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Kinderrechte: ...mit Füßen getreten“

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Über das Recht des Kindes auf Schutz vor Grausamkeit - und wie es weltweit missachtet wird. Fälle der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International.

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Über das Recht des Kindes auf Schutz vor Grausamkeit - und wie es weltweit missachtet wird. Fälle der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International.

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Am 12. Oktober 1977 berichteten die meisten österreichischen Tageszeitungen von der Freilassung einer Österreicherin aus einem argentinischen Gefängnis. Ein paar Daten ihres Leidensweges: Sie wurde verhaftet und obwohl die Polizei wußte, daß sie schwanger war, gefoltert, dann inhaftiert. Mehrere Monate lang mußte sie in einem Gefängnis zubringen -ohne Anklage. Und im Gefängnis mußte sie auch ihr Kind zur Welt bringen. Ein Kind als Opfer politischer Verfolgung - heute leider kein Einzelfall mehr. Denn auch den Wehrlosesten der Gesellschaft werden überall auf dem Globus die Menschenrechte versagt, vor allem auch das Recht des Kindes auf Schutz vor Grausamkeit.

In diesem Fall konnte die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International helfen. In anderen Fällen ist es so gut wie unmöglich:

Simon etwa wurde in Argentinien geboren. Er war zwanzig Tage alt, als er im Juli 1976 zusammen mit seiner Mutter in Buenos Aires festgenommen wurde. Heute weiß man, daß seine Mutter auf illegale Weise in ein Gefängnis ins benachbarte Uruguay gebracht wurde. Von Simon selbst fehlt jede Spur. Er ist „verschwunden“. Einer von etwa 15.000 „Verschwundenen“ in Argentinien.

Als im Jänner dieses Jahres Kinder im Alter von acht bis 16 Jahren im Zentralafrikanischen Kaiserreich gegen die Bestimmung, sie müßten sich staatliche Uniformen anschaffen und tragen, protestierten, wurde gegen sie mit brutaler Härte vorgegangen. Zu Beginn der Demonstrationen gegen den selbsternannten Kaiser Bokassa richtete sich der Zorn vor allem gegen die Finanzpolitik der Regierung, die Stipendien an die Studenten und vielen Staatsbeamten mehrere Monatsgehälter nicht ausbezahlt hatte.

Am 18. April wurden schließlich mehr als hundert Kinder in das Zentralgefängnis der Hauptstadt gebracht. Mehr als zwanzig der Kinder überlebten die erste Nacht in den Zellen nicht. Sie erstickten, da man in die kleinen Räume bis zu zwanzig Kinder hineingepfercht hatte. In den darauffolgenden Tagen wurden Kinder von Mitgliedern der Kaiserlichen Garde mit Bajonetten erstochen, mit Stöcken oder Peitschen zu Tode geprügelt. Ein Überlebender berichtete, daß ein Junge mit seinem eigenen Taschenmesser umgebracht wurde.

Amnesty International publizierte wenige Tage nach den grausamen Ereignissen die Ermordung der etwa 100 Kinder und Jugendlichen. Am 22. Mai schließlich gab der Botschafter des Zentralafrikanischen Kaiserreiches in Frankreich, Bangui, eine Pressekonferenz, wo er die Anschuldigungen von Amnesty International bestätigte. Der Rücktritt des Botschafters und die Veröffentlichung von Augenzeugenberichten markierten den Anfang vom Ende des selbsternannten Kaisers Jean Bedel Bokassa.

28 Jahre alt, davon 14 Jahre in Haft

Aber nicht nur in Argentinien oder im Zentralafrikanischen Kaiserreich macht die Gewalt vor Kindern nicht halt. Auf der anderen Seite des Globus, in Indonesien, wurde die 14jährige Schülerin Sumilah während des Putschversuches im Oktober 1965 verhaftet. Keine der Informationen, die Amnesty International überprüft hat, läßt den Schluß zu, daß das junge Mädchen in den Putsch verwickelt oder in die darauffolgenden Gewalttätigkeiten involviert war. Das Mädchen wurde von einem Gefangenenlager ins andere gebracht, jedoch nie unter Anklage gestellt. Nach 14 Jahren Haft wurde Sumilah als 28jährige im April dieses Jahres freigelassen.

Auch in Südafrika wurden in den vergangenen Jahren Kinder nach dem Terrorismusgesetz und anderen Sicherheitsverordnungen ohne Prozeß inhaftiert. Sie werden offenbar nicht anders behandelt als die Erwachsenen, die auf Grund der gleichen Gesetze im Gefängnis sind. Sie werden von der Sicherheitspolizei verhört und oft auf brutale Art mißhandelt.

Sehr oft wird ein Kind durch Einzelhaft völlig von der Außenwelt isoliert. Schon 1978 bestätigte der Justizminister des Landes auf Anfrage im Parlament, daß sechs Kinder - eins im Alter von 14 und fünf im Alter von 15 Jahren - auf der Gefangeneninsel Robben Island vor Kapstadt inhaftiert seien - einem Gefängnis höchster Sicherheitsstufe für schwarze Häftlinge. Kinder können aber auf vielfältige Art von ihren Eltern getrennt werden - nicht nur durch Inhaftierung auf einer Gefangeneninsel. Die häufigste Trennungsursache ist jedoch die Verhaftung oder Entführung der Eltern oder eines Elternteils. Oft führt das zu einer wirtschaftlichen Katastrophe für den verbleibenden Ehepartner und die Kinder.

Noch schmerzvoller ist allerdings die seelische Belastung, die durch das Auseinanderreißen der Familie - oft für die Dauer von fünf, zehn, ja sogar fünfzehn Jahren - entsteht. Die Gefangenschaft eines Elternteils oder beider Elternteile kann sich über die ganzen Entwicklungsjahre des Kindes erstrecken; häufig sind die ersten Lebensjahre eines Kindes von der unaufhörlichen Suche nach den Eltern gekennzeichnet. Wie oft berichten Augenzeugen oder erleben Amnesty-Beobachter selbst ergreifende Szenen, wenn Kinder wieder ihren Vater, ihre Mutter nach langen Jahren treffen, beide Teile aber einander nicht mehr wiedererkennen.

Gewalt gegen religiöse Gemeinschaften

In der Sowjetunion müssen Eltern und Kinder, die religiösen Gemeinschaften angehören, mit Repressionen der Behörden rechnen. Häufig wird versucht, den Eltern die Erziehungsgewalt zu entziehen. Das Dekret „über religiöse Vereinigungen“ gestattet nur denjenigen Kongregationen religiöse Aktivitäten, die offiziell registriert sind. Viele Gemeinschaften lehnen es jedoch ab, sich nach den Bedingungen des Dekrets registrieren zu lassen, oder aber die Regierung wies den Antrag der Glaubensgemeinschaft ab.

Übrigens: eine Bedingung des Dekrets lautet, daß es verboten ist, „besondere Versammlungen von Kindern, Jugendlichen oder Frauen zu Gebets- oder anderen Zwecken zu veranstalten“. Über unzählige Fälle von Baptisten, über Angehörige der Pfingstgemeinde und der Adventisten, denen einzelne oder alle Kinder vom Staat weggenommen wurden, liegen Amnesty International umfassende Berichte vor.

In einigen Fällen, so wird berichtet, haben sich die Kinder versteckt gehalten, um von den Behördenvertretem nicht weggebracht zu werden. Auch aus der DDR sind Fälle bekannt, wo Kinder jener Eltern, die einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hatten, nach der Verhaftung ihres Vaters und ihrer Mutter von den Eltern getrennt und in ein Erziehungsheim eingewiesen würden.

Aber auch Mißhandlungen von Kindern in Nordirland wurden von Amnesty International aufgedeckt. Im Sommer 1977 drangen britische Soldaten in eine Wohnung ein, in der sich zu diesem Zeitpunkt nur ein 13jähriges Mädchen aufhielt. Die Soldaten drückten ihr den Lauf einer automatischen Waffe gegen den Kopf und vergewaltigten das Mädchen. Seither leidet das Kind an Gedächtnisstörungen und infolge des Schocks unter Schlaflosigkeit.

Britische Soldaten waren es auch, die den 13jährigen Brian McGabe mit Fäusten schlugen und Füßen traten, bevor sie ihn zu einer „Befragung“ mitnahmen. Brian gab später an, mit Fäusten geschlagen und mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen worden zu sein.

Gleichgültig ob in Lateinamerika, in Staaten des Ostblocks, in Ländern Asiens, Afrikas oder auch des Westens, die Menschenrechte werden sogar den Wehrlosesten, den Schutzbedürftigsten vorenthalten - den Kindern. 20 Jahre, nachdem die Rechte des Kindes von der Vollversammlung der UNO einstimmig angenommen wurden, wird ein elementares Recht verletzt: das Recht auf Schutz vor Grausamkeit.

Ein Recht des Kindes wird mit Füßen getreten. Und es erfüllt einen mit Zorn und Trauer, zu wissen, daß dies selbst im Jahr des Kindes geschieht.

Der Autor ist Journalist und Pressechef von Amnesty International/Österreich.

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