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111 Staaten schuldig

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„Amnesty International“ gibt jedes Jahr einen Bericht heraus und verbindet damit eine Schilderung der Situation der Menschenrechte auf der ganzen Welt. Vor kurzem ist der Bericht für die Periode vom 1. Juli 1977 bis 1. Juli 1978 vorgelegt worden.

Seit einem Jahr zuvor wuchs die Organisation Amnesty International um 32.000 Personen; sie hat heute mehr als 200.000 Mitglieder. Am 1. Juli 1978 waren 4726 Gewissensgefangene adoptiert oder standen vor der Adoption. 1800 Gewissensgefangene waren in diesem Jahr freigelassen worden.

Amnesty International registrierte in diesem Jahr schwere Menschenrechtsverletzungen (Verhaftung und Verurteilung wegen politischer Gesinnung, religiösen Bekenntnisses, Zugehörigkeit zu einer Rasse, unmenschlicher Haftbedingungen, Folter) in nicht weniger als 111 Staaten der Welt; mehr als zwei Drittel der Länder, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind!

Für Äthiopien stellt der Bericht fest: pauschale Tötung aller vermuteten „Gegenrevolutionäre“ ohne rechtlichen Prozeß, Massenverhaftung von Personen, die „gegenrevolutionärer“ Sympathien verdächtigt werden, die systematische Anwendung von Folter gegen fast alle Inhaftierten. Während des Höhepunkts der Liquidierung der Opposition wurden nach Berichten bis zu 100 Personen allein in Addis Abeba jede Nach liquidiert.

Der Bericht registriert die Anwendung von Folter auch für Südafrika: „Die Anwendung von Folter durch die Sicherheitspolizei beim Verhör politischer Häftlinge ist Routine geworden und hat offenbar die stillschweigende Zustimmung der Regierung.“ Viele politische Häftlinge starben so wie Steve Biko in der Haft. Die Zahl der politischen Häftlinge hat sich bedeutend erhöht. Viele von ihnen werden ohne Verständigung der Angehörigen in Haft gehalten, oft in Einzelhaft, und zwar viele Monate ohne Erhebung einer Anklage.

Auf die oft gehörte Frage, warum Amnesty International in Ländern wie Uganda nicht mehr tut, kann der Bericht leider nur nüchtern feststellen: „Eine Adoption von individuellen Gefangenen ist wegen der Befürchtung von Repressalien nicht möglich gewesen; die Zahl der Gefangenen, die nicht schon in der Gefangenschaft getötet werden, ist klein und Information über sie schwierig.“

In Argentinien wird die Zahl der in den letzten zwei Jahren Verschwundenen (oft liegt der Beweis für die Entführung durch die von der Regierung geduldeten politischen Einheiten vor) auf über 15.000 geschätzt. Viele davon dürften nach der Entführung erschossen oder zu Tode gefoltert worden sein. In Österreich lebt eine Zeugin, die österreichische Staatsbürgerin Veronika Handl-Al-varez, die auch auf diese Art verschwand, als Schwangere gefoltert wurde, ihr Kind in einem verwahrlosten Gefängnis zur Welt brachte und nach einem Jahr ohne die leiseste Anklage freigelassen wurde.

Die Situation in Uruguay und Paraguay hat sich nicht verbessert.

Für Indonesien muß Amnesty International feststellen, daß es trotz der Freilassung von politischen Gefangenen auch weiterhin zu den Ländern gehört, in denen die Menschenrechtsverletzungen zahlerunäßig den größten Umfang haben. Eine vorsichtige Schätzung spricht von wenigstens 55.000 politischen Gefangenen, von denen die meisten ohne Anklage und Prozeß seit 1965 in Haft sind. Die Regierung hat die Freilassung aller politischen Gefangenen bis zum Jahresende 1979 versprochen.

Uber China war Amnesty freilich auf Nachrichten angewiesen, die von dort über die Grenze kamen. Allein die Zahl jener Chinesen, die nach dem Sturz der „Viererbande“ rehabilitiert wurden, geht in die Zehntausende und läßt darauf schließen, daß die Verfolgung unerwünschter politischer Gesinnung eine große Anzahl von Menschen trifft.

Auch die Menschenrechtsverletzungen in Kampuchea (Kambodscha) konnte Amnesty International nur aus Berichten erfahren, die Flüchtlinge mitbrachten. Darin ist davon die Rede, daß die Liquidation von 100.000 Khmers aus politischen Gründen als abolute Mindestzahl betrachtet werden muß und wahrscheinlich viel höher liegt.

Der Völkermord an den Kurden ging zumindest im Irak weiter. In mehreren Gefängnissen werden Kurden festgehalten und gefoltert, auch wenn diese nicht Gewalt angewendet hatten (etwa Frauen und Kinder).

Für die Länder in Osteuropa stellt Amnesty eine Zunahme der psychiatrischen Anstalten fest, in denen Dissidenten untergebracht werden. Den Gefangenen ist es unmöglich, sich zu verteidigen oder irgendwelche sonstigen Schritte zu unternehmen. Sie wissen nicht, wie lange sie festgehalten werden. Sie werden gezwungen, Psychopharmaka zu nehmen.

Für die UdSSR stellt AI zusätzlich fest, daß die verschiedenen Menschenrechtsvereinigungen wie die „Helsinki-Gruppe“ systematisch zerschlagen werden, obwohl diese nur auf die Verpflichtung der Sowjetunion aus dem Helsinki-Vertrag verweisen. In den Zwangsarbeitslagern herrschen nach wie vor chronischer Hunger, Uberbeanspruchung durch schwierige Arbeitsbedingungen, mangelhafte medizinische Betreuung, willkürliche Beschränkung der ohnehin begrenzten Rechte auf Briefverkehr und Familienbesuche.

Obwohl der Weltkongreß der psychiatrischen Vereinigung in Honolulu 1977 den politischen Mißbrauch der Psychiatrie verurteilt hat, hat sich in der Praxis dieser Anstalten nichts geändert.

Wenn sich anläßlich eines solchen Berichtes Mutlosigkeit breitmacht, sollte man freilich auch bedenken: Viele der genannten Staaten machen in einem Zeitraffer die Entwicklung durch, die auch jene Staaten hinter sich haben, die heute Menschenrechte nicht mehr verletzen. Und außerdem ist zu beobachten, daß in vielen der genannten Staaten doch das Bewußtsein von Minderheiten wächst, die den Schutz der Menschenrechte durchzusetzen sich bemühen.

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