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Zielscheibe Mitterand

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Paris, im Oletober Als letzten Donnerstag die gaullistische Kammerfraktion sich über Algerien in die Haare geriet, mahnte ein Abgeordneter zur Einigkeit im Vertrauen auf de Gaulle: „Schon morgen kann die Katastrophe eintreten. Bereits haben Kommandos von Mördern die spanische Grenze passiert. Die Persönlichkeiten, welche umgelegt werden sollen, sind bezeichnet. Achtzehn Monate nach einer friedlichen, ohne einen Blutstropfen abgerollten Revolution’ könnte es leicht zu einem mörderischen inneren Konflikt kommen.“ Das tönte ein wenig wie im Kino. Aber der Mann, der das sagte, war immerhin Lucien Neuwirth, einer der Drahtzieher des 13. Mai. Er mußte es schließlich wissen, wenn er so drastisch vor seinen ehemaligen Mitverschwörern, den „Ultras“ unter den Algerienfranzosen, warnte.

In der Nacht nach dieser zuerst nicht recht ernst genommenen Erklärung verließ ein 43jähriger, ausgesprochen gut aussehender und sportlicher Mann das Restaurant Lipp am Boulevard Saint-Germain, die Hochburg der republikanischen Politiker. Er setzte sich in sein Auto, um nach Hause zu fahren, als er merkte, daß er von einem anderen Wagen verfolgt wurde. Geistesgegenwärtig bog er nicht in die Straße ein, in der er wohnt, sondern schlug einen Haken zu einem Park, sprang aus dem Auto und landete mit einem Hechtsprung jenseits des Parkgitters. Von dort aus sah er den für einen Augenblick abgehängten Verfolgerwagen heranbrausen, und schon durchlöcherte eine MP-Salve den stehengelassenen Wagen. Der Mann, der hinter einen Baum geduckt dem Attentat auf sich selbst zuschaute, war der Senator und zehnfache Exminister Francois Mitterand, einer der ernsthaftesten Anwärter auf den Posten des Chefs einer nachgaullistischen und nichtkommunistischen Linken.

Der Haß, den Mitterand auf sich konzentriert, ist grundverschieden von dem Haß auf Mendes- France, dessen designierter Kronprinz Mitterand einige Jahre lang war. Zwar wirft man beiden das gleiche vor: „bradeurs" Verschleuderer des Kolonialreiches zu sein. Aber der Haß auf Mendes ist stechend, gallig; in den Haß auf Mitterand spürt man meist etwas Bewunderung eingewoben. „Das ist einfach", erklärte uns das einmal ein faschistischer Chef. „Mitterand gehörte ja anfänglich zu uns, der Marschall Petain hat ihn einst mit der Francisque dem Ehrenzeichen des Vichy-Staates ausgezeichnet. Er ist aber dann rechtzeitig genug zur Resistance übergegangen.“ Nun, diese Dinge sind nie völlig geklärt worden. Feststeht auf jeden Fall, daß Mitterand für die jungen Aktivisten auf der Rechten keineswegs die Verkörperung des Gegentypus ist. Ihn nun aber als „Renegaten“ zu klassieren, wäre zu simpel.

Mitterand gehört einem Politikertypus an, der seit dem letzten Krieg in fast allen europäischen I.ändern in Kommandostellen aufgerückt ist. Diesem Schlag geht das ideologische Pathos des alten Politikertypus ab; diese jungen Männer haben alle etwas Smartes, und die Politik ist für sie eine Technik unter anderen, die auch beherrscht werden muß. Es paßt gut zu Mitterand, daß er nicht aus der traditionellen großbürgerlichen Führungsschicht seines Landes stammt. Wie Soustelle kommt er aus einfachsten Verhältnissen, aus der kinderreichen Familie eines Eisenbahners in der südwestlichen Provinz. Ein großzügiges Stipendiensystem ermöglicht aber den Begabten aus den Schichten seit langem schon den Aufstieg. Bei Kriegsausbruch hat der Dreiundzwanzigjährige bereits ein Diplom der hochberühmten „Ecole des Sciences politiques", ein philosophisches sowie ein juristisches Lizentiat vorzuweisen und will in den Journalismus einsteigen. Der Krieg aber wirft ihn in die Politik. Mitterand bricht aus deutscher Gefangenschaft aus und gründet im unbesetzten Frankreich die „Nationale Bewegung der Kriegsgefangenen und Deportierten“ — eines jener im Vichy-Staat recht häufigen Gebilde, die auf de einen Seite von den offiziellen Stellen gefördert wurden, auf der anderen Seite aber wiederum als Schutzschild für Widerstandsaktionen dienten.

Diese Art des Einstieges in die Politik ist übrigens für Mitterand bezeichnend. Er entschied sich für die Vertretung einer neu in die Politik eintretenden Gruppe, die erst nach einem Stil und einer Führung suchen mußte. Die Suche nach Neuland, der Kampf gegen alte Bärte — das ist Mitterands Stil. Seine Karriere in der Vierten Republik hat er ja dann auch in einer neuen Formation gemacht, der kleinen, zwischen Radikalen und Sozialdemokraten eingeschobenen Widerstandspartei UDSR Union democratique et socialiste de la Resistance, deren Präsident er heute, nach der Verdrängung seines Rivalen Pleven, ist. „Berufswiderständler“ ist er dabei jedoch nicht geworden. Affekte sind Zeitverlust für diesen jungen Politikertypus.

Allerdings: Prinzipien hat Franqois Mitterand bei aller „Souplesse" schon. Das unterscheidet ihn von einem anderen brillanten jungen Mann, dem gleichaltrigen heutigen Kammerpräsidenten Chaban-Delmas, der trotz allem Gaullismus recht verschiedenen Herren gedient hat. Seit Mitterand 1947 zum erstenmal Minister geworden war, änderte er seine Anschauungen nicht Im Gegenteil: er brachte für sie Opfer. Seine mit Krach erfolgte Demission aus dem Kabinett Laniel im September 1953 war unter der Vierten Republik eine der sichtbarsten Aktionen gegen den überholten Kolonialismus. Und als Innenminister — der bisher jüngste Inhaber dieses Schlüsselpostens! — im Kabinett Mendes-France hatte er mit seinem Chef zusammen die ganze Wucht der Dolchstoßlegende über den Indochinakrieg zu tragen. Es mag sein, daß er sich in der Folge ein wenig von dem kompromittierenden älteren Freund zu distanzieren suchte. Seine Ideen zum französischen Zentralproblem dieses Jahrzehnts, der Kolonialfrage, hat er jedoch nie, auch im stärksten Beschuß nicht, abgeschworen.

Welches sind diese Ideen? Selbst Mitterand gut gesinnte Leute sehen, unter dem ihnen nicht bewußt werdenden Einfluß jener „Bradeur"- Legende, diese Ideen falsch. Sosehr es der landläufigen Ansicht ins Gesicht schlägt: es gab im letzten Jahrzehnt wenig französische Staatsmänner, die sich mit gleicher Energie wie Mendes-France und Mitterand gegen die Zuerkennung der Unabhängigkeit an die früheren Kolonien und Protektorate in Afrika wandten. Diese „Unabhängigkeit" ist für die beiden Männer eine Fiktion, gleichbedeutend mit dem Abgleiten in andere Einflußsphären. Gleichzeitig aber war ihnen früher als anderen bewußt, daß eine Bindung dieser Gebiete an Frankreich nur dann dauerhaft sein würde, wenn sie in dieser Bindung ihr Eigenleben, ihr eigenes Recht und ihre eigene Würde gewahrt fänden. Das war der Sinn der berühmten Mendesschen Rede in Karthago vom August 1954 — was auch immer seine Nachfolger aus der dort gezogenen Bahn gemacht haben mögen. Das auch ist der Sinn der Commonwealth-Ideen, wie sie Mitterand in seiner streitbaren Rechtfertigungsschrift „P r e- sence franqaise et Abandon“ Verlag Pion, Paris entwickelt hat.

Es ist jedoch zu befürchten, daß es auch weiterhin mit MPs bewaffnete Männer geben wird, die Mitterand für einen der beiden „Totengräber des Empire“ halten . ..

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