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Spanien - fast ein Wunder

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Bei den mediterranen Nachbarn Spaniens ging nach Francos Tod eine halb in selbstkritischem Scherz, halb in bewunderndem Ernst gemeinte Prophezeiung um: Das Spanien nach Franco würde in drei Jahren den Ubergang von der Diktatur zur Demokratie vollziehen, für den Italien nach Mussolini 30 Jahre gebraucht habe. „II Giornale“ schrieb schon vor einem Jahr, Spanien sei bereits in sein postitalienisches Stadium eingetreten.

Das mag allzusehr vereinfacht sein. Es ist aber nicht zu leugnen, daß Spanien in kurzer Frist, wenn auch mit vielen Risken und offen gebliebenen Problemen, und noch dazu auf unblutige Weise auf seinem Weg in einen modernen demokratischen Rechts- und Sozialstaat erstaunlich weit vorangekommen ist. Darum wird es von seinen westlichen und östlichen Nachbarn nicht zu Unrecht beneidet. Aber auch die Spanier selbst sehen sich vor ein kleines Wunder gestellt.

Julian Marias, der sich als Schüler und Freund Ortega y Gassets bezeichnet, schrieb vor den Wahlen vom 1. März im „YA“:

„Die politische Situation Spaniens enthält ein Element, das außerordentlich kostbar scheint: nach einer schweren Krise, einem tiefgreifenden Wechsel, der Liquidation eines Systems, welches 40 Jahre hindurch jede eigenständige politische Regung ausgeschlossen hat, in denen die Spanier nie wählen durften, sondern einfach passiv regiert wurden - ist heute niemand ausgeschlossen: weder die Sieger von damals, noch jene, die außerhalb des politischen Lebens standen oder ins Ausland mußten. Sie alle haben sich inzwischen mit der Fülle ihrer Rechte reintegriert, sind nun Kandidaten, Gewählte... In Spanien herrscht politische Freiheit ohne Unaufrichtigkeit, ohne Geheimnistuerei, ohne Notlügen. Veränderung und Evolution sind ebenso möglich wie starrsinniges Verharren oder Übertritte. Das einzige, was wir nicht brauchen, sind Renegaten.“

Wenn wir noch hinzufügen, daß bei allen Schritten des politischen Reformwerks seit 1976 das eine Hauptziel im Auge behalten wurde, die soziologische Struktur zu überwinden, die zum furchtbaren Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 geführt hatte; wenn wir als „gelernte Österreicher“ sehen, daß auch die Spanier ihre Lehre aus der Vergangenheit gezogen und daß die maßgebenden in Kongreß und Senat vertretenen politischen Richtungen in den grundlegenden rechts-und sozialstaatlichen Fragen zum Konsens gefunden haben, dann kann man als Außenseiter nicht anders als von einem Wunder sprechen.

In seiner Straßburger Rede am 29. Jänner konnte Ministerpräsident Adolfo Suarez mit gutem Gewissen sagen: „Die enorme Veränderung, die Spanien vollzogen hat, war möglich dank der Mittlerrolle der Krone, der Reife des spanischen Volkes und der Verantwortlichkeit der Parteien.“

Bemerkenswert ist schließlich die Strategie, die von der Regierung Suarez verfolgt wurde. In kürzestmögli-chen Abständen, die jeweils der Konsolidierung des Erreichten unter einem möglichst weitreichenden demokratischen Konsens dienten, vollzog sich die „trancicion“ in fünf Etappen:

• Ein Jahr nach Francos Tod, am 15. Dezember 1976, fand die erste Volksabstimmung über das noch von den alten Cortes beschlossene Gesetz für die grundlegende Reform des Staates statt. Bei 22 Prozent Wahlenthaltung gab es von den über 22 Millionen Stimmberechtigten 16,5 Millionen Ja-Stimmen, das sind 94 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wiederherstellung der Monarchie unter dem besonnen-bescheidenen.'im Rahmen seiner Zuständigkeiten aber entschlossen und klugen König Juan Carlos erwies sich als ein einigender und stabilisierender Faktor des neuen Spanien.

• Schon ein halbes Jahr später, am 15. Juni 1977, fanden die ersten freien Wahlen seit 1934 statt. Die Spanier bewiesen erstaunliche demokratische Reife: Obwohl sich eine große Anzahl von politischen Parteien der Wahl stellten, was bei der von Natur aus individualistischen und autono-mistischen Veranlagung der Spanier nicht verwunderlich ist, entfielen fast 70 Prozent der Stimmen auf die beiden fast gleich starken politischen Gruppen des Zentrums und der Sozialisten.

Nun mußte die neue Regierung Suarez für zwei fundamentale Ziele den Konsens auf möglichst breiter Basis suchen:

• Um die wirtschaftlich-sozialen Krisenherde unter Kontrolle zu bekommen, steigende Arbeitslosigkeit und Inflation, schwindendes Wachstum und sinkende Produktivität der Wirtschaft zu bekämpfen und den .Arbeitsfrieden einigermaßen aufrecht zu erhalten, schlug die Regierung den Sozialpartnern und politischen Parteien ein umfassendes Sozial- und Arbeitsübereinkommen, den sogenannten Pakt von Moncloa (Regierungssitz), vor. Zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Parteien und Regierung wurde eine - wenn auch wackelige - Ubereinstimmung erzielt. Aber die Regierung Suarez hat sich dadurch freie

Hand geschaffen und sich die von den Kommunisten immer wieder verlangte Konzentrationsregierung vom Halse gehalten.

• Ein weiterer Konsens auf breitester Basis mußte dann für eine neue demokratische Verfassung gefunden werden. Auch dieser gelang, wenngleich unter vielen Konzessionen und Gewissensopfern auf allen Seiten. Die Kirche protestierte am heftigsten, denn in der Verfassung kommt der Name „Gott“ nicht mehr vor, während die vorangegangene noch ausdrücklich als „katholische“ Verfassung bezeichnet gewesen war.

Aber auch dieser Kompromiß war notwendig, um nach den „oktroyierten“ Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts endlich einmal eine zwischen allen maßgebenden politischen Lagern in den wesentlichen Grundsätzen paktierte Verfassung auf demokratischer Grundlage herbeizuführen, das Tor zur Versöhnung zwischen der Linken und Rechten aufzustoßen, die Kluft zwischen dem katholischen und dem antiklerikalen Spanien zu schließen und so das spanische Volk unter das gemeinsame Dach eines „sozialen und demokratischen“ Staates auf der Grundlage der Prinzipien „Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus“ zu führen.

Die Volksabstimmung am 6. Dezember 1978 über die neue Verfassung ergab bei rund 30 Prozent Stimmenthaltung über 80 Prozent Ja-und 15 Prozent Nein-Stimmen; der Rest waren. weiße oder ungültige Stimmzettel. Anfang April werden in ganz Spanien die ersten freien Gemeindewahlen stattfinden.

Nun konnten die ersten verfassungsmäßigen Parlamentswahlen für den 1. März dieses Jahres ausgeschrieben werden. Für einen sozusagen doppelten Zaungast - ausländischer Tourist und von der kanarischen Randlage aus - ließen sich da einige interessante Beobachtungen und Vergleiche anstellen.

Der Wahlkampf war auf drei Wochen beschränkt und fiel zeitlich mit dem seit Francos Tod wieder erlaubten und daher auch um so bunteren Karneval zusammen. Trotzdem wurde der Wahlkampf sehr intensiv, sachlich, aufwendig und für ein südliches Land erstaunlich diszipliniert geführt.

Zum Unterschied von den ersten Wahlen (15. Juni 1977) gab es nicht mehr so riesige Massenversammlungen von 20.000 bis 40.000 Teilnehmern, nicht mehr so große Feste mit 30.000 bis 100.000 Besuchern. Vielleicht hat auch das ungewohnt kalte und niederschlagsreiche Winterwetter dazu beigetragen, daß diesmal „der Krieg im Saale stattfand“. Waren 1977 noch zahlreiche ausländische Politiker als Wahlhelfer ihrer jeweüi-gen spanischen Schwesterparteien herbeigeeilt, so waren diese heuer wohl zum beiderseitigen Vorteil ausgeblieben.

Ich erinnere mich noch an ein TV-Bild vom Juni 1977 mit einem verlegen dreinblickenden Aldo Moro auf einer Veranstaltung der inzwischen christlich-demokratischen Splitterparteien. Auch Zwischenfälle gab es weniger, der Ton der Redner und Zwischenrufer war zivilisierter.

Die siegreiche UCD von Suarez zeigte sich weder vom Sieg berauscht noch sonderlich überrascht. Er will nun eine „Politik für 36 Millionen Spanier“ machen und die anstehenden Probleme “tatkräftig anpacken: Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Autonomie für etliche Regionen und in der Außenpolitik Beschleunigung des Kurses auf Europa.

Der Autor verbrachte drei Monate auf den Kanarischen Inseln (Spanien), ehe er kürzlich wieder in sein Haus nach Ligurien (Italien) zurückkehrte.

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