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Warten auf Monsieur le President

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Schon im Sommer gab es Leute, die sich wunderten, daß General de Gaulle die ihm von der alten Kammer so großzügig erteilten Vollmachten nicht benutzte, um die einschneidenden Maßnahmen zu ergreifen, ohne die sein Haus auf Sand gebaut sein wird. Diese Leute erhielten von den Anhängern des Generals die Antwort: de Gaulle wartet das Referendum ab; hat er erst das Volk hinter sich, dann packt er zu. Nun, das Referendum vom 28. Oktober hat de Gaulle nicht nur eine V'erfünftel-mehrheit, sondern auch noch die unbeschränktesten Vollmachten eingebracht, die in Frankreich ein republikanischer Regierungschef je erhalten hat. (Vollmachten notabene, die am 5. Februar erlöschen!) Aber jene Eingriffe erfolgten auch jetzt noch nicht. Der General wartet die Kammerwahlen ab, hieß es nun. Die Kammerwahlen mögen mit ihrer ungleichen Gewichtsverteilung den Hoffnungen de Gaulies nicht entsprochen haben, doch sie waren zweifellos eine Erneuerung des Urteilsspruches des Referendums. Aber bereits bekommt man zu hören: der General wartet erst ab, bis er zum ersten Präsidenten der Republik gewählt sein wird; dann ernennt er einen Ministerpräsidenten und regiert mit Hilfe dieses Mittelsmannes.

So muß man denn, will man von den Aktionen der Regierung de Gaulle berichten, sich auf dasjenige Gebiet beschränken, auf dem bisher allein etwas geschehen ist: auf das staatsrechtlich-juristische nämlich. In Frankreich scheint der Hang unausrottbar zu sein, die Zukunft formal zu planen und darüber die schmerzhaften praktischen Eingriffe zu vernachlässigen. Trotz Atomkraft, Bandung und Sigmund Freud schwebt immer noch der Geist der Legisten über diesem Lande.

Fangen wir mit dem an, was nach der neuen Verfassung das Wichtigste ist: mit dem Präsidenten der Republik, der am 21. Dezember gewählt werden soll. Zwar ist für den 28. Dezember auch noch ein zweiter Wahlgang vorgesehen, aber im Grunde rechnet niemand damit, daß es zu einem solchen wirklich kommen könnte. Seit Präsident Coty offiziell und gewiß nicht ohne vorherige Verabredung mit de Gaulle auf eine Wiederwahl verzichtet hat, gilt es als ausgemacht, daß der General kandidieren wird. Und wie sollte er nicht gleich beim ersten Male das absolute Mehr erreichen?

Allerdings sind im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Kammerwahlen erneut die Gerüchte aufgetaucht, de Gaulle werde auf den Elysee-Palast verzichten und Ministerpräsident bleiben. Daß die neue Kammer so unausgewogen herausgekommen sei, schneide ihm den Rückzug auf das Schiedsrichteramt ab; nur ein Mann wie de Gaulle könne dem Amt des Ministerpräsidenten genügend Gewicht gegenüber einer Kammer mit stark nationalistischer Schlagseite verleihen. Eine selche Argumentation übersieht jedoch nicht nur juristische Gegenargumente: daß die Kammer von nun an bedeutend weniger zu sagen hat, und daß der Präsident der Fünften Republik nicht nur ein Schiedsrichter sein wird, sondern über seinen „Adjutanten“, genannt Ministerpräsident, auch direkt regieren kann. Jene Argumentation setzt außerdem de Gaulies persönliche Eigenart zuwenig in Rechnung. Die Nation zu präsentieren, ist nun einmal sein Hauptanliegen. Und hat er nicht seit dem Frühjahr peinlich alle Gelegenheiten gemieden, bei denen ihm das Protokoll eine zweite Rolle hinter dem doch so zurückhaltender. Herrn Coty zugewiesen hätte? (Typisch jener 14. Juli, bei dem de Gaulle zusammen mit Coty im Automobil die Truppen entlang fuhr, nachher aber statt auf die Tribüne sich nach Toulon zur Flotte begab.) Wirklich, man kann sich de Gaulle nur schwer als Nicht-Kandidaten fürs Elysee vorstellen.

Natürlich ist es durchaus möglich, daß auch noch jemand anderer kandidiert. Es bedarf dazu, bis zum 9. Dezember, bloß eines Vorschlages von fünfzig Köpfen aus dem rund 70.000 Köpfe starken Wahlkollegium. Die Parlamentarier machen darin nur einen Bruchteil von etwa mehr als einem Prozent aus. Das Gros stellen die Gemeinderäte, die Generalräte der Departements und die Mitglieder der Parlamente der überseeischen Territorien. Außer den neuen Kammerabgeordneten handelt es sich also mehrheitlich um Männer, die schon vor de Gaulies Machtantritt in ihre Aemter gekommen waren (die Gemeinderäte werden erst im März erneuert und der Senat im April).

Die erste Vorwahl zur Präsidentenwahl fand übrigens bereits am 7. Dezember statt. Die Zahl der Wahlmänner wird nämlich proportionell zur Größe der Gemeinde abgestuft. Während in den Gemeinden unter tausend Einwohnern nur der Bürgermeister Wahlmann sein kann, an den Gemeinden zwischen tausend und neuntausend Einwohnern auch noch die Adjunkte des Bürgermeisters und eine ansteigende Zahl von Gemeinderäten, werden die Gemeinden zwischen 9000 und 30.000 Einwohner mit dem gesamten Gemeinderat im Wahlkollegium vertreten sein. Und in Gemeinden mit mehr als 30.000 Einwohnern gibt es für jedes weitere Tausend einen zusätzlichen Wahlmann. Diese letzteren aber wurden am 7. Dezember ernannt.

Am 21. Dezember wählen dann die Wahlmänner jedes Departementes in der Departementshauptstadt, und die Resultate werden von dort nach Paris berichtet, wo die große Addition gemacht wird.

Was nun die neue Kammer betrifft, so kann man ihre Bedeutung ungefähr daran messen, daß ihre erste ordentliche Sitzung auf den — 28. April festgelegt ist. Sie wird sich zwar schon am 9. Dezember unter dem Präsidium ihres Alterspräsidenten, des Kanonikus Kir aus Dijon, zusammenfinden, um ihren neuen Präsidenten zu wählen. (Der bisherige und langjährige Präsident, der recht ehrgeizige und etwas schulmeisterliche Sozialist Le Troquer, ist ja bei den Kammerwahlen durchgefallen.) Und an den beiden folgenden Tagen wird sie ihr Büro (Vizepräsidenten, Sekretäre, Qüästo-ren) bestellen. Nachher aber gehen die neuen Deputes gleich wieder auseinander, die Teilnahme an der Wahl des Präsidenten der Republik am 21. Dezember wird nur kurz ihre fünfmonatigen „politischen Ferien“ unterbrechen. Zwar kann de Gaulle jederzeit die Kammer zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. Für die Bildung der neuen Regierung ist das sogar in der Verfassung vorgesehen (und zwar spätestens bis zum 15. Jänner). Aber der Ministerpräsident wird ja nun vom Präsidenten der Republik ernannt; er braucht nicht mehr die Kammer um ihre Investitur zu ersuchen. Sie wird also, mit dem Senat zum „Parlament“ vereint, von dieser Ernennung Kenntnis nehmen und bei dieser Gelegenheit über ihr neues Reglement statuieren, das bis dahin eine Kommission von Abgeordneten auszuarbeiten hat. Außerdem wird eine unverbindliche Debatte über die allgemeine Politik, stattfinden. Sonst aber wird die Kammer bis zum 28. April arbeitslos sein. Und dann — doch davon werden wir an anderer Stelle sprechen.

Die endgültige Abgeordnetenzahl der Kammer steht noch nicht fest. Zur Zeit berägt sie

5 84 Köpfe: 465 für Frankreich, 71 für Algerien und die Sahara, 10 für die anderen überseeischen Departements (Martinique, Guadeloupe, Guyana, Reunion) sowie 38 für die überseeischen Territorien (Französisch-Westafrika, Französich-Aequatorialafrika, Madagaskar, Komoren, Djibouti, Saint-Pierre-et-Miquelon, Neu-kaledonien und die übrigen pazifischen Besitzungen). Bei diesen letzteren 3 8 Abgeordneten (der juristische Sollbestand seit dem Verlust der indischen Kontore ist eigentlich 42) wird es jedoch nicht bleiben. Wenn die in Aussicht gestellten „organischen Gesetze“ endlich die in der Verfassung offengelassene Organisation der „Communaute“ definiert haben (was bis spätestens 5. Juni zu erfolgen hat), werden diejenigen Territorien, welche sich für den Status einer „autonomen Republik“ innerhalb dieser „Communaute“ entschieden, ihre Vertreter in den Senat entsenden. In der Kammer werden nur diejenigen Territorien bleiben, die sich für den Status eines „französischen Departements“ oder gar den Status quo entschieden haben — und das hat bis zur Niederschrift dieses Berichtes keines von ihnen getan. Kurzum: Welches die absolute Mehrheit der neuen Kammer sein wird, steht heute noch nicht fest. Es wird eine Zahl um 275 herum sein.

Was ist vom Senat zu melden? Auch er tritt am.9. Dezember zusammen, um seinen Präsidenten zu wählen, und auch er nimmt am 21. Dezember an der Wahl des Präsidenten der Republik teil. Und wie für die Kammer setzt auch für ihn erst am 28. April die Tätigkeit wirklich ein. Vorher aber, am 26. April, wird er vollkommen neu gewählt werden — zum mindesten die Senatoren der Departements, denn es ist ja nicht ausgemacht, ob bis dahin die „Communaute“ schon steht und damit deren „autonome“ Gliedstaaten bereits ihre Vertreter in diesen „Föderativ-Senat“ schicken können. (Später wird dann der Senat nur schichtweise erneuert werden.)

So wird es also auch in den ersten Monaten des nächsten Jahres an Wahlkämpfen und Wahlfieber nicht fehlen. Manche bei den Kammerwahlen Durchgefallene scheinen schon nach einer Revanche Ausschau zu halten. Vor allem aber werden die Gemeindewahlen ein empfindliches Barometer für die Volksstimmung sein. De Gaulle hat bis dahin drei Monate Zeit, um die Aufgaben anzupacken, deren Lösung das französische Volk von ihm erwartet. Gelingt ihm das, so werden auch die Gemeinderäte gaullistisch sein.

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