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Mariannes jahes Erwachen

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In dem Augenblick, in dem wir diesen Bericht über die konfuse Lage Frankreichs und seiner algerischen Dependance niederzuschreiben beginnen, sind die Sorgen der Regierung Pflimlin noch lange nicht zu Ende. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie die Lage wieder in den Händen hat. Ahe* eines kann jetzt schon festgestellt werden: die Republik hat beides überstanden: das Pronunziamento in Algerien und den Appell des Generals de Gaulle.

Das Verdienst daran kommt zu einem erheblichen Teil dem neuen Ministerpräsidenten Pflimlin zu. Es hat sich als ein Glücksfall erwiesen, daß dieser eigensinnige ElsässeT sich in diesen kritischen Tagen an der Spitze befindet, den die Republik bisher eifersüchtig von der iMtrchr ferngehnittn-liat '■ vtii der-erot-fettrfe wurde, als et im Dachituhl zu brennen begann. Die meiiten anderen Politiker der Vierten Republik hätten auf die Aufrechterhaltung ihrer Kandidatur verzichtet, wenn sie auf solchen Widerstand der „Ultra“ in Algerien gestoßen wären. Hätte Pflimlin jedoch den Platz geräumt, so wäre unweigerlich ein Algier untertäniges Kabinett aufgestellt worden, Das wäre nicht nur das Ende des parlamentarischen Regimes gewesen — es hätte auch den Absturz in unabsehbare Abenteuer bedeutet. Pflimlin hielt stand und wurde dadurch das Symbol, auf das sich der „Reflex der republikanischen Verteidigung“ konzentrierte.

Dies nämlich ist das eigentlich Erstaunliche an diesen unruhigen Tagen: dieser Reflex, der so oft schon totgesagt worden ist, hat noch erstaunlich gut funktioniert. Ohne Barrikadenpathos zwar und ohne besondere Begeisterung — eher mit der etwas trägen Beharrungskraft der einmal etablierten Ordnung. Das alte Sprichwort „Die Republik regiert schlecht, aber sie verteidigt sich gut“ gilt immer noch. Das Pronunziamento in Algier hat die sonst so uneinigen Parteien von den Sozialisten bis in die Reihen., der Rechten hinein zusammengeschlossen. Und der Franzose des Mutterlandes, der sonst nicht genug Schlechtes über seine Republik reden kann, zeigte offensichtlich — von vereinzelten Rechtsextremisten abgesehen — keine Lust, seinen gewohnten Lebensstil zugunsten eines nordafrikanischen „Caudillismus“ aufzugeben.

Damit aber — mit Pflimlins Hartnäckigkeit und mit dem Ausbleiben jedes Ueberspringens des Funkens nach Frankreich — ist der Versuch der Weißen Algeriens (die ja nur zum Teil Franzosen von Herkunft sind) mißglückt, Paris ihre Politik aufzuzwingen. Auf die Dauer werden sie nicht, auch wenn ein Teil der Armee sie unterstützt, zwei Fronten halten können: gegen den Maquis und gegen das Mutterland, von dem sie abhängig sind.

Einen Auftrieb hat ihnen zwar noch einmal der Aufruf von de Gaulle gegeben. In Frankreich allerdings hat der Schritt des politisch so unbegabten Befreiers von 1944 wie ein Bumerang gewirkt: er hat die Abwehrfront um Pflimlin noch verstärkt und diesem eine eindrucksvolle Kammermehrheit für die Ausrufung eines auf drei Monate , befristeten „Dringlichkeitszustandes“ mit ziemlich unbeschränkten Vollmachten verschafft. De Gaulle hat den Fehler begangen, sich selbst als Retter des Vaterlandes zu empfehlen: dazu muß man „wider Willen“ von den andern vom Pflug weggeholt werden. Und es steckte auch etwas zutiefst Fragwürdiges in de Gaulles Aufruf. Er wolle „assumer les pouvoirs de la Republique“ — das kann zweierlei heißen: sowohl die Macht der Republik ausüben, wie sie „absorbieren“. Außerdem hat der General auch jetzt noch nicht verraten, welche Politik er im Falle einer Machtübernahme durchführen würde. Er hat einmal mehr das „System“ angegriffen, das er doch als erster und fast unbeschränkter Regierungschef der Vierten Republik selbst geschaffen hat. Er hat nicht einmal gesagt, ob er die Rebellen von Algier billigt oder nicht. So mußte der Weg de Gaulle notwendig ebenfalls als ein recht ungewisser Weg ins Abenteuer erscheinen.

Der Mann, der die zerspaltene Nation in seiner Person einigen möchte, ist so fatalerweise zum Spalter geworden. Nicht einmal die Rechtsextremisten können sich auf ihn einigen: am Tag der Kammerabstimmung über die Vollmachten an Pflimlin hat der seinerzeitige Verteidiger des Marschall Petain, der heute Abgeordneter der Rechten ist (und der notabene gegen Pflimlin stimmte), de Gaulle das Recht abgesprochen, im Namen Frankreichs zu sprechen. Es ist also dem General nicht gelungen, zum einigenden Vatersymbol zu werden, was Petain 1940 immerhin für einige Wochen gelungen war.

Aber nicht nur die Ungeschicktheiten General de Gaulles und der „Ultras“ in Algerien kamen Pflimlin zugute. Es stützt ihn noch etwas and-res. Der Verteidigungsreflex der Republik war so stark, daß die gemäßigte Rechte befürchten muß, die Mitte und die niehtkommunistiseht Linke können sich mit den Kommunisten verbünden, um die Gefahr von rechts außen abzuwehren. Aus diesem Grunde hat sich eine politisch weitsichtige Fraktion der Rechten auf die Seite Pflimlins geichlagen, um dieiei „Volks-front-Tete-a-tete“ zu verhüten. Daß die ehriitliehe CFTC- und die sozialistische FO-Gewerk-schaft zusammen mit der kommunistischen CGT-Gewerkschaft mit dem Generalstreik im Falle eines Nachgebens gegenüber de Gaulle oder gegenüber Algier drohen, ist ein Warnungszeichen, das nicht überhört wurde.

Kurzum: da die Regierung Pflimlin in den kritischen ersten Tagen gehalten hat, wird sie wohl auch das weitere überstehen und die Republik dürfte für einmal gerettet sein. Aber die Aufgaben bleiben bestehen, ohne deren Lösung die Vierte Republik früher oder später doch dem Untergang geweiht ist. Der Krieg in Algerien muß früher oder später eine Verhandlungslösung finden, da eine Lösung durch Gewalt angesichts des fanatischen Widerstandes des überwiegenden Teiles der mohammedanischen Bevölkerung und angesichts der sich abzeichnenden Schwenkung der USA kaum noch möglich sein dürfte. Die Ereignisse in Algerien haben aber den psychologisch schon immer bestehenden Graben zwischen den Franzosen diesseits und jenseits des Mittelmeeres kraß sichtbar gemacht. Und sie haben gezeigt, daß auf seifen der letzteren ein ebenso starrer Wille vorhanden ist, am Status quo festzuhalten.

Bei so auseinanderstrebenden Kräften eine vernünftige Lösung zu finden und eine Katastrophe zu vermeiden — das ist eine Aufgabe, die noch andere Fähigkeiten verlangt als die Beharrungskraft, welche die Regierung Pflimlin in diesen Tagen bewiesen hat. Wird es dabei bleiben, daß die Republik sich gut verteidigt, aber schlecht regiert?

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