hat den Vorrang vor der Aktion. Die Vermengung der Funktionen von Staatspräsident und Regierungschef, wie sie die neue Verfassung vornimmt, ist de facto schon da, ehe de Gaulle zum ersten Präsidenten der Fünften Republik gewählt worden ist: General de Gaulle, der Sieger vom 28. September, ist ein Ministerpräsident wider Willen, den es mit aller Kraft zur Schiedsrichterrolle an der Staatsspitze zieht.

Wäre de Gaulle ein von seiner Nation geliebter Mann, so könnte er sich manches erlauben. Aber Liebe vermag seine brüske und etwas starre Person immer noch nicht zu wecken, obwohl er seit Kriegsende zweifellos an Umgänglichkeit gewonnen hat. Er hat sich auch nicht als beruhigende und schützende Vatergestalt in der Seele der Franzosen einrichten können. De Gaulle ist nach wie vor eine schroffe Jeanne-d'Arc-Figur geblieben, doch ohne die Milderungen des weiblichen Geschlechts, und seine überragende Stellung innerhalb der Nation verdankt er zuallererst seinem grundsätzlichen und schroffen Anderssein — dem, was ihm vom vielzitierten „mittleren Franzosen“ unterscheidet. Das erklärt auch, weshalb das Plebiszit trotz der Vierfünftelmehrheit von jedem Ueberschwange und jedem Freudenrausch frei war. „In Ruhe und Gleichgültigkeit hat Paris das Regime gewechselt“, schrieb ein Pariser Blatt, doch galt das für das ganze Land und selbst für Algerien. Das Plebiszit hat der so tief eingefleischten Gleichgültigkeit des französischen Bürgers gegenüber der Politik kein Ende gemacht — im Gegenteil: es unterstützt sie. „Sag ja zu Frankreich!“ forderten den Bürger die Plakate auf. Das hieß: nicht wahr, du bist doch auch dafür, daß es anders wird? Unter dieser unverbindlichen Devise gelang es, sogar der sonst so stabilen Kommunistischen Partei einen Teil des Flugsandes an Unzufriedenen abspenstig zu machen, der sich normalerweise um sie lagert. Man delegiert all seine Sorgen an die Rettergestalt de Gaulies, die für alles eine Lösung finden wird

Kurzum: auch wenn mit dem Plebiszit vom 28. September juristisch eine neue Republik begonnen hat, so hat doch damit noch keine „neue Zeit“ eingesetzt. Bisher haben bloß die Unentschiedenheiten der alten Vierten Republik ihre Zusammenfassung in einer schöner drapierten „General-Unentschiedenheit“ gefunden. Was wirklich kommen wird, werden erst die Kammerneuwahlen der zweiten Novemberhälfte zeigen, sofern die neue Wahlprozedur, die de Gaulle (auf Grund seiner unbeschränkten Vollmachten für die ersten vier Ueber-gangsmonate) von sich aus festlegen kann, einen unverfälschten Ausdruck des Volkswillens zulassen. Dann hat das Volk sich nicht mehr für oder gegen eine Rettergestalt zu entscheiden, deren Llmrisse in mythischem Nebel verschwimmen. Dann geht es darum, welche Leutnants man dem General an die Seite stellen will. Da geht es dann um konkrete Personen und konkrete Gruppierungen. Man wartet mit Spannung auf diesen Entscheid.

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