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Weiblicher Kurt Gerstein

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Hiltgunt Zassenhaus ist fast ein weiblicher Kurt Gerstein. Gerstein meldete sich bekanntlich freiwillig zur Waffen-SS, um die Welt von den Vorgängen in Auschwitz zu unterrichten. Hiltgunt Zassenhaus überlebte, dafür hat auch kein Hoch-huth ein Stück über sie geschrieben. Ihr Überleben war ein Zufall. Ihr Lebensbericht aber ist ein Beweis dafür, was Opferbereitschaft und Mut in einer Diktatur zu vollbringen vermögen.

Frau Zassenhaus entstammt einer Familie, die in ihrer bedingungslosen Ablehnung Hitlers fest zusammenhielt und, ohne eigene Gefährdung zu1 scheuen, Opfern des Systems zu helfen versuchte. Nach einem Ferienaufenthalt in Dänemark, bald nach Hitlers Machtübernahme, entschloß sie sich, skandinavische Sprachen zu studieren, was ihr ungewöhnliche berufliche Möglichkeiten eröffnete. 1938 erhielt sie ihr Diplom und zugleich, mangels anderer auf diesem Gebiet ausgebildeter Fachkräfte, die Zulassung als Dolmetscherin am Hamburger Gericht. Später wurde dem jungen Mädchen die Zensur der Hamburger Aus-landsbriefprüfstelle angeboten. Damit begann für sie ein Auftrag, den sie mit außerordentlicher Zivilcourage zu nutzen wußte, aber in völlig anderer Weise, als die NS-Behör-den es von ihr erwarteten.

Bald gingen Briefe von Juden aus polnischen Ghettos durch ihre Hände, und sie fand Wege, den dort Internierten durch Nachrichten und Paketsendungen von Angehörigen zu helfen. 1942 beauftragte sie die Generalstaatsanwaltschaft mit der Überwachung der Post von 850 norwegischen und später auch von dänischen politischen Gefangenen in

250 über Deutschland verstreuten Lagern. Sie verstand es wieder, aus der als Spitzelarbeit gedachten Aufgabe eine Hilfsaktion großen Stils zu machen. Zusammen mit dem norwegischen Seemannspfarrer, der alle vier Monate die Häftlinge als Vertreter ihrer Angehörigen besuchen durfte — Besuche, die das junge Mädchen überwachen sollte —, schleppte sie Lebensmittel, Medikamente und Vitamine in die Zuchthäuser, in schweren Koffern, getarnt als „Luftschutzgepäck“, das sie „nie aus der Hand“ gebe. Aber fast noch wichtiger war für die Gefangenen ihr Zuspruch, mit dem sie deren Lebenswillen stärkte.

Über ihre Tätigkeit in der mecklenburgischen Strafanstalt Dreibergen berichtet sie: „Es gelang mir, Gefangene, die seit Jahren in Einzelhaft waren, in Gemeinschaftszellen zu verlegen, Freunde und Kameraden, Väter und Söhne an ein und demselben Arbeitsplatz unterzubringen. Ich schlug sie für Arbeiten vor, die zumindest entfernt an ihr Leben außerhalb des Zuchthauses erinnern würden. Bald arbeiteten Schriftsteller und Journalisten in der Zuchthausdruckerei, Bauern in der Molkerei, Ärzte und medizinischtechnisches Personal im Lazarett... Häftlinge mit Hungerödemen empfahl ich als besonders geeignet für den Küchendienst.“

Das alles sozusagen unter den Augen der Gestapo, die Hiltgunt Zassenhaus beschattete. Ihre Arbeit hätte sie täglich den Kopf kosten können. Aber sie fand auch Helfer an unerwarteter Stelle, bei Vertretern der Behörden, denen sie unterstand, bei Angestellten der Gefängnisse, so daß ihre abenteuerlichen Aktionen trotz mehrmaliger Verhöre

bei Gestapo und Geheimpolizei lange Zeit unentdeckt blieben.

Auch in den Heimatländern der Gefangenen machte man sich Gedanken über diese Frau, fragte sich, ob hinter ihren unübersehbaren Hilfsmaßnahmen für ihre Schützlinge nicht eine Falle stecken könnte, ob sie nicht doch eine Agentin des NS-Regimes sei. So erschien eines Tages im Zuchthaus Fuhlsbüt-ten ein angeblicher schwedischer Kapitän — in Wahrheit ein Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes —, der, unter Vorgabe eines Gefangenenbesuches, die Aufgabe hatte, hinter das Rätsel Hiltgunt Zassenhaus zu kommen. Die Affäre endete mit völligem Vertrauen in sie, und sie bekam hinfort über deutsche Mittelsmänner aus Schweden noch mehr Sendungen für die skandinavischen Häftlinge.

Diese verborgene Verbindung zum Schwedischen Roten Kreuz sollte zu Kriegsende die Rettung für viele Menschen bedeuten. Zassenhaus erfuhr von Hitlers Geheimbefehl, am Tage X, den er bekanntgeben würde, alle politischen Gefangenen hinzurichten. Sie gab die Nachricht weiter an den norwegischen Pfarrer, der daraufhin alle seine Ver-

bindungen spielen , ließ, und Frau Zassenhaus fand die Möglichkeit, sie dem Schwedischen Roten Kreuz mitzuteilen. Graf Folke Bernadotte und andere einflußreiche Skandinavier wurden in Berlin vorstellig, Himmler gab die skandinavischen Gefangenen frei.

Hiltgunt Zassenhaus studierte in jenen Jahren als Alibi Medizin; Ärzte waren Mangelware. Nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg wurden in ihr Elternhaus zwei nationalsozialistische Frauen eingewiesen. Dort lebte, aber auch illegal ein Jude und ein junges Mädchen, das von einem russischen Kriegsgefangenen schwanger war. Es kam zur Denunziation, die Geheime Staatspolizei erschien im Hause. Im letzten Kriegswinter mußte Hiltgunt Zassenhaus untertauchen. Später wanderte sie nach Amerika aus. In Skandinavien ist sie unvergessen.

EIN BAUM BLÜHT IM NOVEMBER. Bericht aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs von Hiltgunt Zassenhaus. Hoffmann und Campe, Hamburg, 291 Seiten, öS 184.80.

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