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Die Demaskierung der Scheinlegalität

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Sechs Todesurteile in Burgos, zwei in Leningrad. Auf beiden Seiten die offene Willkür Justiz eines Regimes, das in der härtesten Abschreckung dieUlfima ratio seiner Innenpolitik sieht und die Akklamation der Opportunisten. Die organisierten Demonstrationen. Das Comeback der harten Männer. Das wüste Geschimpfe auf die ausländischen Stimmen, die sich in das Schalten und Walten souveräner Tyrannen ein- mischen. Man konnte meinen, die mächtige Sowjetunion und das daneben als Machtfaktor vergleichsweise bescheidene, aber als Indikator interessante Spanien hätten sich hinter den Kulissen auf eine neue Über-Ideologie jenseits aller Ideologien geeinigt, deren Kern da lautet: Jeder Tyrann ein unumschränkter Herr in seinem Bereich. Was für Breschnjew gilt, gilt auch für Franco. Es wird, wieder einmal; kälter auf der ganzen Welt, und selbst in den sogenannten klassischen Demokratien wird mehr und mehr dafür gesorgt, daß die demokratischen Bäume nicht allzu hoch in den Himmel der Freiheit wachsen.

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Sechs Todesurteile in Burgos, zwei in Leningrad. Auf beiden Seiten die offene Willkür Justiz eines Regimes, das in der härtesten Abschreckung dieUlfima ratio seiner Innenpolitik sieht und die Akklamation der Opportunisten. Die organisierten Demonstrationen. Das Comeback der harten Männer. Das wüste Geschimpfe auf die ausländischen Stimmen, die sich in das Schalten und Walten souveräner Tyrannen ein- mischen. Man konnte meinen, die mächtige Sowjetunion und das daneben als Machtfaktor vergleichsweise bescheidene, aber als Indikator interessante Spanien hätten sich hinter den Kulissen auf eine neue Über-Ideologie jenseits aller Ideologien geeinigt, deren Kern da lautet: Jeder Tyrann ein unumschränkter Herr in seinem Bereich. Was für Breschnjew gilt, gilt auch für Franco. Es wird, wieder einmal; kälter auf der ganzen Welt, und selbst in den sogenannten klassischen Demokratien wird mehr und mehr dafür gesorgt, daß die demokratischen Bäume nicht allzu hoch in den Himmel der Freiheit wachsen.

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In Burgos waren es 50.000, in Madrid eine halbe Million, in Caceres 60.000 Patrioten, die sich gegen die vereinte Verleugnungskampagne des Auslands und gegen seinen feindlichen Angriff auf Spaniens Frieden und Gerechtigkeit zur Wehr setzten und um Franco scharten. Das ist die offizielle spanische Lesart über die — selbstverständlich in Wirklichkeit viel weniger starken — Massenmanifestationen, die Spaniens Rechtsradikale organisierten und die sich praktisch auf alle Provinzstädte erstrecken. Das Bild, das diese Demonstrationen bieten — und an denen wohl- nur das Erscheinen Francos in Madrid spontan war — erinnert an ein Spanien, das man längst vergessen und überwunden glaubte, an das Spanien vor dreißig Jahren.

Auch die Flugzettelaktionen, mit denen rechtsradikale Gruppen, wie die als Schläger bekannten „Christkönigskrieger“, die Städte überschwemmten, die Zeitungen — mit wenigen Ausnahmen —, Funk und staatliches Fernsehen, befleißigen sich einer Sprache, die längst archiviert schien: Das Ausland wird beschimpft, der bösartigen Einmischung in innerspanische Angelegenheiten bezichtigt und Spanien als ein unschuldiges Opfer internationaler, kommunistischer Verschwörung dargestellt.

Warum dieser Ausbruch, wobei die Demonstrationen von der Mittelschicht und den siegreichen Bürgerkriegsteilnehmern getragen werden? Ist er die Zomreaktion auf die Manifestationen, Proteste und Streiks vor und während des Kriegsgerichtsprozesses in Burgos in einer in den letzten zwanzig Jahren unbekannten Heftigkeit und Breite? Proteste, Manifestationen undtįįeiks, die Zehntausende von AroMtrn, Studenten und Intellektuellen Jlrfaßten? Unzählige Festnahmen, Hungerstreiks fast sämtlicher politischer Gefangenen Spaniens, Sit-in in Klöstern wie dem von Montserrat, in dem sich die Blüte der katalanischen Intellektuellen eingeschlossen hatte, mehrere Verletzte, ein Todesopfer.

Die Solidaritätsmanifestationen mit den Angeklagten von Burgos und gegen das Regime wurden in den letzten Tagen, vor der Verhängung des kleinen Ausnahmezustandes, durch den die Polizei, freie Hand bei Verhaftungen bekommt, von der Polizei fast passiv registriert. Die rechtsradikalen Gegenmanifestationen ‘begannen erst nach der Ausrufung des Polizeiregiments.

Zumindest im ersten Teil des Prozesses wurde jeder Zeitungsleser von fast allen Zeitungen objektiv und wahrheitsgemäß von den Vorgängen in Burgos informiert. So erfuhr die Öffentlichkeit, daß der gesamten ETA, der baskischen Jugendorganisation, und dem baskischen Nationalismus der Prozeß gemacht wurde, daß sämtliche Vergehen und- Verbrechen, die sich in den letzten vier Jahren im Baskenland zugetragen hatten, auf das Konto der Angeklagten geschrieben wurden, daß weder Angeklagte noch Verteidiger eine dem Gesetz entsprechende Rede- und Aussagefreiheit hatten, daß fast sämtliche Angeklagte — unter denen sich drei Frauen und zwei Geistliche befinden — von der Polizei schwer gefoltert worden waren und ihre

Aussagen unter Druck unterzeichnet hatten und daß dem Hauptangeklagten, Francisco Javier Izco de la Iglesia, dem die Ermordung des Sicherheitspolizeichefs der Baskenprovinz Guipuzcoa zur Last gelegt wird, andauernd der Mund verboten wurde, so daß er am Ende seiner „Aussage“ auf Befragen seines Verteidigers nur hinausschreien konnte: „Nein, ich habe den Herrn Mazanas nicht ermordet!“ Dieser Prozeß hatte mit Recht und Juristerei nichts gemeinsam.

Was steckt also hinter diesem neuen oder besser gesagt alten Gesicht, das Spanien plötzlich zeigt? Was ist plötzlich mit der „Europäisierung“ und „Öffnung“ des Regimes geschehen? Kraß ausgedrückt: Die Demaskierung, das Wegreißen der demokratischen Fassade und der Sieg der erzkonservativen, rechtsradikalen Kräfte, die seit langem im Widerstreit mit dem liberalisierenden Flügel des Regimes stehen.

Dies sind erstens die Polizei und ein Teil des Militärs, die durch ihre Passivität bei den letzten Unruhen beweisen wollten, daß der Artikel 18 des spanischen Grundgesetzes, der vorsieht, daß ein Festgenommener nach 72 Stunden entlassen oder Anklage gegen ihn erhoben werden muß, ihrer Arbeit hinderlich ist.

Durch den kleinen Ausnahmezustand haben sie nun freie Hand bekommen^ Zweitens sind es die harten Männer des Regimes, angeführt vom „eisernen Kanzler“, Regierungsvizepräsident Admiral Carrero Bianco, der bekanntlich gegen jegliche Öffnung des Regimes ist, da er darin eine Aufweichung und Gefährdung des Systems nach Franco sieht. Er strebt — so wird behauptet — für die Zeit nach Franco ein Militärregime unter seiner oder der Leitung gleichgesinnter Generäle an, aber keinesfalls ein Regime der Technokraten, das nur den Fortschritt auf sein Banner gesetzt habe, ohne ihn im programmierten Maß zu erreichen, aber den mühsam in dreißig Jahren entpolitisierten Spaniern eine Ideologie zu geben nicht berufen sei. Und ein weiches Regime ohne Ideologie, das außerdem mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, will keinem General oder Admiral behagen.

Aber die hellhörige Öffentlichkeit registriert auch in Spanien (und im ganzen übrigen Europa) den Gleichklang mit den. Ereignissen in Leningrad. Und gerade das macht die Proteste der Linken — gegen Franco allein — auch so unglaubwürdig.

Auch in Leningrad geht es gegen eine Minderheit: die Biasken der Sowjetunion sind die Juden. Und auch in Leningrad hat das Verfahren Gesetzmäßigkeit vermissen lassen. Und da wie dort sind die Urteile den Straftaten unangemessen. Ja, in der Sowjetunion wurden Todesurteile für nur geplante, versuchte Verbrechen verhängt, bei denen niemand zu Tode kam oder verletzt wurde.

Die Scheinlegalität ist demaskiert: In Burgos und Leningrad. Und was den Protest gegen Franco für Europas Demokraten zur Pflicht macht, zwingt sie zur Aktion auch gegen die Brutalität im Osten.

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