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Im Dunst der Komplotte

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Auf das „Attentat Mitterand“ ist ein „Skandal Mitterand“ gefolgt. Es ist möglich, daß der Mann, den wir vor einer Woche als „smarten jungen Politiker“ geschildert haben, z u smart gewesen ist. Der frühere poujadistische Abgeordnete Pesquet behauptet, er habe jenes Attentat im Einvernehmen mit Mitterand selbst inszeniert; er sei darauf eingegangen, um all die Gerüchte von Mordkommandos und Komplotten als Provokation der angeblich Bedrohten zu entlarven. Mitterand bestreitet das energisch; es handle sich um ein Lügengespinst, das ihn als mißliebigen Politiker ausschalten solle. So steht Behauptung gegen Behauptung. Gewiß ist Pesquet als höchst bizarrer Mann bekannt, dem eine Mystifikation durchaus zuzutrauen wäre. Aber er hat einen schwerwiegenden Beweis vorgelegt: in einem vor dem Attentat abgesandten Einschreibebrief, der von einem Notariats angestellten abgeholt wurde, hat er den Verlauf dei Attemaw ’genau' -freschrteben. Vomefterr Mitterands wird dem entgegengehalten, daß es bloß der Komplizität eines Postangestellten bedürfe, um einen solchen Brief mit einem rückdatierten Datumstempel zu versehen. Tatsache ist, daß vorerst die Oeffentlichkeit mehrheitlich geneigt zu sein scheint, nun jenes aufsehenerregende Attentat für gestellt zu halten.

Sollte die gerichtliche Untersuchung diesen Verdacht bestätigen, so könnte das sehr weit- tragende politische Folgen haben. Zunächst einmal wäre wohl Mitterands Laufbahn erheblich gefährdet: tödlicher noch als die moralische Seite der Affäre könnte sich dabei für ihn auf dem Pariser Pflaster auswirken, daß er sich von einem noch größeren Schlaumeier hätte hereinlegen lassen. Für die nichtkommunistische Linke, die sich bisher so ausgiebig der Vorteile der moralischen Anklägerposition bediente, wäre die Geschichte auch peinlich: das Opfer der Dolchstoßlegende von den „Verschleuderern des Empire“ wäre also selbst bei der Fabrikation einer solchen Dolchstoßlegende in flagranti ertappt worden. Und darüber hinaus würden einige tausend Franzosen mehr sagen: „So also ist die Politik!“ Es war der linksoppositionelle „Expreß“ selbst, der diese Woche, wenn auch in anderem Zusammenhang, festgestellt hat: „Die eigentliche Gefahr ist der Ekel, den man in einem Teil der Nation vor den politischen Methoden weckt — ein Ekel, der zu unserem Erstaunen größer ist als der von den ,bradeurs‘ (Verschleuderern) geweckte Haß. Und dieser Ekel kann in der Zukunft zu den unvorhergesehensten Dingen führen.“

Es ist klar, daß man unter diesen Umständen die Gerüchte mit doppelter Vorsicht zur Kenntnis nimmt, Frankreich wäre um die Mitte dieses Monats beinahe einem „zweiten 13. Mai" zum Opfer gefallen. Nach diesen Gerüchten sollen die „Ultras“ mit gewissen Generälen zusammen versucht haben, mit einer koordinierten Aktion auf parlamentarischer Ebene und auf der Straße die Regierung Debrė durch eine Regierung Bi- dault zu ersetzen und den Staatschef de Gaulle wieder auf eine bloß symbolische Rolle zurückzudrängen. Vorläufig kann man zu diesen Gerüchten nur eines feststellen: welche politische Funktion sie haben.

Der wichtigste politische Vorgang der französischen Politik in diesem Monat ist die von de Gaulle anscheinend beschleunigte Abspaltung des stark korsisch gefärbten „Ultra“-Flügels der Delbecque, Biaggi, Battisti, Thomazo von der gaullistischen UNR. Das war der erste Schlag gegen einen Zustand, der seit dem letzten Jahr die Republik gefährdete: der Zustand nämlich, daß die Uebergänge vom Gaullismus zum Rechtsextremismus der „Ultras“ fließend waren. Die nichtkommunistische Linke hatte alles Interesse daran, diesen Graben zwischen den „Ultras“ und de Gaulle zu vertiefen und so de Gaulle nach links herüberzuziehen. Die Rechte behauptet denn auch schon, daß die Warnung des de-Gaulle-treuen Gaullisten Neuwirth vor Mordkommandos und das wenige Stunden später erfolgte „Attentat" auf Mitterand abgekartetes Spiel gewesen seien. Sollte sich’ nun dieses Attentat wirklich als ein Schwindel erweisen, so wäre die Grenzziehung zwischen Gaullismus und Extremismus wieder gefährdet. Und jene energische Aktion gegen die „Ultras“, die Voraussetzung zu jeder liberalen Lösung der Alge- rienfrage ist, wäre erheblich erschwert.

Man sieht also, daß es beim „Skandal Mitterand" um mehr als bloß den Ruf eines einzelnen Politikers geht. Die Verfechter des Status quo haben denn auch ihre Chance durchaus wahrgenommen und weisen, als verfolgte Unschuldslämmer, entrüstet jeden Verdacht illegaler Handlungen von sich. Ihre Taktik scheint ganz zu sein, den de-gaullschen Algerienplan von innen her zu blockieren. Sie sagen: Gewiß, die Bevölkerung Algeriens soll das Recht auf Selbstbestimmung haben — aber niemand kann uns verwehren, uns im Namen der weißen Bevölkerung Algeriens und der mit ihnen zusammenarbeitenden Mohammedaner energisch für eine der drei vom Staatschef erwähnten Möglichkeiten, nämlich die „Französisierung“ Algeriens, einzusetzen. Und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese „Französisierung“ bei dem künftigen Referendum „siegen“ würde, wenn die Armee erstens diese Lösung einheitlich wollte und zweitens bis zum Referendum nicht von de Gaulle aus ihrer übermächtigen Stellung in Algerien verdrängt würde. Einmal mehr erweist sich die französische Armee als die soziale Gruppe, die die entscheidenden Schlüssel in der Hand hat.

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