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So start Canaris

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Im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 war Admiral Canaris verhaftet worden. Nach längerer Haft kam er in das Konzentrationslager Flossenbürg; über dem Tor dieses Lagers stand unsichtbar geschrieben: „Laßt alle Hoffnung fahren...“

Wie andere Konzentrationslager hatte auch Flossenbürg einen im Gegensatz zu den hölzernen Baracken aus Ziegelsteinen massiv aufgemauerten einstöckigen Zellenbau, in der Lagersprache „Bunker“ genannt. In „normalen“ Zeiten — sofern man bei einer Institution dieser Art von normal überhaupt sprechen darf — hatten die rund vierzig Zellen des Bunkers dazu gedient, mit Ordnungsstrafen, wie zum Beispiel Einzelhaft und Kostentzug, belegte Häftlinge unterzubringen. Jetzt waren sie für Sonderhäftlinge, sogenannte „Prominente“, bestimmt. Bis zu hundert solcher vom nationalsozialistischen Regime als besonders gefährlich betrachteten Personen waren zeitweise in den vierzig Zellen untergebracht.

In der Zelle 21 des Bunkers saß Anfang Februar 1945 der Oberstleutnant des königlich dänischen Generalstabes H. M. Lunding. Er war, bis im Jahre 1942 der Generalstab seines Heimatlandes auf Befehl Hitlers aufgelöst wurde, Chef des dänischen militärischen Nachrichtendienstes gewesen. Das war anscheinend für die Nazi genügend Grund, ihn hinter Schloß und Riegel zu setzen. Nach Aufenthalt in einer Reihe von anderen Verliesen war er etwa acht Monate früher in Flossenbürg gelandet. Die Einzelhaft ist für einen geistig regen, an intensive Tätigkeit gewöhnten Menschen eine Tortur, und man versucht in solcher Lage, mit allen erdenklichen Mitteln etwas Abwechslung in die Monotonie des ewig gleichen Tagesablaufes zu bringen.

Schon bald nachdem Lunding die Zelle 21 bezogen hatte, entdeckte er, daß sie einen großen Vorteil bot. Das Holz der Tür zum Korridor war wohl zur Zeit des Baues noch zu grün gewesen. Es hatte sich gezogen, so daß ein Querspalt entstanden war. Durch den konnte man, wenn man das Gesicht dicht an die Tür legte, auf den Korridor und darüber hinaus durch das auf der anderen Seite des Ganges befindliche Fenster auf den Lagerhof sehen und das sich dort abspielende Leben verfolgen. Von dem Augenblicke an, da Lunding diese Beobachtungsmöglichkeit entdeckt hatte, brauchte er sich nicht mehr über Langeweile zu beklagen. Dies um so weniger, als die Tür zur Lagerschreibstube nur etwa sieben oder acht Meter von seiner Zellentür entfernt war und daher der Korridor in diesem Teile des Bunkers den größten Teil des Tages recht belebt zu sein pflegte. Da außerdem das ganze Gebäude ziemlich hellhörig war und das Ohr sich durch die Gewohnheit schärfte, so hörte der Gefangene auf - Nr. 21 auch manches, was kaum für ihn bestimmt war.

Das meiste, was der Spalt in der Tür dem Beobachter zeigte, war allerdings traurig, ja erschütternd, und geeignet, die ohnmächtige Erbitterung gegen diejenigen, die für diese Vergewaltigung und Qual von Tausenden und aber Tausenden verantwortlich waren, immer wieder neu zu nähren. Durch die Lage seiner Zelle und die — unter den gegebenen Umständen mit der inneren Notwendigkeit gleichbedeutende — Möglichkeit der Beobachtung wurde Lunding in den zehn Monaten, die er in Flossenbürg verbrachte, Zeuge von zwischen 700 bis 900 Hinrichtungen. Denn der Weg von der Schreibstube, wo man den zur Hinrichtung Bestimmten die letzte fahrende Habe abnahm, zur Richtstätte führte an dem Fenster vorüber, das Lundings Späherposten gerade gegenüberlag. Nur etwa zwanzig Meter entfernt erhob sich auf dem Lagerhof ein Halbdach, in dessen Wand sechs Ringe eingelassen waren, durch welche die Stricke liefen, mit denen man die zum Tode bestimmten Häftlinge erhängte, und daneben ein Kugelfang, aus einer etwa einen Quadratmeter großen Bleiplatte bestehend, vor der diejenigen niederknien mußten, die durch den von der GPU übernommenen „Genickschuß“ „liquidiert“ werden sollten. Bei seinen täglichen halbstündigen Spaziergängen auf dem Lagerhof hatte Lunding Gelegenheit, diesen Hinrichtungsort zu sehen, und die notwendigen Aufklärungen dazu lieferte der für Zelle 21 zuständige SS-Rottenführer, mit dem der dänische Offizier durch kleine Bestechungsgeschenke von dem, was von seinen Liebesgabenpaketen nach der üblichen Plünderung in der Schreibstube übriggeblieben war, allmählich auf den Gesprächsfuß gekommen war. So moralisch tiefstehend dieser Wärter auch war, so gebot doch der Selbsterhaltungstrieb, ein einigermaßen freundschaftliches Verhältnis zu ihm herzustellen. Immerhin war er auch nicht ganz so bösartig wie seine Vorgesetzten, die beiden Scharführer Wolf und Weihe, die keine Möglichkeit vorübergehen ließen, um die ihrer Gewalt hilflos ausgelieferten Insassen des Bunkers zu quälen.

Im ersten Februardrittel traf ein neuer Transport von „Prominenten“ in Flossenbürg ein. Der Wärter verriet Lunding, daß er einen interessanten Zellennachbar bekommen habe. Allerdings sprach er von dem Neuankömmling in Zelle 22 mit den Ausdrücken tiefsten Abscheus. Es sei einer der schlimmsten Verräter an Führer und Vaterland, nämlich der Admiral Canaris. Bei der Nennung dieses Namens horchte Lunding auf. Als ehemaliger Chef des dänischen geheimen Nachrichtendienstes wußte er natürlich ziemlich genau über den ehemaligen deutschen Abwehrchef Bescheid. Er hatte auch Canaris einst mehrmals in der Halle und im Restaurant des Kopenhagener Hotels DAngleterre gesehen und hatte daher keine Schwierigkeit, seinen neuen Nachbarn, als er ihn in den folgenden

Tagen auf dem Hof und dem Korridor sah, zu identifizieren. Der Kopf mit den weißen Haaren und die großen, blauen Augen, die auch in den Monaten der Haft nichts von ihrer Leuchtkraft eingebüßt hatten, waren unverkennbar, wenn auch das Gesicht nicht mehr die alte rosige Farbe zeigte, sondern von jener nicht kreidigen, aber fahlen Blässe war, die ein längerer Gefängnisaufenthalt nun einmal mit sich bringt.

Lunding versuchte bald, mit Canaris einen Gedankenaustausch mittels Klopfens an der Wand herbeizuführen. Die ersten Versuche waren nicht von Erfolg gekrönt; Canaris besaß nicht mehr die nötige Vertrautheit mit dem Morsealphabet, dessen sich Lunding mangels anderer Verständigungsmittel bediente. Erst Tage später bot ein glücklicher Zufall die Möglichkeit einer Verständigung über eine andere Chiffre für das Klopfen. Die beiden begegneten sich auf dem Flur vor der Schreibstube, als Lunding von seinem Spaziergang auf dem Hof zurückkehrte, während Canaris auf die Vorführung zu einer Vernehmung wartete. In aller Kürze wurde verabredet, sich des in Gefängnissen üblichen Klopfsystems zu bedienen, welches das Alphabet in fünf Buchstabengruppen zu je fünf einteilt.

Noch am gleichen Abend begann die Unterhaltung durch die Wand, die in den folgenden Wochen nicht abreißen sollte.

Aus diesen meist nächtlich geführten „Unterhaltungen“ durch die Wand gewann Lunding den Eindruck, daß Canaris mindestens in den ersten Wochen seiner Haft in Flossenbürg die Hoffnung, sich der Schlinge, in der die Gestapo ihn gefangen hatte, doch noch zu entziehen, nicht aufgegeben hatte. Wiederholt betonte er, daß die Gestapo keine schlüssigen Beweise gegen ihn in Händen halte. Natürlich war Canaris darüber im Bilde, daß sich die Herrschaft des Nationalsozialismus rasch ihrem Ende näherte. Sosehr die Gestapo auch bemüht war, die Häftlinge über das Geschehen in der Welt im dunkeln zu halten, so war es für Männer von der Erfahrung eines Canaris oder Lunding nicht schwer, schon aus der Haltung ihrer Kerkermeister Schlüsse über die Entwicklung zu ziehen.

So glaubte wohl auch Canaris, die Vernehmungen so lange hinziehen zu können, bis der endgültige Zusammenbruch des Regimes seine Kerkertüre öffnen würde.

Die Verhöre führten nicht zu dem von der Gestapo gewünschten Ergebnis. Es sollte aber nicht mehr lange dauern, bis Canaris „fertiggemacht“ wurde. Allerdings, sein Widerstand wurde bis zuletzt nicht gebrochen, den Gefallen tat er den Henkersknechten der Gestapo und des SD nicht. Sie erfuhren nicht, was der Mitwisser so vieler Verschwörungen und Komr plotte, der mindestens indirekt an fast allen Versuchen, das Vaterland und die Welt von der Tyrannei Hitlers und dem Terror Himmlers zu befreien, Anteil gehabt hatte, in seinem Gehirn verborgen hielt. Er gab nichts davon her, selbst als man von der seelischen Quälerei zu körperlichen Mißhandlungen überging. Davon berichtete er zwei- oder dreimal um den 1. April herum dem dänischen Kameraden.

In der Nacht vom 8. auf den 9. April fand in Flossenbürg die Justizkomödie eines. SS-Standgerichtes gegen Canaris, Oster, Strünck und eine Reihe ihrer Leidensgenossen statt, zu der als Ankläger Huppenkothen aus Berlin gekommen war. Es war in den frühen Morgenstunden des 9. April, als Canaris, von einer mehrstündigen Vernehmung zurückkehrend, seinem Nachbarn durch Klopfen erklärte: „Das, glaube ich, war das Letzte.“ Er fügte hinzu, daß er wieder schwer mißhandelt worden sei und daß man . ihm anscheinend das Nasenbein gebrochen habe. Er nehme an, daß sein Schicksal besiegelt sei und er sterben müsse. „Ich sterbe für mein Vaterland, ich habe ein reines Gewissen. Sie als Offizier werden begreifen, daß ich nur meine vaterländische Pflicht tat, wenn ich versuchte, der verbrecherischen Sinnlosigkeit, mit der Hitler Deutschland ins Verderben führt, entgegenzutreten. Es war vergebens, denn jetzt weiß ich, daß Deutschland untergehen wird, ich habe es schon seit 1942 gewußt. . .“

Canaris gab Lunding eine letzte Botschaft für seine Frau. Es war lange nach 2 Uhr morgens, ehe die Zeichen endeten und Lunding sich zu kurzer Ruhe auf seine Pritsche degte.

Gegen 6 Uhr morgens wurde es lebhaft im Bunker. Noch war es dunkel draußen, aber die elektrischen Lampen hielten den Lagerhof grell beleuchtet. Lunding hörte, wie sein Nachbar aufgerufen und aus der Zelle geführt wurde. Vor der Zelle wurden Canaris die Hand- und Fußfesseln abgenommen. Klirrend fielen sie zu Boden. Dann wurde er in Richtung nach der Schreibstube abgeführt. Mehrere andere Häftlinge wurden ebenfalls dorthin gebracht. Deutlich waren die scheltenden Stimmen der SS-Leute zu hören. Dann scharf das Kommando: „Alles ausziehen!“ Das war das sichere Zeichen, daß die Gefangenen vor der Schreibstube zur Hinrichtung geführt werden sollten, denn die SS tötete ihre Opfer nackt.

„Los!“ Wie ein Peitschenschlag zischt das Kommando. Und wie ein Schatten sieht der Zeuge, der in atemloser Spannung und tiefem Mitgefühl an seinem Spalt in der Tür den unerbittlichen Ablauf des Dramas verfolgt, jenseits des Fensters den nackten Oberkörper und den weißen Haarschopf seines Zellennachbarn im bleichen Zwielicht, in dem der neue Tag mit den Strahlen der elektrischen Hofbeleuchtung kämpft, über den Hof huschen, seinem Golgatha entgegen. Und nun entwickelt sich der grausige Rhythmus der Sammelhinrichtungen, die Lunding schon so oft an dieser Stelle erlebte. Er wartet, ob er keinen Schuß hört. Denn der da eben zur Richtstätte ging, war doch ein hoher Offizier, und Offizieren pflegte selbst die SS meist den Tod durch Erschießen zuzubilligen. Nicht als ob viel Wertunterschied zwischen dem Tod durch den Strang oder durch Genickschuß bestünde, denn das, was man als den soldatischen Tod durch ein Schiitzen-kommando betrachtete, gab es im Dritten Reiche schon lange nicht mehr, das betrachtete man auch wohl als ein Ueberbleibsel aus einem längst überwundenen ritterlichen Zeitalter.

Auf jeden Fall hörte Lunding keinen Schuß, und da der Morgen windstill war — bei Sturm konnte man die Abschüsse der zur Hinrichtung benutzten Kleinkalibergewehre trotz der kaum 20 Meter betragenden Entfernung öfters nicht hören —. so bedeutete das den Strang. Nicht lange konnte Lunding hierüber nachdenken, knapp vier bis fünf Minuten waren verstrichen, als von der Richtstätte der Ruf „Der nächste“ erschallte, worauf ei von der Schreibstubentür ' „Los“ antwortete; und wieder huschte ein nackter Mensch durch den grauen Morgen seinem Schicksal entgegen. Acht- oder neunmal tönte am Morgen des 9. April 1945 das Kommando „Los“ über den Hof vor dem Bunker von Flosienbürg. In einer guten halben Stunde war für diesen Tag das grausige Geschäft vorüber. Lärmend kamen die SS-Leute, die als Henker gedient, über den Hof und zogen sich, wie immer nach Hinrichtungen, auf einige Zeit in die Schreibstube zurück. Was sie drinnen taten, wurde dem Gefangenen nicht bekannt, ob sie die Kleider der Getöteten unter sich verteilten, ob sie sich mit einem Schnaps nach der Exekution stärkten oder ob es sich nur darum handelte, die nötigen bürokratischen Notwendigkeiten su erfüllen, etwa die Meldungen über die Vollstreckung der Todesukase an die höheren Gestapostellen auszufertigen, wir wissen ei nicht, Nach kaum einer halben Stunde war auch dieses Konventikel der Henker beendet. Etwa um die gleiche Zeit, als die SS-Leute wieder aus der Schreibstube kamen, zwischen 7 und 7JO Uhr morgens, sah Lunding, wie Häftlinge aus dem Barackenlager die Leichen der eben Hingerichteten auf Tragbahren davontrugen zur Verbrennung auf einem Holzstoß hinter dem Zellenbau. Wilhelm Canarii war tot. Wir wissen von Mitgefangenen, daß mit ihm Hans Oster, Theodor StrUnck, Gehre und Dr. Sack starben; die Namen der übrigen Opfer dieses Aprilmorgens sind uns nicht bekannt. Tröstlich ist nur eines: Sie, die an diesem Morgen starben, fanden ein rasches Ende, Zu langen Quälereien war zwischen jedem „Los“ und dem darauffolgenden „Der nächste“ keine Zeit gewesen,

Canaris starb, kurz bevor der SD die restliehen „Prominenten“ von Flosienbürg abtransportierte. Diese wurden Mitglieder jenes merkwürdigen Transportes, der schließlich nach mancherlei Aengsten und Fährlichkeiten zunächst durch einen entschlossenen Wehrmachtsoffizier aus den Klauen der SS-Bewachung befreit und dann schließlieh von den amerikanischen Truppen nach Capri gebracht wurde, lieber die Motive, die Himmler bestimmten, diese Männer, Frauen und Kinder, unter denen sich Deutsche neben Angehörigen fast aller Nationen Europas befanden, auf ihre merkwürdige Reise zu schicken, können wir nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht, daß er mit ihnen, so wie er es schon früher einmal mit den Juden hatte anstellen wollen, glaubte, ein letztes Tauschgeschäft machen zu können und wenigstens seine persönliche Sicherheit zu erkaufen. Wie das auch sein mag, eines scheint sicher: Canaris und seine vertrauten Mitarbeiter, die mit ihm am 9. April in Flossenbürg ihr Leben lassen mußten, als das Herannahen der amerikanischen Truppen bereits baldige Befreiung zu versprechen schien, wollten Himmler und Kaltenbrunner unter gar keinen Umständen in Alliierten-Hand fallen lassen, selbst nicht als Tauschobjekt. Canaris wußte zuviel, sein Wissen sollte nicht auf die Nachwelt kommen. Damit haben wir zugleich die Deutung für die Vernichtung der in Zossen gefundenen Oster-schen Akten, bei denen ja ein Teil des Canarig-tagebuches war, durch Huppenkothen auf Befehl Kaltenbrunners. Auch der Rechenschaftsbericht von Canaris sollte ausgelöscht werden. Wenn niemand sonst, dann wußten Himmler uni Kaltenbrunner, wo unter den nach dem Wüten des Volksgerichtshofes noch Ueberlebenden ihr entschlossenster Feind und der vielwissende und unbestechliche Zeuge war, der besser als irgendein anderer der Welt ein wahres Bild der Hitler-herrschaft und des Himmlerterrors würde geben können, Deshalb mußte Canaris sterben.

Aus „Canaris“, Union Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.

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